Reportage aus Gaza: Mohannad ist nicht mehr da
Drei Paar Jeans, ein Rucksack und ein Handtuch hängen an den Kleiderhaken der Zimmertür. Das Bett, das unter dem Fenster steht, ist gemacht, die fleckige, rosa gemusterte Decke glatt gestrichen. Auf dem Schreibtisch steht ein Beutel mit Musikkassetten. In diesem Zimmer im Erdgeschoss eines ansehnlichen Mehrfamilienhauses in einer Wohngegend von Gaza City wohnte Mohannad Younes. Er war 22 Jahre alt, Student der Pharmazie und hatte als Autor von Kurzgeschichten auf sich aufmerksam gemacht. 2015 gewann er mit der Short Story "Suche nach Wärme“ den ersten Preis bei einem Literaturwettbewerb; weitere Auszeichnungen folgten, zuletzt eine des Bildungsministeriums von Gaza. Mohannad war ein vielversprechendes junges Talent.
Jetzt baumelt eine Kette nutzlos von der Decke seines Zimmers. Daran hing bis zum 29. August ein Punchingball. Mohannad war schlank und nicht besonders kräftig. Er mochte wohl eher den dekorativen Effekt des Boxsacks, als dass er damit trainiert hätte. An jenem Dienstag nahm er den Punchingball vom Haken und entfernte das Füllmaterial, sodass nur der Lederbeutel übrigblieb. Mohannad nahm eine ganze Menge Schlaftabletten und befüllte den Lederbeutel mit einem giftigen Gas. Danach steckte er den Kopf hinein und zog die Schlinge zu.
Mohannad ist tot, hallte es durch die sozialen Netzwerke, in denen die jungen Leute von Gaza einen Freiraum suchen. Auf die Bestürzung folgte Zorn. Warum hatte sich der empfindsame junge Mann das Leben genommen? Mohannads blasses, jungenhaftes Gesicht wurde zur Ikone der Anklage gegen die Tristesse der jungen Generation von Gaza. Sie macht einen großen Teil der rund 1,8 Millionen Bewohner aus, denn rund 50 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 24 Jahre. Sie alle haben in ihrem Leben nur eine politische Führung bewusst miterlebt: jene der Hamas. Die islamistische Bewegung, die von der Europäischen Union und den USA als terroristische Organisation eingestuft wird, hatte die Wahlen im Jahr 2006 gewonnen und nach einer kurzen bewaffneten Auseinandersetzung mit der abgewählten Partei Fatah die alleinige Regierung des Gaza-Streifens übernommen.
Damals galt die Hamas unter den meisten Palästinensern noch als der aufstrebende Herausforderer Israels, der mit Terror und Raketen die Verhandlungsstrategie der abgewählten Fatah-Partei ablöste. Das Narrativ von der islamistischen Hochburg Gaza, die durch unbeugsamen Widerstand und Gewaltbereitschaft die israelischen Besatzer in die Knie zwingen würde, diente als Gründungslegende für den Pseudo-Staat. Es folgten zwei kurze Kriege mit Israel (2008 und 2014) und schleppende Verhandlungen mit der Fatah über eine Versöhnung - vor allem aber: die Verschlechterung der Lebensbedingungen auf allen Ebenen. Die Arbeitslosenrate beträgt mehr als 40 Prozent, die Armut betrifft weite Teile der Bevölkerung, die internationale Hilfe schrumpft, die Sanktionen der EU, USA und Israels zeigen Wirkung.
Was ist aus der großen Erzählung vom heroischen Widerstand der Hamas geworden? Zu Beginn des Jahrhunderts schickte die Organisation reihenweise Selbstmordattentäter gegen die verhasste Besatzungsmacht Israel und schwadronierte vom religiös gerechtfertigten Märtyrertum. Heute machen Selbstmörder wie Mohannad Younes Schlagzeilen. Der einsame, frei gewählte Tod des jungen Mannes in seinem Zimmer passt den islamistischen Machthabern gar nicht ins Konzept.
