Militär-Experte: „Am Drücker ist weiterhin die Ukraine“
Militär-Experte Berthold Sandtner wertet den russischen Bombenhagel auf ukrainische Städte als Verzweiflungstat. Die jüngsten Gebietsgewinne der Ukraine seien „manifest“.
Werten Sie den russischen Bombenhagel auf ukrainische Städte als Rache für den Angriff auf die Krim-Brücke oder als nachhaltigen Strategiewechsel?
Sandtner
Beides. Die Angriffe waren eine unmittelbare Reaktion auf das Geburtstagsgeschenk, das die Ukraine Wladimir Putin vermutlich bewusst zum 70. Geburtstag gemacht hat. Die Luftschläge mit vielen zivilen Opfern sind aber auch der Tatsache geschuldet, dass nach den spektakulären Rückeroberungen im Osten und Süden des Landes das Momentum am Boden weiterhin auf ukrainischer Seite liegt.
Durch den Bombenhagel sterben viele Zivilisten, gleichzeitig zerstört Russland gezielt die Infrastruktur. Kann Russland der Ukraine von oben Licht und Heizung abdrehen?
Sandtner
Bei absoluter Lufthoheit kann ein Land ein anderes komplett ausschalten, wie es die USA im Krieg gegen den Irak gezeigt haben. Nur: Die Russen beherrschen den ukrainischen Luftraum gar nicht.
Eine überraschende Feststellung.
Sandtner
Erstens haben wir auch die russische Luftwaffe überschätzt. Von über 1000 russischen Kampfjets wurden bereits 60 bis 70 abgeschossen. Zweitens wird der Luftabwehrschirm der Ukraine immer besser. Von den Raketen, die aus Russland oder Weißrussland oder dem Schwarzen Meer abgefeuert werden, fängt die Ukraine fast die Hälfte ab, schätzen wir. Und nun kommt brandneues Hightech-Gerät aus dem Westen nach.
Wie lange kann Russland seine Zermürbungstaktik von oben fortsetzen?
Sandtner
Schwer zu sagen. Russland hat bereits rund 4000 Marschflugkörper verschossen und kann nur 200 pro Jahr neu produzieren. Die Tatsache, dass bereits Flugabwehrraketen für Angriffe auf Städte zweckentfremdet werden, zeigt eine gewisse Endlichkeit der Vorräte an Marschflugkörpern und ballistischen Raketen. Allerdings kommen Tausende neue Luftkampfdrohnen zum Einsatz – mutmaßlich aus dem Iran.
Ein Schlüssel zum Überleben im Winter ist die rasche Reparatur zerstörter Infrastruktur. Kann Österreich hier aktiv helfen? Ist das mit der Neutralität vereinbar?
Sandtner
Solange es sich nicht um militärische Anlagen handelt, spricht nichts dagegen. Bestimmend hierfür ist aber natürlich die Bedrohungslage.
Rechnen Sie im Winter mit verstärkten Fluchtbewegungen aus zerstörten Städten?
Sandtner
Nein, eher im Gegenteil. Sobald die ukrainische Armee nur einen Quadratzentimeter zurückerobert, kehrt die Bevölkerung dorthin zurück. Selbst wenn dort Minen liegen. Dieser Wehrwille ist weiterhin beachtlich. Gelingt den Russen allerdings eine weitreichende Zerstörung vitaler Infrastruktur, wird es ein sehr harter Winter für die ukrainische Bevölkerung.
Wer ist aktuell im Vorteil?
Sandtner
Am Drücker ist weiterhin die Ukraine. Die Russen sind mit kleineren Gegenangriffen im Osten gescheitert. Die ukrainische Armee rückt weiter vor, obwohl sich der Vormarsch verlangsamt hat. Auch im Süden ist es wieder etwas ruhiger geworden. Man kann nicht permanent angreifen.
Putin hat 300.000 Männer in die Armee eingezogen. Könnte sich das Blatt dadurch wenden?
Sandtner
Nein, zurzeit nicht. Die Gebietsgewinne der Ukrainer sind manifest. Die Russen können derzeit nicht klotzen, sondern nur kleckern. Die neuen Soldaten füllen an der Front Lücken als Fahrer, Funker, Panzerfahrer. Und sie sterben bereits. Bis sie jedoch in neuen Kampfverbänden aufmarschieren, dauert es Monate – selbst unter den Maßstäben russischer Menschenverachtung, was die Ausbildung betrifft. Außerdem gibt es die nötigen Ausbildner daheim oft gar nicht. Die meisten kämpfen seit sieben Monaten selbst in der Ukraine.
Historisch hat Russland Kriege durch schiere Menschenmassen gewonnen. Warum sollte das in der Ukraine anders sein?
Sandtner
Die theoretische Mobilmachungsstärke der russischen Armee liegt bei über zwei Millionen – mit Betonung auf theoretisch. In der Ukraine selbst kämpfen 120.000 der etwa 180.000 Berufssoldaten, mindestens 30.000 sind nach unseren Schätzungen bereits gefallen, von Verwundeten und Versehrten gar nicht zu reden. Auf der anderen Seite stehen etwa 500.000 Ukrainer unter Waffen.
