Mord in Moskau: Putin-Kritiker Boris Nemtsow in der Nähe des Kreml erschossen
Liberaler Wirtschaftsreformer in den 1990er-Jahren, danach Gouverneur der Region Nischni Nowgorod und Vizepremier von Boris Jelzin: Boris Nemtsow, 55, war einer der längstgedienten Vertreter der demokratischen Opposition Russlands. Unter Wladimir Putin wurde er zu einem der heftigsten Kritiker der Korruption in Russland – und damit zum persönlichen Feind des russischen Präsidenten. „Putin hat keine Ahnung von Wirtschaft, er ist ein KGB-Mann ohne tiefere Einsichten“, sagte er 2009 in einem Interview mit profil: „Das heutige Russland ist eine Bananenrepublik.“ 2012 gründete Nemtsow die kremlkritische „Republikanische Partei Russlands“. Diesen Sonntag wollte er am Anti-Krisen-Marsch „Frühling“ in Moskau, den er mitorganisiert hatte, teilnehmen. Dazu kam es nicht mehr: Am Freitagabend wurde Nemtsow erschossen.
Das Interview aus dem Jahr 2009 in der Nachlese:
“Putin = Stalin + Abramowitsch”
Der russische Oppositionelle Boris Nemzow hofft auf eine demokratische Rebellion.
Interview: Andrei Iwanowski und Tessa Szyszkowitz
profil: Schon vor der Finanzkrise haben Sie in ihrem Buch “Putin – das Fazit” mit Putins Wirtschaftspolitik abgerechnet. Was halten Sie jetzt von seinem Krisenmanagement? Nemzow: Putin hat die Leute mit Geld zum Schweigen gebracht. Doch jetzt steigen Arbeitslosigkeit und Inflation dramatisch; das Staatsbudget wird defizitär; Gas wird 27 Prozent mehr kosten. Strom ein Viertel mehr. Wenn die Geldtasche leer ist, werden die Leute der Staatspropaganda im Fernsehen nicht mehr glauben. Putin hat nicht den Rubel gestärkt, sondern die Rublowka (die legendäre Villenstraße der Millionäre westlich von Moskau, Anm.d.Red.)
profil: Und dann tritt “Solidarnost”, ihr neues Oppositionsbündnis, auf den Plan? Nemzow: Es gibt drei Optionen: Linksextreme Nationalbolschewiken, rechtsextreme Skinheads und eben uns: die Liberalen. Wir gehen auf die Straße. Wir nehmen an Gemeinewahlen teil – nationale und regionale Wahlen gibt es nicht mehr wirklich, aber auf ganz unterer Ebene gibt es echte Wahlmöglichkeiten.
profil: Bisher bläst das Staatsfernsehen auf allen Kanälen, dass nur Amerika an der Krise schuld ist. Nemzow: Mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Barack Obama wird es nicht mehr so leicht sein, die USA für alles verantwortlich zu machen. Obama ist ein Filmstar. Es dämmert den Leuten schon längst, dass die amerikanische Wirtschaft vielleicht erkrankt ist, aber die russische ist im Vergleich dazu wie ein Aids-Kranker, unsere Wirtschaft hat überhaupt kein Immunsystem. Von den 600 Milliarden Dollar Staatsreserven sind 200 Milliarden bereits verbraten worden, der Reichtum verschwindet in einem schwarzen Loch. Putin lässt die Banken Dollars verkaufen und druckt Rubel. Trotzdem verliert die Währung jeden Tag an Wert.
profil: Mit “Solidarnost” haben Sie politische Anleihe bei den polnischen Werftarbeitern in Danzig genommen. Sind wir zurück in der Zeit vor der Perestroika? Nemzow: Russland ist natürlich nicht Polen. Aber der Name ist schon Programm: Ich halte die Verbindung von Gewerkschaften und Intellektuellen für ein gutes Konzept. Hier in Russland sind die offiziellen Arbeitnehmervertretungen völlig unter Putins Kontrolle. Doch es gibt auch unabhängige Gewerkschaften, auf die konzentrieren wir uns.
profil: Als das russische Finanzsystem 1998 zusammenbrach, waren Sie Vizepremierminister. Erinnert Sie die Lage heute nicht an damals? Nemzow: Als ich in der Regierung war, haben wir Russland von siebzig Jahren Sowjetkommunismus zu einer freien Marktwirtschaft reformiert. Ich war Vizepremierminister als der Ölpreis bei 12 Dollar pro Barrel lag. Putin hat das Land jetzt unter ganz anderen Umständen kaputtgewirtschaftet: Bei einem Ölpreis von 150 Dollar hat er es nicht geschafft, Russland in ein profitables Unternehmen zu verwandeln, dessen Wirtschaft auf mehr basiert als auf Öl. Russland heute ist eine Bananenrepublik. Putin hat keine Ahnung von Wirtschaft, er ist ein KGB-Mann ohne tiefere Einsichten. Putin ist gleich Stalin plus Abramowitsch (Josef Stalin, sowjetischer Diktator von 1924-1953; Roman Abramowitsch, bis zur Finanzkrise reichster Russe, Anm.d.Red.). Außerdem noch ein bisschen Turkmenbaschi (Saparmurat Nijasow, 2006 verstorbener absolutistischer Führer Turkmenistans, Anm. d. Red.). Der Westen ist ihm allerdings auch wichtig. Putin will mit Silvio Berlusconi in Sardinien in der Sonne sitzen.
profil: Warum lässt er dann nicht Dmitri Medwedew an die Macht? Nemzow: Das wäre ein wichtiger Schritt Richtung Reform. Medwedew entlässt wegen der tiefen Wirtschaftskrise seinen unfähigen Premierminister – nach der Verfassung kann er das tun. Dann setzt er bis zu freien Wahlen eine Technokratenregierung ein. Der Präsident ist eigentlich Jurist, ein Mann des Rechts, das hat er in vielen Reden gesagt. Dann mal los! Russland befindet sich schließlich nicht auf einem anderen Planeten als Österreich.