Im vergangenen Jahr stürzte ein junger Mann vom sechsten Stockwerk eines Hauses in Rafah in den Tod, ein 33-Jähriger zündete sich an und starb. Auch damals wurden in den Zeitungsberichten Armut, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung als mögliche Ursachen für die Todesfälle genannt.
Selbstmord zu begehen, ist in der islamisch geprägten Gesellschaft ein Tabu. Laut dem Koran wird Freitod als große Sünde mit dem Höllenfeuer bestraft. Entsprechend stark ist die Wirkung, dieses Verbot zu brechen, manchmal kann es auch unverhofft ein politisches Echo hervorrufen. Als sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 verbrannte, löste dies in seiner Heimat eine Revolution aus, die den Arabischen Frühling in Gang setzte. Die Hamas-Regierung muss nun fürchten, dass eines Tages ein solches Ereignis auch Unruhen gegen ihre Herrschaft auslösen könnte. Die Unzufriedenheit ist allgegenwärtig.
Abdelatif ist 24 Jahre alt, sein Milchgesicht umrahmt ein Backenbart, wie er für streng gläubige Muslime typisch ist. Er besitzt einen alten Laptop und war bis vor Kurzem als Computerprogrammierer in einem Jobtraining. Jetzt ist er arbeitslos. Sein Bruder Mohammed, 32, trägt eine Schirmkappe, Bermuda-Shorts und erzählt von der Zeit, als er in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebte. Dummerweise kam er zurück nach Gaza und sitzt jetzt hier fest. Abdullah, 27, ist der stillste der drei Brüder; auch er hat keinen Job.
Die drei sitzen bei Tee und Keksen im Hof ihres Wohnhauses. Die Familie lebt von dem Geld, das die Mutter verdient, die bis vor zehn Jahren Lehrerin war. Als die Hamas kam, versprach die frühere Palästinenser-Führung unter Mohammed Abbas allen Beamten, die sich weigerten, für die Hamas zu arbeiten, ihre Gehälter weiter zu bezahlen. Das tat sie auch, allerdings wurden die monatlichen Überweisungen heuer um 40 Prozent gekürzt, seitdem lebt die Familie von 1400 Shekel (340 Euro) pro Monat.
Was nervt die drei Brüder am meisten? > Dass die Grenzen geschlossen sind und dass es bloß vier Stunden pro Tag Strom gibt. Haben sie einen Traum? > Ich will irgendwie über Ägypten nach Russland und weiter nach Europa reisen, sagt Mohammed. Die anderen beiden schütteln den Kopf. Wem würden sie ihre Stimme geben, wenn es Wahlen gäbe? > Niemandem. Gibt es jemanden, den sie bewundern? > Nein. Haben sie Pläne? Wollen sie zum Beispiel eine Familie gründen? > Eine Hochzeit kostet 15.000 Dollar. Wo sehen sie sich in zehn Jahren? > Tot, sagt Abdellatif. Er wolle nicht negativ sein, bloß realistisch, ergänzt er zum Abschied lächelnd.
Im mehrstöckigen Einkaufszentrum "Capital Mall“ vertreiben sich vier Freundinnen die Zeit. Fatima, Marah, Naheel und Aya studieren an der Al-Azhar-Universität in Gaza Stadt. Alle vier tragen ein Kopftuch, das ihre Haare zur Gänze bedeckt. Fatima hat rot lackierte Fingernägel, Aya trägt mehrere Ringe.
Wie finden sie ihr Leben hier in Gaza? > Deprimierend. Wir wollen raus. Was ist so schlimm? > Wir können nicht studieren, was wir wollen. > Wahrscheinlich werden unsere Eltern für uns einen Ehemann aussuchen. > Wir haben noch nie einen Flughafen gesehen.
