Sind Sie dafür, dass die Mittelmeerroute geschlossen wird?
Derzeit ist die Überfahrt von der nordafrikanischen Küste der meistfrequentierte Weg, um illegal nach Europa zu gelangen, und gleichzeitig der gefährlichste: 2011 Menschen starben hier laut neuesten Daten des Missing Migrant Projects seit Anfang des Jahres, 71.978 wurden gerettet.
Diese Situation ist – so weit herrscht Konsens – inakzeptabel. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz wirbt deshalb in der EU für seinen Plan einer Schließung der Mittelmeerroute. Flüchtlingen und Migranten soll klargemacht werden, dass die Rettung auf hoher See nicht gleichbedeutend mit der Aufnahme in Europa ist. Sie sollen wissen, dass sie vielmehr zunächst in ein Aufnahmelager außerhalb der EU gebracht werden, wo eine Entscheidung über ihren Asylanspruch fällt. Damit gäbe es für die meisten keinen Anreiz mehr, die lebensgefährliche Überfahrt zu riskieren, die Zahl der Bootsflüchtlinge – und damit der Toten – würde entsprechend zurückgehen.
Die Idee einer erzwungenen Stilllegung dieser Migrationsroute ist ideologisch stark belastet. Wer dafür ist, macht sich verdächtig, Migranten und auch Asylwerber komplett aus der Festung Europa aussperren zu wollen. Wer dagegen ist, gilt der anderen Seite wiederum als naiver Leugner des realen Problems, dass die Migranten massenhaft sterben, und diejenigen, die es nach Europa schaffen, oft nicht diejenigen sind, die tatsächlich ein Anrecht auf Asyl haben.
profil versucht, die Fragestellung "Ja oder Nein zur Schließung der Mittelmeerroute?" in einzelne Prämissen zu zerlegen, von denen manche (fast) unstrittig sind, manche jedoch höchst kontrovers beurteilt werden. So kann sich jeder ein Urteil machen, ob am Ende ein Ja oder ein Nein auf die große Frage vernünftiger ist. Wer der Meinung ist, die Schließung sei falsch oder unmöglich, wird möglicherweise zum Schluss kommen, dass die Realisierung an wenigen Punkten hakt. Wer die sofortige Schließung befürwortet, wird sehen, dass gerade die Lösung dieser Punkte alles andere als einfach ist.
Kann man alle Flüchtlingsboote abfangen? JA - NEIN
Im Moment kommen keine Boote aus Libyen in Europa an. Diejenigen, die ablegen, werden in der Regel von der italienischen Küstenwache, Schiffen der EU-Marinemission Sophia oder NGOs aufgebracht. Letztere führen aktuell an die 40 Prozent der Seenotrettungen durch und operieren sehr nahe an der Küste.
Das hat dazu beigetragen, dass die Qualität der Boote immer schlechter wurde: Schlepper passen das Risiko für ihre Passagiere sehr genau den aktuellen Gegebenheiten an. Ist damit zu rechnen, dass sie schon nach wenigen Seemeilen von Rettern gefunden werden, sind auch die Transportmittel entsprechend klapprig. Man muss also davon ausgehen, dass jene Boote, die nicht entdeckt werden, untergehen. Für den weiten Weg an die italienische Küste sind sie nämlich nicht ausgelegt. Ausnahme: Schnellboote, die von Tunesien und Marokko aus operieren, entsprechend teuer sind und daher die Ausnahme bilden.
Sprich: Die EU, Italien und eine Handvoll NGOs schaffen es, den Großteil der Bootsflüchtlinge an Bord von Schiffen zu nehmen und weiterzutransportieren - nach Italien. Laut Zahlen der IOM (International Organization for Migration) sind auf diese Art und Weise heuer bereits 65.450 Personen in Europa angekommen (Stand 14. Juni). Das bedeutet aber auch: Es wäre möglich, sie anderswo hinzubringen, also etwa in Auffanglager.
Das sieht auch Othmar Commenda, Generalstabschef des österreichischen Bundesheeres so. "Innerhalb der EU verfügen bereits jetzt die meisten Mitglieder über die nötigen strategischen Mittel, um die Flüchtlingsrouten über den Seeweg zu kontrollieren - und die illegale Migration einzuschränken", so Commenda gegenüber der "Krone". Wobei nicht abzusehen ist, wie die Schlepperorganisationen darauf reagieren und ob das die Situation wieder ändern würde.