Das heißt, aktuell ist die ukrainische Armee deutlich größer als die russische.
Sandtner
Richtig. Selbst wenn die 80.000 Grundwehrdiener, die im November abrüsten, im Dienst behalten werden. Russland ist zwar gerade dabei, 300.000 Männer neu einzuziehen. Und dabei wird es wohl nicht bleiben. Aber die Mobilisierung stockt schon jetzt. Genauso viele Russen, wie eingezogen wurden, haben das Land verlassen, weil sie nicht kämpfen wollen.
Im Zweiten Weltkrieg kämpften Millionen russischer Soldaten.
Sandtner
Das wäre das Modell Kanonenfutter. Alle Männer im wehrfähigen Alter rücken ein. Wenn einer vorn erschossen wird, nimmt der nachrückende Soldat sein Gewehr. Das ist auszuschließen. Millionen Menschen zu Soldaten zu machen, das schafft die russische Wehrwirtschaft nicht. Sie würden in ihrer Wanderausrüstung an der Front stehen – ohne taugliche Waffen, Munition und Panzer an den Flanken. Russland kann pro Jahr vermutlich nur noch 70 bis 80 Panzer herstellen. Die Sanktionen des Westens schwächen auch die russische wehrtechnische Industrie.
Was verändert der mögliche Eintritt der belarussischen Armee in den Krieg?
Sandtner
Die Stimmung in der Bevölkerung ist sehr gegen eine Mobilmachung gepolt. Deswegen schließen wir einen Kriegseintritt von Belarus eher aus. Das würde die innere Sicherheit des Landes gefährden. Erst vor zwei Jahren wäre Präsident Alexander Lukaschenko fast einer Revolution zum Opfer gefallen. Was vorstellbar ist: eine Art Ausbildungs-Joint-Venture für 20.000 russische Soldaten, damit sie rascher an die Front können. Solche Trainings gibt es aber auch auf der anderen Seite. Rund 20.000 ukrainische Soldaten werden in Großbritannien ausgebildet.
Die Russland-Sanktionen waren die erste Antwort des Westens auf den russischen Angriffskrieg. Mittlerweile sind wir bei der Lieferung von Luftabwehrsystemen angelangt. Wo verlaufen eigentlich noch die roten Linien, ab denen man von einer aktiven Beteiligung der NATO sprechen kann?
Sandtner: Die roten Linien haben sich seit Kriegsbeginn massiv verschoben, ohne dass Putin den Dritten Weltkrieg ausgerufen hat. Am Anfang war noch einfache Munition die rote Linie, schweres Gerät tabu. Mittlerweile hat der Westen der Ukraine praktisch sämtliches Großgerät geliefert, das es für einen modernen Krieg braucht, von Hubschraubern bis zu modernsten Luftabwehrsystemen. Eine klare rote Linie verläuft eigentlich nur noch beim Einsatz von NATO-Soldaten.
Und Panzern?
Sandtner
Aus den alten Sowjetbeständen der osteuropäischen EU-Länder gingen bereits Hunderte Panzer an die Ukraine. Und ich kann mir vorstellen, dass auch bald moderne Panzer aus dem Westen über die ukrainische Grenze rollen. Es geht nicht nur um den deutschen „Leopard“. Wenn ein Land das Eis durchbricht, werden andere Länder folgen.
Wie viele Panzer bräuchte die Ukraine?
Sandtner
Aus ukrainischer Sicht: Je mehr, desto besser. Möchte man beispielsweise eine ukrainische Division auf westliches Gerät umstellen, so wären das um die 1000 Kampf- und Schützenpanzer.
Putin droht indirekt mit taktischen Nuklearwaffen. In diesem Nervenkrieg agiert der Westen eigentlich ziemlich mutig.
Sandtner
Das muss man so sagen. Am Anfang war man noch zögerlich. Aber als trotz der rauen russischen Rhetorik nichts passierte, haben die Waffenlieferungen Dimensionen angenommen, die niemand für möglich hielt. Allerdings haben auch Indien und China Russland sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie allein schon die Androhung einer nuklearen Eskalation vollkommen ablehnen.
Dennoch: Wird Ihnen nicht mulmig dabei, wie sehr wir mittlerweile auf einen Sieg der Ukraine setzen, der angesichts der Größe der russischen Atommacht doch illusorisch ist?
Sandtner
Natürlich läuft man Gefahr, Wunschvorstellungen in die kaum für möglich gehaltenen Erfolge der Ukraine hineinzuprojizieren. Russland hat vier Bezirke im Süden und Osten an sein Staatsgebiet angeschlossen. Es wird im Winter nicht gelingen, die Russen von dort zu vertreiben.
Dann dauert der Krieg noch Jahre?
Sandtner
Wenn die Ukraine weiterhin alle Gebiete zurückfordert, inklusive der Krim, und auch Russland hart bleibt, wird der Krieg noch lange dauern, bis er irgendwann einfriert. So wie nach der Eroberung der Krim 2014. Genaugenommen hat der Krieg damals begonnen und seither nicht mehr geendet.