Migrationsexperte Knaus: „Wir brauchen Abkommen, um Gewalt zu verhindern“
In der Asylreform hat die EU nicht die richtigen Schlüsse gezogen, sagt Gerald Knaus. Um die Zahl der Schutzsuchenden an den Außengrenzen zu reduzieren, müssten möglichst viele Drittländer zu sicheren Häfen für Flüchtlinge werden.
Nach jahrelangem Ringen haben sich die EU-Innenminister auf eine Asylreform geeinigt. Vorgesehen sind etwa Asylverfahren an den Außengrenzen der EU sowie Rückführungen in Drittstaaten. Ist das ein Fortschritt?
Gerald Knaus
Schnelle Asylverfahren an Grenzen sind schon jetzt möglich. Der Grund, warum Italien und Spanien sie nicht haben, ist allerdings offensichtlich: Es gibt kaum Rückführungen nach Afrika oder Asien. 2022 kamen 55.000 Tunesier, Ägypter, Bangladeshi über das Meer nach Italien. Etwa die Hälfte stellte gar keinen Asylantrag, wäre also sofort ausreisepflichtig. Rückführungen in alle drei Länder gab es 2022 aber nur 2.600. Was bringen verpflichtende Grenzverfahren für die andere Hälfte ohne ein Migrationsabkommen? Die entscheidende Frage, wenn es darum geht, wie man ohne Gewalt, legal und human irreguläre Migration reduzieren kann, ist daher die Debatte über sichere Drittstaaten. Da hat die EU nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Auch andere nicht.
Wer muss welche Schlüsse ziehen?
Knaus
Betrachten wir das UNHCR, das Flüchtlingskommissariat der UN. Im April 2022 hat London ein Abkommen mit Ruanda vereinbart. Es sah vor, dass irregulär nach Großbritannien eingereiste Migranten nach Ruanda geflogen werden und dort Asyl beantragen sollen. Im Gegenzug bekommt Ruanda finanzielle Unterstützung. Vor Gericht in London hat das UNHCR zweimal argumentiert, dass dieses Abkommen gegen die Flüchtlingskonvention verstößt und damit illegal sei. Zwei Gerichte haben dies nun, zu Recht, als falsch zurückgewiesen. Die englischen Richter haben klar gemacht: Entscheidend ist allein, ob sichere Drittstaaten, im Sinne der Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention, tatsächlich sicher sind. Dieses wichtige Urteil stellte aber auch fest, dass Ruanda heute noch kein gutes nationales Asylsystem hat, das für einen sicheren Drittstaat notwendig ist. Das kann man aber ändern. Die wichtigste Mission des UNHCR sollte es sein, überall in der Welt Refoulement, das illegale Zurückweisen von Schutzsuchenden, zu stoppen, und möglichst viele Länder dazu zu bringen, dass sie sicher für Flüchtlinge werden. Wir brauchen mehr sichere Drittstaaten, damit der Flüchtlingsschutz eine Zukunft als globale Konvention im 21. Jahrhundert hat. Und nur so lässt sich irreguläre Migration human reduzieren.
Gerald Knaus
geboren 1970, ist Gründungsdirektor der Europäischen Stabilitätsinitiative und Autor von „Welche Grenzen brauchen wir?" (2020) und „Wir und die Flüchtlinge" (2022).
Tunesien, das jetzt Flüchtlinge von der Reise über das Mittelmeer abhalten soll, steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Kann das Land die Aufgabe, die die EU ihm abverlangt, überhaupt erfüllen?
Knaus
Es gibt in Tunesien wieder politische Gefangene. Menschen aus Subsahara-Afrika wurden dieses Jahr nach Reden von Präsident Kais Saied, der sie als Gefahr für die Sicherheit des Landes beschrieb, angegriffen. Und Tunesien hat zwar die Flüchtlingskonvention vor Jahrzehnten ratifiziert, aber immer noch kein nationales Asylsystem und ist daher im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention auch kein Sicherer Drittstaat. Trotzdem soll die EU mit Tunesien reden. Tunesier schnell zurückzubringen, die aus wirtschaftlichen Gründen mit Booten nach Europa kommen, ist legitim. Es ist sinnvoll, im Gegenzug Kontingente für Arbeitsmigration anzubieten, sowie Unterstützung beim Ausbau von erneuerbaren Energien, wie es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagen hat. Die Frage in der Migrationsdiplomatie ist immer: Was ist die EU bereit anzubieten? Was fordert sie dafür? Und natürlich: werden dadurch Menschenrechte geschützt oder verletzt? Es gibt moralische und unmoralische Migrationsabkommen. Aber es ist nicht moralisch, dabei zuzusehen, wie weitere Todesschiffe von Ost-Libyen aus in See stechen.