Darf Europa gerettete Bootsflüchtlinge in ein Auffanglager auf afrikanischem Boden bringen? JA - NEIN
Wenn gewisse Vorbedingungen erfüllt sind, geht das. Die Rettung von Flüchtlingen zieht jedoch eine ganze Reihe von rechtlichen Folgen nach sich - angefangen damit, dass ihnen gemäß Völkerrecht die Möglichkeit gegeben werden muss, um Asyl anzusuchen: Das und eine Reihe anderer menschenrechtlicher Minimalstandards müssen gewährleistet sein.
Will man solche Lager errichten? JA - NEIN
Wenn diese Camps von einer EU-Mission geleitet oder etwa vom UN-Flüchtlingshochkommissariat Unhcr betrieben werden, spreche nichts gegen eine Unterbringung der Migranten in einem afrikanischen Land – so sieht man es im Kabinett von Außenminister Sebastian Kurz.
Die Schließung der Mittelmeerroute sei theoretisch aber auch ohne Auffanglager in Afrika denkbar. Wenn zum Beispiel die italienische Insel Lampedusa Endstation der Migranten sei, würde ihre Zahl bereits stark sinken, so die Hoffnung. Noch besser würde dies in Verbindung mit Auffanglagern in Afrika funktionieren: Flüchtlinge, die auf See aufgegriffen werden, wüssten dann mit Sicherheit, dass sie europäisches Festland nicht erreichen können. Das würde die Motivation senken, die gefährliche Überfahrt anzutreten.
Im Kabinett von Bundeskanzler Kern ist man zumindest nicht prinzipiell gegen Auffanglager, spricht aber lieber von den im Regierungsübereinkommen genannten "Verfahrenszentren" und würde diese, wenn überhaupt, sinnvollerweise südlich der Sahara einrichten. Hintergedanke: Wer den Wunsch hat, nach Europa zu gelangen, soll sich nicht bis Libyen durchschlagen müssen, um von dort wieder zurückgeschickt zu werden, sondern in oder nahe seinem Herkunftsland Klarheit bekommen, ob Aussicht auf Asyl oder Zuwanderung besteht. Allerdings sei die Debatte über die Auffanglager eine sehr theoretische: Alleingänge könne Österreich ohnehin nicht unternehmen, es komme also auf die Gesamtstrategie an, für die sich die EU entscheide.
Ist es möglich, solche Lager zu errichten? JA - NEIN
Wenn schlussendlich ein oder mehrere Länder mitspielen, geht das. Davon kann vorerst allerdings keine Rede sein. Libyen fällt als failed state, in dem für Flüchtlinge unsäglich schlechte Bedingungen herrschen, aus. Ägypten und Tunesien, die selbst bereits Millionen von Flüchtlingen beherbergen, haben laut Bundeskanzleramt auf diesbezügliche Nachfragen dezidiert abgewinkt – sie erteilen nicht einmal Landegenehmigungen für Schiffe, die Flüchtlinge gerettet haben; von festen Camps ganz zu schweigen.
Das Kabinett Kurz hält dennoch an der Idee fest und nennt Libyen, Tunesien, Ägypten weiterhin als mögliche Standorte. Aber auch andere Länder kämen infrage. Es sei jedenfalls nicht hinnehmbar, davon auszugehen, dass auf dem gesamten Kontinent nirgendwo ein Asylzentrum eingerichtet werden könne, gibt sich ein Kurz-Sprecher kämpferisch. Bei der politischen Durchsetzbarkeit könne Geld eine Rolle spielen – die Aussicht auf Unterstützung, respektive der Entzug von Entwicklungshilfe. Die EU sei in diesem Bereich der bei Weitem größte Player.
Abgesehen davon: Es sind – abgesehen davon, dass Kern in Ägypten und Tunesien vorgefühlt und sich eine Abfuhr geholt hat – noch keine wirklich ernsthaften Verhandlungsversuche bekannt, sich mit afrikanischen Staaten auf die Einrichtung von Auffanglagern zu verständigen.
