Zum dritten Mal seit Kriegsbeginn schickt die Palästinenserin Wajiha Nachrichten aus dem Gazastreifen. Mitten in die Verzweiflung mischt sich eine freudige Nachricht.
Am 31. Oktober sendet Wajiha, eine 29 Jahre alte Palästinenserin aus Gaza, über den Facebook-Messengerdienst ein Foto an profil. Es zeigt ein neugeborenes Baby in einem grau-weiß-gestreiften Strampelanzug und einer weißen Mütze auf dem Kopf. Darunter der Satz: „Ich habe entbunden!“
Mitten im Krieg zwischen der Hamas und Israel, knapp eine Woche, nachdem Wajiha mit ihrem drei Jahre alten Sohn und weiteren Familienmitgliedern in der Nacht aus ihrer Wohnung in Gaza-Stadt fliehen musste, um den israelischen Bombardements zu entgehen, hat sie ein zweites Kind bekommen.
Als die Wehen einsetzen, ist es neun Uhr abends. Zu spät, um mit dem eigenen Auto in das etwa 20 Minuten entfernte Al-Awda-Krankenhaus zu fahren. In der Dunkelheit könnte das Auto eher angegriffen werden, fürchtet die Familie. Wajiha und ihre Mutter rufen einen Krankenwagen. Erst heißt es, es könne keiner kommen. Nach mehr als einer halben Stunde trifft doch einer ein. Die Wehen sind bereits stark, während der Fahrt hört Wajiha den Lärm des Krieges. Flugzeuge, Explosionen.
In der Geburtenstation werden auch Kriegsverletzte behandelt.
„Alle waren angespannt und haben geschrien. Patienten haben geblutet, die Ärzte waren gestresst“, sagt Wajiha.
Nicht einmal eine Stunde später ist ihr Baby da. Der Bub heißt Ahmed.
Es ist eine freudige Nachricht, das Baby ist gesund, doch Wajiha weiß nicht, wie sie nach Hause kommen soll. Am nächsten Tag marschieren Wajiha, Ahmed am Arm, und ihre Mutter zu Fuß nach Hause. Nach drei Stunden hält ein Auto und nimmt sie den Rest des Weges mit.
Jetzt ist sie wieder in ihrem derzeitigen Zuhause, einer Wohnung von Verwandten in der Stadt Dair al-Balah. Elf Personen schlafen in einem Raum, darunter zwei Babys und sechs Kinder unter zehn. Doch die Wohnverhältnisse sind nicht das größte Problem. Wajiha fürchtet um ihr Leben und das ihrer Kinder. Ihr Ehemann ist in den Vereinigten Arabischen Emiraten und kann wegen der Grenzsperren nicht nach Gaza zurück.
Die Hamas, die am 7. Oktober rund 1200 Israelis getötet und 240 entführt hat, kapituliert auch nach eineinhalb Monaten Krieg nicht. Mittwoch dieser Woche gibt die israelische Regierung bekannt, dass mit der Hamas ein viertägiger Waffenstillstand ausverhandelt worden sei. 50 der 240 Geiseln, die in der Gewalt der Hamas sind, sollen freikommen. Im Gegenzug wird Israel 150 Palästinenserinnen und minderjährige Palästinenser aus der Haft freilassen. Außerdem kann die Feuerpause um jeweils einen Tag verlängert werden, wenn die Hamas zehn weitere Geiseln freilässt. Bis Redaktionsschluss dieser profil-Ausgabe kam keine Geisel frei.
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat angekündigt, der Krieg sei noch nicht zu Ende. Israel griff zuletzt nicht nur nördlich der Linie des Wadi Gaza an, sondern auch im Süden, wohin Wajiha und Hunderttausende Palästinenser geflohen sind.
Am 5. November, Ahmed ist gerade eine Woche alt, wird das Flüchtlingslager Al-Maghazi-etwa zwei Kilometer entfernt von Dair al-Balah-von Luftschlägen getroffen. Ein israelischer Militärsprecher sagt danach, es werde geprüft, ob die israelischen Streitkräfte zu dem Zeitpunkt in dem Gebiet im Einsatz waren. Es folgt kein Dementi. Die Zahl der Opfer wird von palästinensischer Seite mit 40 bis 50 angegeben. Ein Mitarbeiter der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu sagt, zwei seiner Kinder seien getötet worden, weil sein Haus bei dem Angriff auf das benachbarte Gebäude zum Teil einstürzte. "Flüchtlingslager" werden in Gaza Viertel oder auch kleinere Städte genannt, in denen Nachkommen von Palästinensern leben, die im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 ihre Wohngebiete verlassen mussten und nicht wieder dorthin zurückkehren konnten.