Manche der Klagen sind dieselben wie jene der Männer. Doch die Frauen haben zusätzliche Probleme: Die Islamisten haben dafür gesorgt, dass ihre Sittenregeln weitgehend befolgt werden - aus Angst, aus Respekt vor einer Autorität, aus Pragmatismus. Deshalb dürfen viele Frauen etwa nicht Journalismus studieren, denn in diesem Beruf gerät man mit unbekannten Männern in Kontakt und kommt abends spät nach Hause. Auch das Tragen des Kopftuches ist zwar nicht Gesetz, aber der soziale Druck ist so groß, dass die meisten Familien darauf bestehen.
Fatima erzählt, dass ein Universitätsangestellter das Mobiltelefon einer Freundin kontrolliert habe. Weil er darauf ein Foto ihres Cousins fand, musste die Frau ihren Cousin heiraten.
Es ist undenkbar, dass eine junge Frau ohne Begleitung eines männlichen Verwandten mit einem Mann in ein Lokal geht. Die Polizei kontrolliert solche Paare, nimmt sie mit auf die Wache und verständigt die Eltern der Frau. Eine rechtliche Grundlage gibt es dafür nicht, die Schande reicht als Strafdrohung aus.
Ich könnte meinen Eltern nicht entgegentreten und sagen: ‚Ich liebe diesen Typen!'
Die einzige Möglichkeit, einen Partner zu finden, ist der förmliche Antrag eines Mannes bei den Eltern einer Frau. Nehmen sie ihn an, dürfen die beiden miteinander Zeit verbringen. Mündet diese Verbindung allerdings nicht in einer Ehe, gilt die Frau danach als geschieden, und ihr Ruf ist unwiederbringlich beschädigt.
Fatima, Marah, Naheel und Aya leiden wie fast alle ihre Altersgenossinnen unter dieser Situation. "Ich könnte meinen Eltern nicht entgegentreten und sagen: ‚Ich liebe diesen Typen!‘“, klagt Fatima. Gleichzeitig kann sie ihre Erziehung nicht verleugnen: "Unsere Eltern sorgen sich eben um uns.“
Die Welt der Bewohner von Gaza ist sehr eng. Sie misst 365 Quadratkilometer und ist damit etwas kleiner als Wien. An den Grenzen gelten jeweils 300 Meter als No-go-Zone und ein Kilometer als Hoch-Risiko-Zone. Drinnen sorgt ein islamistisches Regime für sektiererische Stimmung, und zudem werden die internationalen Hilfsgelder weniger, weil andere Krisenherde mehr Aufmerksamkeit bekommen und es schwierig ist, Menschen in einem Land zu helfen, mit dessen Verwaltung man aus rechtlichen Gründen nicht kooperieren darf.
Wir wollen dazu beitragen, eine palästinensische Gesellschaft zu stärken, in der Frauen in größerem Maße als bisher politisch aktiv sein können.
Eine der vielen ausländischen Hilfsorganisationen, die in Gaza tätig sind, ist Care Österreich. Ihre Leute versuchen so gut es geht, das Leben möglichst vieler Menschen zu verbessern, ohne dabei an den Strukturen der Hamas-Verwaltung anzustreifen. Im Krieg beschädigte Brunnen werden repariert, Frauen ohne Einkommen werden an einer Hühnerfarm beteiligt, die sie nach einer Einschulung selbst betreiben sollen. Doch das Wichtigste am Engagement internationaler Helfer in Gaza ist ihre schiere Anwesenheit und das Vermitteln einer Kultur, die der Islamismus zu unterdrücken versucht: ökonomische Selbstständigkeit und politische Mitbestimmung von Frauen zum Beispiel. René Celaya, der Länderdirektor von Care für das Westjordanland und Gaza, schildert das Problem: "Frauen sind in der palästinensischen Politik nach wie vor unterrepräsentiert, das wirkt sich klarerweise auf ihr Leben und ihren Alltag aus. Wir wollen dazu beitragen, eine palästinensische Gesellschaft zu stärken, in der Frauen in größerem Maße als bisher politisch aktiv sein können.“ Einfach ist das in einem islamistischen Umfeld nicht. Care kooperiert mit vielen jungen Aktivistinnen lokaler Organisationen, die wiederum Frauen in ihrer Umgebung ermuntern sollen, für ihre Anliegen einzutreten. Fast alle Aktivistinnen tragen ein Kopftuch, und bei der Durchsetzung der Frauenrechte beginnen viele erst einmal bei sich selbst: Eine der Frauen ist frisch verheiratet, und die Familie ihres Ehemanns will nicht, dass sie ihr Studium fortsetzt, weil sie dabei allein in der Stadt unterwegs ist. Sie sagt, sie werde auf ihrem Recht beharren.