Soll man mit der Drohung, die Entwicklungshilfe zu entziehen, Druck machen? JA - NEIN
Das klingt nach einem probaten Druckmittel – immerhin pumpt Europa jährlich Milliarden an Entwicklungshilfe nach Afrika. Auch afrikanische Staaten tragen Verantwortung für ihre Staatsbürger. Außerdem ist es schwer zu rechtfertigen, dass ein Staat Entwicklungshilfe bezieht, seine Kooperation mit den Geldgebern jedoch einfach verweigert. Die Befürworter der Schließung der Mittelmeerroute sehen in der Androhung der Kürzung oder Streichung von Hilfsgeldern ein taugliches Mittel in Verhandlungen.
Das Problem ist allerdings: Dieselben Länder, auf die durch Streichung dieser Gelder Druck gemacht werden soll, finanzieren sich in erheblichem Ausmaß durch ihre Auswanderer.
Die mehr als drei Millionen Marokkaner, an die zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, die im Ausland leben, überweisen pro Jahr beispielsweise zwischen sechs und sieben Milliarden Dollar nach Hause. Das entspricht rund sieben Prozent der Wirtschaftsleistung des nordafrikanischen Landes und mehr als dem Dreifachen aller Entwicklungshilfezahlungen, die es erhält.
Marokko muss sich also überlegen, was ihm mehr schadet: finanzielle Einbußen durch den Wegfall von Entwicklungshilfezahlungen oder durch sinkende Einkünfte aus der Diaspora. Wenn man mitbedenkt, dass es durchaus Aufwand erfordert, die Bevölkerung am Verlassen des Landes zu hindern (etwas, das der Westen an autokratischen und diktatorischen Regimes ansonsten generell kritisiert), fällt die Antwort wohl nicht schwer.
In der EU herrscht zudem weitgehende Einigkeit darüber, bei Verhandlungen auf positive Anreize zu setzen anstatt auf negative. Und im Alleingang wird ein kleines Land wie Österreich auch mit den wüstesten Drohungen nicht viel ausrichten.
Ist das Konzept der Auffanglager überhaupt sinnvoll? JA - NEIN
In den Auffanglagern soll effektiv über Asylanträge entschieden und diese Entscheidung sollen rasch vollzogen werden. Daten über die in diesem Jahr angekommenen Bootsflüchtlinge zeigen, dass deren Migration nichts mit den Konflikten in Syrien, Irak und Afghanistan zu tun hat. Die meistvertretenen Nationalitäten sind Guinea, Nigeria, Bangladesh, Elfenbeinküste, Gambia, Marokko. Die Anerkennungsquote einiger dieser Länder ist in der EU nicht sehr hoch. Kritiker wenden ein, Asylverfahren im Schnelldurchlauf entsprächen nicht dem rechtstaatlichen Standard in europäischen Ländern.
Gibt es eine Lösung für abgelehnte Asylwerber? JA - NEIN
Vor allem, was den Vollzug der Entscheidung betrifft, dürfte das Probleme bereiten. Europäische Regierungen wissen selbst am besten, wie schwierig sich die Abschiebung von Nichtasylberechtigten gestaltet. Bei vielen ist unklar, woher sie eigentlich kommen, weil sie ihre Papiere vernichtet haben; bei anderen scheitert es am fehlenden Willen ihrer Heimatländer, sie zurückzunehmen. "Wie soll ein nordafrikanischer Staat etwas schaffen, was Ländern wie Deutschland, Österreich oder Schweden nicht gelingt?", gab Gerald Knaus, der Vorsitzende der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI), vergangene Woche gegenüber dem "Standard" zu bedenken.
Laut Außenminister Kurz gehören zum Konzept der Auffanglager auch Abkommen mit den Herkunftsländern, die es ermöglichen, die abgelehnten Fälle wieder loszuwerden. Außerdem geht man davon aus, dass ein Auffanglager in einem afrikanischen Land bei Weitem nicht so attraktiv sei wie eine vergleichbare Einrichtung in Europa. Die Zahl derer, die unbedingt im Lager bleiben möchten, wäre somit überschaubar.
Für ein potenzielles Gastland ist die Vorstellung eines immer größer werdenden Camps voller ausländischer Staatsbürger, die nirgendwo hin können und auch nicht zurück nach Hause wollen, aber ein Alptraum. Dass in den Auffanglagern schlechtere Bedingungen herrschen als vor ihren Toren, kann sich die EU aufgrund ihres eigenen Verständnisses als Garant der Menschenrechte nicht leisten. Sind die Bedingungen aber zu gut, würde das die Camps gleichzeitig zu Anziehungspunkten für Versorgungsbedürftige aus der ganzen Region machen - wie am Beispiel von Dadaab in Kenia, dem größten Flüchtlingslager der Welt, deutlich wird.
