Militärexperte zu Dammbruch: Was für eine Sprengung durch Russen spricht
Russland hat den Kachowka-Damm gezielt gesprengt, glaubt der Militärexperte Markus Reisner. Für eine Verantwortung der Ukraine gebe es keinerlei Indizien.
Kiew und Moskau geben einander die Schuld am Kachowka-Dammbruch. Unabhängig davon wer für die Sprengung verantwortlich ist: Was sind die militärischen Konsequenzen für Russland und für die Ukraine?
Reisner
Der Kachowka-Dammbruch hat zur Folge, dass im Süden große Abschnitte der 1200 Kilometer langen Front für beide Seiten temporär nicht nutzbar sind. Die ukrainischen Soldaten können somit etwa amphibisch nicht anlanden, um Richtung Krim vorzustoßen. Weil das russisch kontrollierte Ostufer niedriger ist als das Westufer, stehen etliche russische Verteidigungsstellungen unter Wasser – der Raum ist vorerst militärisch nicht nutzbar. Diese Art und Weise der Einsatzführung sehen wir immer wieder. Nordwestlich von Kiew haben die Ukrainer am Anfang des Krieges den Zugang zum Fluss Irpin gesprengt. Durch die Flutung des Flussbetts und die Sprengung wichtige Brückenübergänge war es möglich, die Russen aufzuhalten. Ihnen war der Zugang nach Kiew von Westen gesperrt.
Was denken Sie, wer für die Zerstörung des Damms verantwortlich ist?
Reisner
Es gibt drei mögliche Ursachen: Eine Sprengung durch die Russen, Beschuss durch die Ukraine oder ein Zusammenbruch des Bauwerks. Letzteres, also ein Unfall, ist so gut wie ausgeschlossen. Das hätte anders ausgesehen – und es wäre ein großer Zufall, wenn das ausgerechnet jetzt geschehen würde, zu Beginn der ukrainischen Gegenoffensive. Aufgefallen wäre allerdings auch Artillerie-Beschuss, denn um den Damm zu zerstören hätte wiederholt Granaten oder Raketen einschlagen müssen, das hätte man beobachten können. Es gibt ein Video mit einem Einschlag am Ufer. Ich denke, da haben die Russen gezielt geschossen, um die Sprengung zu verschleiern. Für eine gezielte Sprengung durch Russland spricht, dass die Russen den Damm vermint haben und immer wieder mit einer Sprengung und einem Dammbruch gedroht haben. Für eine Verantwortung der Russen spricht auch, dass der Staudamm unter ihrer Kontrolle war. Sie wollten wohl den Vormarsch der Ukraine, konkret eine amphibische Anlandung im Süden, verhindern.
Wie schwer wäre es für ein ukrainisches Spezialkommando gewesen, an den Damm zu gelangen?
Reisner
Eine geheime Mission wäre sehr schwer gewesen. Das ist zwar nicht auszuschließen, es gibt bestimmt Stellen, an denen man Sprengstoff platzieren könnte. Doch es gibt keine Indizien dafür, dass ukrainische Spezialkräfte Sprengstoff an kritischer Stelle gezündet haben. Aus jetziger Sicht ist das ausgeschlossen: Ein ukrainisches Spezialkommando müsste die Sprengstoffpakete – ein paar Rucksäcke hätte da bestimmt nicht gereicht, es ist eher, je nach Sprengstofftyp, von einigen hundert Kilogramm auszugehen – exakt platzieren, um eine ausreichende Wirkung zu erzielen. Und die Russen beobachten den Raum sehr genau, das ist also äußerst unwahrscheinlich. Außerdem hätte uns die russische Seite im Kampf um das Narrativ sicher Beweise einer ukrainischen Spezialmission gezeigt.
Welchen Vorteil hat Russland von der Sprengung des Damms?
Reisner
Die Ukrainer haben wiederholt versucht, auf Inseln anzulanden und Brückenköpfe zu bilden. Durch die Fluten ist das Südufer für die Ukraine nicht mehr nutzbar. Die Gebiete sind amphibisch nicht mehr für eine Landung geeignet. Mehrere hundert Kilometer sind für jede Bewegung gesperrt. Das ist ein klarer Vorteil für die Russen. Sie haben versucht jetzt, wo die Offensive gestartet ist, für sich einen Vorteil zu schaffen. Das Unmittelbare war wichtiger als die langfristige Planung oder eine Gefahrenabschätzung.
Markus Reisner,
Jahrgang 1978, ist Leiter der Forschungs-und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und derzeit Kommandant der Garde des Österreichischen Bundesheeres. Reisner studierte Rechtswissenschaften und Geschichte in Wien. Zuletzt erschien im Kral Verlag mit "Die Schlacht um Wien 1945" sein Buch über die "Wiener Operation" der sowjetischen Streitkräfte im März und April 1945.
Wie lange ist das Gebiet gesperrt?
Reisner
In einigen Städten fließt das Wasser bereits wieder ab. Doch die Wirkung in den überschwemmten Gebieten ist nun die wie bei einer weitere Schlammperiode, je nach Witterung kann es dauern, bis das Wasser versickert.
Es gibt einen Damm nördlich von Kiew. Laut russischen Quellen ist er auch in Gefahr. Ist da was dran?
Reisner
Mit russischer Artillerie ist dieser Damm nicht zu sprengen, da fehlt die Reichweite, dafür bräuchte es Marschflugköper oder ballistische Raketen. Bei Cherson hat die Ukraine zwei Brücken und auch den nun zerstörten Staudamm mit ihren Mehrfachraketenwerfer-Systemen HIMARS beschossen. Das Ziel war, diese Nadelöhre für die Versorgung der Russen zu sperren. Es ist nur zum Teil gelungen. Massive Brücken sind nicht so leicht zerstörbar. Es mag gelingen, Löcher hineinzusprengen, aber für einen Kollaps bräuchte es eine massive Welle von Marschflugkörpern – und die Ukraine schützt den Staudamm ja auch.