Es ist schwierig, in Gaza nicht zu verzweifeln. Der Flecken Land am östlichen Mittelmeerrand könnte so mondän sein wie das 70 Kilometer nördlich gelegene Tel Aviv. Gaza City ist zwar heruntergekommen, aber eine Stadt mit Flair. Es gibt viele trostlosere, und auch viele ärmere Gegenden auf der Welt, aber kaum einen Ort, an dem das, was möglich wäre, und die Aussichtslosigkeit, es jemals zu erreichen, so nah beisammen liegen. Niemand in Gaza glaubt, dass die israelische Blockade bald enden wird. Viele hofften seit Jahren auf eine Versöhnung zwischen der Fatah und der Hamas. Vergangene Woche gelang den beiden Streitparteien in Kairo eine Einigung. Doch zu oft schon hofften die Palästinenser auf eine politische Wende zum Besseren.
Haben Mohannad Younes, der Gefühle so virtuos in Sprache kleiden konnte, diese Frustrationen zu schaffen gemacht? Haben sie ihn zerstört?
Sein Onkel Asaad Ghurab zeigt, wie er die Tür aufbrach, als Mohannad nicht antwortete. Er deutet auf die Stelle am Boden, wo er seinen Neffen fand. Mohannads Mutter Asmaa Ghurab steht im Raum, ihr Gesicht aschfahl. Sie habe hier seit dem Tod ihres Sohnes nichts verändert, sagt sie leise.
Jeder geht mit seinen Nöten auf andere Weise um.
Im ersten Stock wohnt die Familie des Onkels. Hier sind die Zimmer geräumig, die schweren Vorhänge und die teuren Möbel sind in den Farben Braun, Beige und Gold aufeinander abgestimmt. Mohannad habe keine Geldsorgen gehabt, sagt der Onkel. Der junge Mann habe vielmehr seit seiner Kindheit darunter gelitten, dass sein leiblicher Vater sich nicht um ihn gekümmert habe. Später, als Mohannad ihn kennenlernen wollte, habe der Vater ihn zurückgewiesen. Da seien psychische Probleme zutage getreten. Die Mutter, langer schwarzer Rock, schwarze Weste und ein Kopftuch mit Leopardenmuster, ist selbst Psychologin. Sie habe ihrem Sohn nicht helfen können. Eine Mutter könne nicht zugleich Therapeutin sein. Mohannad habe unter Depressionen gelitten. Einmal habe er die Chance gehabt, Gaza zu verlassen: Ein Onkel in Australien hätte ihn adoptiert, doch der Vater verweigerte die Zustimmung. "Jeder geht mit seinen Nöten auf andere Weise um“, sagt die Mutter.
Viele der jungen Leute, die Mohannads Selbstmord aufgewühlt hat, wissen nichts von den Problemen, die der junge Mann hatte. Sie vermuten bloß, dass die Lebensumstände in Gaza etwas damit zu tun hatten, und projizieren ihre eigene Niedergeschlagenheit in Mohannads Schicksal. Die Hamas reagierte entsprechend: Sie untersagte die Erstellung einer Suizid-Statistik.