Legale Möglichkeiten der Einreise gibt es für Migranten aber immer noch nicht...
Knaus
Ein Vorbild für humane Politik ist Kanada. Dort gibt es jährliche Kontingente für Arbeitsmigration und jährlich Resettlement von 50.000 Schutzsuchenden. Das Ziel im deutschen Koalitionsvertrag ist weniger irreguläre Migration und mehr legale Migration. Das ist in der EU in den meisten Mitgliedstaaten mehrheitsfähig, aber keine Kompetenz der EU. EU-Länder könnten Tunesien legale Arbeitsmigration anbieten und die Visavergabe erleichtern, wenn Rückführungen von Ausreisepflichtigen funktionieren. Je mehr sie anbieten, desto mehr Einfluss haben sie. Wenn wir der Türkei 2023 noch einmal drei Milliarden Euro als Unterstützung für Gemeinden mit vielen Flüchtlingen anbieten, und erneut geordnet Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen, können wir mit Ankara auch darüber reden, wie es den Syrern in der Türkei geht. Brechen Staaten an der EU-Türkei Grenze internationales Recht, verliert die EU an Einfluss und Glaubwürdigkeit.
2022 hat Österreich mehr als 16.000 Mal internationalen Schutz vergeben, Ungarn 30 Mal.
Wie soll die Qualität der Asylverfahren in Drittländern, wo die Rechtsstaatlichkeit nicht garantiert ist, gesichert werden? Asylverfahren sollen rasch beendet werden und europäischen Standards entsprechen – geht das?
Knaus
Es gibt leider auch EU-Staaten, wo es keine qualitätsvollen Asylverfahren gibt. Es ist eine Frage der Ressourcen und des politischen Willens. 2022 hat Österreich mehr als 16.000 Mal internationalen Schutz vergeben, Ungarn 30 Mal. Ist Ungarn unfähig Asylverfahren durchzuführen? Natürlich nicht. Dort wurde das Asylsystem, im Widerspruch zum EU-Recht, bewusst abgeschafft. Das war der politische Wille. Ruanda, das heute helfen könnte, das Modell von Schleppern in Libyen zu brechen, ohne dass noch Tausende Menschen sterben oder nach Libyen zurückgeführt und dort misshandelt werden, erklärte, es sei bereit dazu ein Asylsystem aufzubauen und Schutz zu vergeben. Das sollte man aktiv unterstützen.
Offenbar wollte man nicht, um potenzielle Schutzsuchende nicht zu ermuntern. Mittlerweile ist die Gewalt an den Grenzen zum Alltag geworden. Menschen, die sich schon auf griechischem Boden befinden, werden entführt und auf dem Meer ausgesetzt.
Knaus
Es ist eine untragbare Situation. Systematische Pushbacks in der Ägäis gibt es seit dem Zusammenbruch der EU-Türkei-Kooperation Ende Februar 2020. Was wir jetzt dringend brauchen, sind neue Verhandlungen mit Ankara. Die EU unterstützt weiter syrische Flüchtlinge in der Türkei und greift den Visa-Liberalisierungsprozess mit der Türkei wieder auf. Staaten bieten legale Migration und Aufnahme an. Und die Türkei nimmt erneut jene, die in der Türkei sicher sind, schnell aus Griechenland zurück. Um die Dimension der Herausforderung zu verstehen. 2022 sind nur 13.000 Menschen über das Meer in Griechenland angekommen, dazu gab es wohl etwa 28.000 Push-backs in der Ägäis. Das sind insgesamt 41.000 Menschen. Wenn eine Gruppe von EU-Staaten 40.000 Schutzsuchende im Jahr aus der Türkei regulär aufnehmen würde, und diese dafür hilft, irreguläre Migration durch Rücknahmen weiter zu reduzieren, und wenn gleichzeitig Griechenland alle Pushbacks einstellen würde und es mehr Geld für Syrer in der Türkei gäbe, würden alle gewinnen. Und es würden viel weniger sterben. In den ersten zwölf Monaten nach der EU-Türkei-Erklärung im März 2016 sind im östlichen Mittelmeer 81 Migranten ums Leben gekommen. 2022 waren es über 370. Das ist dramatisch.
