Minenräumer der ukrainischen Armee: „Ich weiß nicht, was mich erwartet“
Aleksander (*Name von der Redaktion geändert) schaut in die Grube hinunter. Sie ist einen halben Meter tief und mit Sandsäcken ausgelegt. Sein Zimmerkollege, ein Muskelprotz mit Glatze, kniet am Boden und dichtet Drähte mit Knetmasse ab. An seiner Uniform prangt die Flagge der Ukraine. Er trägt sie, auch wenn er weit weg von der Heimat und damit nicht im Dienst ist. Er schaut auf: Alles bereit für die Sprengung.
Es ist Ende Jänner, in den Bergen des Kosovo liegt Schnee. Aleksander ist Soldat, die ukrainische Armee hat ihn auf den Balkan geschickt, um zu lernen, wie man Minen und Sprengkörper entschärft. Die Antwort liegt in der Grube vor ihm: Dort unten kann das Kriegsgerät kontrolliert in die Luft gejagt werden, ohne Menschen zu verletzen.
Derartiges Wissen wird in der Ukraine dringend benötigt. Die Regierung in Kyiv schätzt, dass etwa 40 Prozent des Landes mit Minen, Blindgängern und anderen Kampfmittelrückständen verseucht sind – eine Fläche, so groß wie Großbritannien. Der „Halo Trust“, die weltweit größte Organisation für Minenräumung, sprach vergangene Woche vom „größten Sprengstoffproblem des 21. Jahrhunderts“.
Warum vermint Russland ein Land, das es erobern möchte?
Minen haben einen militärischen Zweck. Sie werden defensiv als Sperrmittel eingesetzt, um den Feind davon abzuhalten, ein Gebiet zu betreten oder um die Bewegungsfreiheit von Truppen an der Frontlinie einzuschränken. Solange ein Krieg tobt, beseitigen Armeen diese Minen nur teilweise, um sich zum Beispiel einen Korridor durch ein verseuchtes Gebiet zu bahnen.
Abseits dieses militärischen Zwecks gibt es auch die international geächteten Antipersonenminen, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Sie werden von Hand verlegt und haben zum Ziel, Zivilisten zu töten oder zu verletzen. Ihr Ziel ist die Demoralisierung des Feindes. Die Organisation „Human Rights Watch“ hat im Jahr 2022 mehrmals darauf hingewiesen, dass derartige Minen in der Ukraine (von beiden Seiten) zum Einsatz kommen. Die Ukraine ist Vertragsstaat des Übereinkommens zu Antipersonenminen von 1997, Russland nicht.
Aleksander ist Soldat, die ukrainische Armee hat ihn auf den Balkan geschickt, um zu lernen, wie man Minen und Sprengkörper entschärft.
Besonders gefährlich ist die Lage im Süden und Osten der Ukraine, wo sich Minengürtel über Hunderte Kilometer weit erstrecken, zickzackartig angelegt. In den rückeroberten Gebieten gehen ukrainische Soldaten von Haus zu Haus und stellen Warnschilder auf, um die Bewohner davon abzuhalten, in den Wäldern Feuerholz oder Pilze zu sammeln.
Unweit von der russischen Grenze, im Oblast Charkiw, wurde auch Aleksander geboren. Im wahren Leben heißt der 26-Jährige anders. Als aktiver Soldat darf er weder sein Gesicht zeigen noch seinen vollen Namen nennen. In wenigen Wochen muss er zurück in den Krieg. „Ich weiß nicht, was mich erwartet“, sagt er.
Bei einem ist er sich sicher: Der 24. Februar hat sein Leben schlagartig verändert. Vor der Invasion hat Aleksander in der IT-Branche als Programmierer gearbeitet und gut verdient. Sein letztes Projekt war eine Website für Hotelbuchungen, ähnlich wie Airbnb oder Booking.com.
„Am 24. Februar bin ich um vier Uhr morgens aufgewacht. Ich habe Lärm draußen gehört, und ich wusste sofort, was passiert ist: Der Krieg hatte begonnen. Obwohl ich mich vorbereitet hatte, war da diese unglaubliche Angst, meine Familie zu verlieren. Ich habe meine Frau aufgeweckt. Unsere Stadt liegt nahe an der russischen Grenze.“
Am nächsten Morgen gegen 8.30 Uhr trat Aleksander der Armee bei.
Ein Jahr später lebt er in einem dreistöckigen Haus, das aus roten Ziegelsteinen gebaut ist. Es liegt am Rand von Peja, einer Stadt im Westen des Kosovo, umgeben von verschneiten Bergen. Die Idylle trügt. Die jugoslawische Armee ließ hier einst Minengürtel anlegen, um die albanische Guerilla-Armee aufzuhalten. Nach dem Krieg töteten diese Relikte unschuldige Zivilisten.
Davon erzählt Aleksanders Trainer, ein Kosovo-Albaner namens Hekuran, der seit über 20 Jahren in der Minenräumung tätig ist und unter anderem in Kambodscha, Libyen und im Irak im Einsatz war. Das Trainingszentrum, in dem er arbeitet, trägt den Namen „MAT Kosovo“ und genießt in der „EOD“-Szene großes Ansehen, weil realistische Szenarien an funktionstüchtiger Munition durchgespielt werden. EOD steht für: Explosive Ordnance Disposal. Auf Deutsch: Beseitigung von Explosivstoffen. Rund 100 Menschen aus der Ukraine, darunter 38 Frauen, haben das Training seit Beginn des Krieges durchlaufen. Im Monatstakt kommen neue Gruppen an.
Das ist mein Land, und wenn wir verlieren, dann bekomme ich mein altes Leben niemals zurück.
Aleksander hat ein schmuckloses Zimmer im dritten Stock, in dem zwei schmale Holzbetten stehen, eines für ihn und eines für den Soldaten mit der Glatze, seinen Kameraden, der vor dem Krieg Fitnesstrainer war. Wenn Aleksander von früher erzählt, klingt das sorgenfrei. Als Kind habe er St. Petersburg besucht, ohne zu ahnen, dass ihm der Mann, der dort als Wladimir Putin geboren wurde, seine Jugend nehmen würde. Einmal im Jahr machte er Urlaub mit den Eltern auf der Krim. Nach der Invasion außer Landes zu fliehen, war für ihn dennoch nie eine Option. „Das ist mein Land“, sagt er, „und wenn wir verlieren, dann bekomme ich mein altes Leben niemals zurück.“
Seine Frau lebt heute im Westen der Ukraine. Er hat sie ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn geheiratet und seit der Invasion nur drei Mal kurz gesehen, zuletzt für ein paar Stunden auf einem Busbahnhof, als er auf der Durchreise war. Wann sie wieder vereint sein werden, weiß Aleksander noch nicht. Dann, kurz vor Redaktionsschluss, schreibt er auf WhatsApp: „Nächsten Freitag gehe ich zurück. “