Gibt es abseits der Einrichtung von Auffanglagern erfolgversprechende Strategien? JA - NEIN
In den vergangenen Jahren ist es heimlich, still und leise gelungen, eine früher wichtige und hochgefährliche Migrationsroute zu schließen: Aus Westafrika setzen praktisch keine Boote mehr auf die Kanarischen Inseln über, die zuvor Anlaufstelle von Zigtausenden Asylsuchenden gewesen waren.
Auch wenn das, was dort vor sich gegangen ist, nicht mit der aktuellen Lage in Libyen vergleichbar ist – möglich wurde die Entspannung durch Abkommen der EU mit den Herkunfts- und Transitländern, die unter anderem Investitionen, Ausbildungsprogramme und Rückführungsabkommen beinhalten.
Ähnlich vielversprechend gestalte sich derzeit die Kooperation mit Niger, heißt es in Brüssel. 2016 hat sich die EU mit dem Sahara-Staat, durch den eine der wichtigsten Transitrouten nach Libyen führt, auf ein sogenanntes "migration compact" geeinigt – also ein Abkommen, das klare Ziele und Pflichten beinhaltet und auch an Entwicklungshilfe gekoppelt ist. Seither ist die Zahl der Migranten, die den Niger durchquert hat, von 70.000 pro Monat (im Mai 2016) auf 5000 (im diesjährigen Vergleichszeitraum) gesunken. "Das sind Dinge, die weniger spektakulär sind als die Forderung nach der Schließung der Mittelmeerroute und die Einrichtung von Lagern, aber umso wirkungsvoller", sagt ein Mitarbeiter von Kanzler Kern.
Menschenrechtsorganisationen beklagen freilich die brutalen Methoden, mit denen Länder wie Niger oder auch Marokko Migranten an der Weiterreise hindern.
Soll es nach einer Schließung der Mittelmeerroute überhaupt noch Wege geben, legal in die Festung Europa zu gelangen? JA - NEIN
Die politische Stimmungslage in Europa ist so negativ gegenüber Einwanderern, dass legale Zuwanderung auf ein Minimum beschränkt ist. Genau das ist einer der Gründe für das Schlepperwesen und die gefährlichen Reisen, die Migranten auf sich nehmen.
Die Schaffung eines Zuwanderungssystems wäre aber aus mehreren Gründen vernünftig. Unter anderem, um die Zahl jener zu verringern, die mangels Alternativen für legale Migration auf das Asylsystem ausweichen und dieses zum Zusammenbruch bringen; weil die Überweisungen von Migranten an ihre Familien die zielsicherste Entwicklungshilfe darstellen, die es gibt; weil sich Einwanderung auf diese Weise auch nach Arbeitsmarkterfordernissen steuern ließe – nicht zuletzt zum Nutzen der Migranten: Sie hätten größere Chancen, Jobs zu bekommen, und geringere, auf der Straße zu landen.
Das würde, so Gerald Knaus, Gründer des Thinktanks ESI (Europäische Stabilitätsinitiative) und Erfinder des EU-Türkei-Abkommens, auch Deals mit den Herkunftsländern denkbar machen, die folgendermaßen aussehen könnten: Die jeweiligen Regierungen verpflichten sich ab einem gewissen Stichtag, alle Staatsbürger zurückzunehmen, denen in der EU kein Asyl zugesprochen wird: "Dafür nimmt Europa ein jährliches Kontingent an Studenten und Arbeitnehmern auf. Dann werden sich viel weniger Menschen auf den Weg machen", so Knaus in einem Interview mit dem "Standard".
Außenminister Sebastian Kurz hält das Resettlement für die beste Form der Zuwanderung, weil die Betroffenen risikolos mit dem Flugzeug in ihr Zielland gelangen und dort für Quartier, Ausbildungsplatz oder Job gesorgt ist. Voraussetzung sei jedoch das weitgehende Ende der illegalen Zuwanderung. Das österreichische Außenministerium hält bei Resettlement-Programmen eine Zahl von 10.000 bis 15.000 Personen pro Jahr für verkraftbar.
Allerdings zeigt die Erfahrung, dass derartige Programme, etwa des Unhcr, aufgrund mangelnder Aufnahmebereitschaft der internationalen Gemeinschaft in der Praxis nur sehr limitiert funktionieren.