Der EU-Türkei-Deal war Ihre Idee. Waren Sie auch jetzt involviert im Vorfeld des Gipfels?
Knaus
Nicht direkt. Dafür hat der deutsche Koalitionsvertrag von 2021 viele Ideen, die ich 2020 in meinem Buch „Welche Grenzen brauchen wir?“ beschrieben und in Berlin diskutiert habe, aufgegriffen. In den vergangenen Monaten war ich mehrmals in den Niederlanden, in Dänemark, in der Schweiz, in Italien, gerade erst wieder in der Türkei, um für Migrationsabkommen zu werben. Die entscheidende Frage dabei ist immer: wie sehen Abkommen genau aus? Nehmen sie die Menschenrechtskonvention ernst?
Setzen wir uns in der Kooperation mit Drittstaaten dem Risiko der Erpressbarkeit aus? Präsident Erdogan hat die Flüchtlinge in der Türkei stets für sich zu nutzen gewusst.
Knaus
Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir keine Abkommen haben, haben EU-Staaten zwei Möglichkeiten. Entweder keine Kontrolle darüber, wie viele Menschen irregulär kommen, wie in der Ägäis im Herbst 2015 oder vor Ost-Libyen heute. Das geht nie lange gut. Oder Staaten brechen Gesetze und Werte und setzen auf Gewalt. Um letztere zu verhindern, brauchen wir Abkommen. Das gilt nicht nur für Griechenland und die Türkei in der Ägäis, sondern auch für das Vereinigte Königreich und die EU am Ärmelkanal. Auch dort erfordert humane Kontrolle von lebensgefährlicher Migration Kooperation, wobei Schmuggler 2022 am Ärmelkanal mehr Geschäfte machten als in der Ägäis. Dort ist das Vereinigte Königreich in der Lage Griechenlands und die EU in der Position der Türkei. Die EU nimmt seit drei Jahren niemanden, der es irregulär nach England schafft, zurück. Das ist absurd. Sie sollte das anbieten, und im Gegenzug sollte London legale Wege aus der EU öffnen. Das ginge sehr schnell.
Die Pushbacks an den Außengrenzen der EU treffen in Europa auf Gleichgültigkeit oder auf Zynismus. Was bedeutet das für uns?
Knaus
Es ist eine Warnung für alle, die für Menschen- und Flüchtlingsrechte kämpfen. Wenn Mehrheiten in einer Gesellschaft Angst vor einem Kontrollverlust haben oder Gewalt als alternativlos sehen, dann sind Regierungen irgendwann dazu bereit, auch Grundrechte Schritt für Schritt auszusetzen. Populisten fördern dies, verstärken Ängste, aber es passiert auch in Gesellschaften, die nicht von Populisten regiert werden. Es braucht Vorschläge, wie es gelingen kann, ein Gefühl von Kontrolle wiederherzustellen. Gelingt das nicht, werden am Ende sogar Gerichtsurteile ignoriert oder Gerichte sehen weg. Wir erlebten das weltweit, von Australien und Israel bis Polen und Ungarn. In einer Rechtsgemeinschaft wie der EU, die sich dazu verpflichtet, die Menschenwürde aller zu respektieren, ist es brandgefährlich. Ungarns Premier Viktor Orbán setzt seit 2015 auf Gewalt, doch heute ist er nicht mehr allein. Als die 27 EU-Regierungen nach der Legalisierung der Pushbacks in Polen an der Grenze zu Belarus im Herbst 2021 einfach schwiegen, war das ein Tabubruch. Und wer heute Flüchtlings- und Menschenrechte schützen will, der muss Regierungen, Parlamente und Bevölkerungen überzeugen, dass es trotz allem humane Formen der Kontrolle geben kann. Das erfordert Mühe und Anstrengungen. Die sind es wert, denn an den Außengrenzen der EU steht für unsere Demokratie heute sehr viel auf dem Spiel.