Nahost-Konflikt

„Die Bomben kommen näher“

Während der israelischen Angriffe schickt eine Palästinenserin an profil Nachrichten aus Gaza-Stadt.

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W. ist eine Frau aus Gaza, die profil vor fünf Jahren bei einer Reportage in der palästinensischen Enklave kennengelernt hat. Sie verfügt über einen Universitätsabschluss im Fach Englische Literatur und arbeitete bei einer arabischen Frauenrechtsorganisation. Sie ist verheiratet, ihr Mann ist derzeit in Dubai. W. hat ihr gesamtes Leben in Gaza verbracht und wohnt im Stadtviertel Al Rimal, eine der vergleichsweise wohlhabenderen Wohngegenden von Gaza-Stadt, von der die Nachrichtenagentur Associated Press vergangene Woche schrieb, der Bezirk sei „von einem beispiellosen Bombardement verwüstet“ worden. Mittwochnacht konnte profil eine Verbindung zu W. herstellen und mit ihr schriftliche Nachrichten und Audio-Files austauschen.

„Mein Sohn ist drei Jahre alt, und ich bin im neunten Monat schwanger. Jederzeit können die Wehen einsetzen. In Al Rimal wird ein Gebäude nach dem anderen getroffen, wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen.“

„Mein Kleiner wird nachts von Panik gepackt. Sein Körper beginnt zu zittern, ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein Ehemann ist seit zwei Monaten in den Vereinigten Arabischen Emiraten, um zu arbeiten. Ich bin derzeit im Haus meiner Eltern. Das Gebäude meiner Tante wurde getroffen, ihre Familie ist jetzt bei uns.“

„Gestern mussten wir aus dem Haus laufen, weil wir die Nachricht bekamen, dass ein Gebäude gleich daneben bombardiert wird. Die Leute rufen an, um einander zu warnen. Wir haben dann nur wenige Minuten Zeit. Ich kann nicht beschreiben, wie schrecklich es war, unter dem Beschuss wegzurennen.“

„Die kleinen Supermärkte haben keine Lebensmittel mehr. Nur noch die großen, die über Lager verfügen. Zu denen gehen wir in der Früh. Heute ging der Treibstoff aus, und wir hatten den ganzen Tag keinen Strom mehr. Vermutlich wird heute Nacht das Wasser abgedreht.

„Ich weiß nicht, wo ich mein Baby zur Welt bringen soll. Ich habe solche Angst.“

„Viele Menschen haben Zuflucht in Schulen der Unrwa (UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge) gefunden. Dort arbeiten Not-Teams. Aber es werden keine Lebensmittelgutscheine mehr verteilt.“

W. schickt ein Audio-File mit dem Geräusch eines nahen Bombentreffers.

„Das Schlimmste ist, dass man nicht weiß, wo die Bomben einschlagen. Es fühlt sich an, als würden wir hier sitzen und warten, bis wir an der Reihe sind, bombardiert und getötet zu werden. Wir haben unsere wichtigsten Sachen gepackt und sitzen neben der Tür und warten.“

„Die Bomben kommen näher.“

W. schickt ein weiteres Audio-File mit einem noch lauteren Geräusch eines Bombentreffers.

„Das war sehr nahe. Ich muss jetzt gehen.“

Die Kommunikation endet am Mittwoch um 23.40 Uhr. Am vergangenen Wochenende kam ein neuerlicher Kontakt mit W. zustande. Sie und ihre Familie sind in den Süden von Gaza geflüchtet.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur