Mit Tränengas aufwachsen
Wer in der venezulanischen Hauptstadt Caracas ein Baby großzieht, muss sich in diesen Tagen mit einem ungewöhnlichen Problem beschäftigen: Tränengas. Damit schießt die nationale Polizei seit Tagen mehr oder weniger willkürlich um sich. Es dringt von der Straße durch Ritzen in die Gebäude, auch in unsere Wohnung im sechsten Stock. Auf der Suche nach besserer Luft gehen wir auf das Dach. Doch im siebten Stock stehen dem Baby die Tränen in den Augen, im achten Stock läuft es rot an. Also laufen wir zurück, spritzen ihm Wasser ins Gesicht und verkriechen uns in der Ecke des Zimmers mit den besten Dichtungen am Fenster. In Venezuela sind in den vergangenen Wochen wieder einmal Proteste ausgebrochen, die heftigsten seit dem Jahr 2014. Die Gründe sind damals wie heute ähnlich: Das Land steckt wegen des gesunkenen Ölpreises in einer schweren Wirtschaftskrise und kann seine Schulden kaum noch bezahlen, die Inflation galoppiert davon. Dazu kommen hohe Kriminalität, allgegenwärtige Korruption und ein überfordert wirkender Präsident. Der Sozialist Nicolás Maduro liefert sich nun seit Wochen einen beinharten Machtkampf mit dem von der Opposition dominierten Parlament. Die Abgeordneten fordern eine Volksabstimmung, um ihn des Amtes zu entheben. Maduro wiederum schlug über den Obersten Gerichtshof zurück: Die Richter nahmen den aufmüpfigen Parlamentariern einfach ihre Kompetenzen weg.
Kundgebungen und Märsche
Ein Schritt nahe dem Staatsstreich, den Maduro kurz darauf und nach internationalem Druck zurücknahm. Doch der Zorn der Demonstranten schwelte bereits. Am 7. April entzogen die Richter dem Oppositionsführer Henrique Capriles für die kommenden 15 Jahre das passive Wahlrecht - angeblich wegen "administrativer Unregelmäßigkeiten". Damit dürfte einer der aussichtsreichsten Gegner Maduros bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr nicht antreten. Der christlich-konservative Unternehmersohn hatte bei den Wahlen im Jahr 2013 nur 1,6 Prozentpunkte weniger bekommen. Maduros zunehmend diktatorisches Gehabe treibt Tausende Venezulaner zu Kundgebungen und Märschen auf die Straße. Die Polizei geht ungewöhnlich aggressiv gegen die Demonstrationen vor: Auf Motorrädern patrouillieren sie durch die Straßen. Am Montag kreisen Polizei-Helikopter über den Dächern, die Händler lassen die Rollläden herunter, das sonst belebte Viertel leert sich. Unten auf der Straße halten sich die Menschen Tücher vor das Gesicht. Ich nehme das Baby und gehe ins Zimmer mit den dichten Fenstern. Später sehe ich ein Video, das zeigt, wie die Polizei Tränengas aus Hubschraubern auf die Stadt abwirft.