„Wir wissen nicht, ob unser Haus noch steht. Es ist sehr nahe beim Al-Schifa Krankenhaus.“
Wajiha, 29, aus Gaza-Stadt
Wajiha schreibt, sie höre täglich Luftangriffe. "Etwa vier bis fünf pro Tag." Sie fürchtet, dass die israelischen Truppen auch in den Süden vorrücken werden, wohin ein Großteil der Bevölkerung aufgrund der israelischen Warnungen geflüchtet ist.
"Sie werden in Khan Yunis (einer Stadt im Süden, die auch als Flüchtlingslager bezeichnet wird, Anm.) einmarschieren. Das habe ich in den Nachrichten gelesen. Wir haben Angst, dass wir dann auch den Süden verlassen müssen."
Niemand weiß, wohin die Binnenflüchtlinge dann gehen müssten. In Gaza-Stadt und anderen Kommunen im Norden sind viele Gebäude durch Raketenangriffe zerstört.
"Wir wissen nicht, ob unser Haus noch steht. Es ist sehr nahe beim Al-Schifa Krankenhaus." Das ist das Krankenhaus, das israelische Streitkräfte erobert haben, weil sie dort ein großes Kommandozentrum der Hamas vermutet hatten. Ob es eines gab, bleibt umstritten.
Jetzt muss Wajiha erst einmal zusehen, wie sie ihre Kinder ernährt. Sie hat eben mit dem Stillen aufgehört, was ihr sehr schwergefallen ist.
"Aber ich kann mein Baby nicht stillen, wenn ich pro Tag nur drei Gläser Wasser zu trinken und eine Mahlzeit zu essen habe. Jetzt habe ich Angst, dass das Milchpulver ausgeht."
Der Mangel an so gut wie allen Gütern ist das unmittelbarste Problem im Alltag.
"Wir laufen den ganzen Vormittag umher, ob es irgendwo Wasser und Lebensmittel zu kaufen gibt und ob wir jemanden finden, der ein funktionierendes Solarpanel hat, mit dem wir unsere Mobiltelefone aufladen können."
Für den Zugang zu Informationen ist das Mobiltelefon unverzichtbar. Wird es einen Waffenstillstand geben? Wann? Wie lange? Ist das Gebiet südlich des Wadi Gaza weiterhin die-relativ-sicherere Zone?
Die Versorgungslage ist-jedenfalls bis Mitte dieser Woche-schlecht.
"Es gibt kein Gas mehr für den Herd, wir kochen auf einem kleinen Kocher. Es dauert Stunden, und der Rauch verursacht allen in der Wohnung Kopfschmerzen."
Wajiha schickt ein Foto eines kleinen, tragbaren Kochers, der mit Kohle beheizt werden kann.
"Auf dem kochen wir Linsen und Reis, wir backen sogar Brot."
"Trinkwasser ist nur wenig zu bekommen. Der Preis hat sich versiebenfacht, Kartoffeln kosten fünfmal so viel wie vor dem Krieg. Die Erwachsenen in der Familie fasten, damit die Kinder eine Mahlzeit am Tag bekommen."
"Wir haben jetzt noch Geld. Aber wenn der Krieg noch einen Monat dauert, wird es sehr schwierig."
Wajiha sorgt sich, dass der Krieg bis in den Winter dauern könnte. Dann sinken die Temperaturen auf rund zehn Grad.
"Noch vor ein paar Tagen habe ich gebetet, dass der Krieg bald aufhört. Jetzt bin ich nur noch tieftraurig."
Einige Zeit schickt Wajiha keine Nachrichten mehr. Als Erklärung schreibt sie: "Es gibt keine Hoffnung. Wir sind allen egal. Es ist sinnlos."
Aber aufzugeben ist keine Option. Falls ein Waffenstillstand ausgerufen wird, wollen Wajiha und ihre Mutter nach Khan Yunis, um Winterkleidung zu kaufen.