Der Nahe Osten steht vor der befürchteten Eskalation. Israel befindet sich in direkter Konfrontation mit dem Erzfeind Iran, und im Libanon hat sich eine neue Kriegsfront aufgetan. Die Risiken für die gesamte Region sind enorm.
Ein Jahr ist seit dem brutalen Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel vergangen, und beinahe ebenso lange warnen Experten und Politiker aus aller Welt vor einer Ausweitung des darauffolgenden Krieges auf die gesamte Region. Auf den Libanon etwa, von dessen Gebiet aus die vom Iran unterstützte islamistische Terrormiliz Hisbollah Raketen auf Israel abfeuert. Auf den Angriff folgt stets der Gegenschlag, Rache auf Vergeltung, und seit vergangener Woche zeichnet sich ab, wovor die USA, Israels wichtigster Verbündeter, seit Kriegsbeginn am dringlichsten warnen: eine direkte Konfrontation Israels mit dem Iran.
Ein Überblick über die wichtigsten Player in dem Konflikt.
Iran: Raketen auf Israel
Am vergangenen Dienstagnachmittag heulen in Israel die Sirenen, Millionen Menschen flüchten angesichts des erwarteten iranischen Raketenangriffs in Bunker und Schutzräume. Inmitten des Chaos erlebt das Land den schlimmsten Angriff seit dem 7. Oktober 2023. An einer Bushaltestelle in Tel Aviv gehen zwei Palästinenser mit Messern und Schusswaffen auf Wartende los, töten sieben Menschen und verletzen 17 weitere. Minuten später feuert der Iran rund 200 Raketen auf militärische und zivile Ziele in Israel ab. Die meisten davon werden abgewehrt, ein Mensch wird getötet, doch das ändert nichts an der Logik des Krieges: Jetzt ist Israel am Zug, seinerseits Vergeltung zu üben.
Viel wird davon abhängen, wie Israel auf den iranischen Raketenangriff antwortet. Der Iran werde für seinen großen Fehler bezahlen, hieß es vonseiten der Regierung.
Bisher nahm Israel im Iran hauptsächlich Militärstützpunkte und konkrete politische Feinde ins Visier. In einer nächsten Eskalationsstufe sind Angriffe auf Öl- oder sogar auf Nuklearanlagen denkbar. Das rechte Lager, auf das die Regierung Benjamin Netanjahus angewiesen ist, fordert das schon lange. Bei seinen Generälen stieß Israels Premier damit bisher auf Widerstand. Das könnte sich nun ändern.
Mit dem Raketenangriff auf Israel hat der Konflikt mit dem Iran eine neue Qualität erreicht. Aus der Sicht Teherans war der Beschuss die Antwort auf die gezielten Tötungen von Hamas-Führer Ismail Haniyyeh, Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah sowie eines Generals der iranischen Revolutionsgarden. Am Freitag vor einer Woche durchschlugen eine Reihe bunkerbrechender Raketen das 50 Meter tiefe „Hisbollah-Hauptquartier“ in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Mit Nasrallah starben eine Handvoll weitere hochrangige Hisbollah-Kommandeure. Die libanesische Terrormiliz ist der wichtigste Verbündete Irans in der Region; in der von Teheran ins Leben gerufenen „Achse des Widerstands“ gegen Israel war Nasrallah die Nummer zwei – nach dem obersten religiösen Führer des Iran Ayatollah Ali Khamenei.
Die Revolutionsführer in Teheran haben in den vergangenen Wochen und Monaten viele treue Alliierte verloren. Ende Juli gelang Israel ein tödlicher Angriff auf den Chef der Hamas, Ismail Haniyyeh, mitten in Teheran. In Gaza sind die Verluste der Hamas hoch, und im Libanon brachte der Mossad Mitte September die Pager und Walkie-Talkies Tausender Hisbollah-Mitglieder per Fernsteuerung zur Explosion. Der Anschlag tötete etwa 40 Kämpfer, Tausende wurden verletzt, die Hisbollah deutlich geschwächt. Damit sah die israelische Regierung offenbar den richtigen Zeitpunkt für die nächste Militäroperation gekommen.
Libanon: Bodenoffensive mit unklarem Ziel
Ein Jahr nach dem Angriff der Hamas und dem darauffolgenden Krieg in Gaza hat sich der Schwerpunkt der Kämpfe in Richtung des nördlichen Nachbarlandes verschoben.
Am vergangenen Dienstag schickte Israel das erste Mal seit 18 Jahren Soldaten in den Libanon. Die Bewohner im Süden des Landes wurden aufgefordert, das Gebiet südlich des Flusses Avali zu verlassen (siehe Karte). Insgesamt sind im Libanon mehr als eine Million Menschen auf der Flucht; mehr als 1000 kamen seit Mitte September bei Luftschlägen Israels ums Leben.
Die israelische Regierung hat das Ziel ausgegeben, dass die Vertriebenen auf der israelischen Seite so rasch wie möglich nach Hause zurückkehren können. Im Norden des Landes mussten knapp 70.000 Menschen ihre Heimat verlassen, weil die Hisbollah vom Libanon aus Drohnen und Raketen über die Grenze schickt.
Nach den Erfolgen der vergangenen Wochen hofft Netanjahu darauf, im Kampf gegen einen geschwächten Gegner rascher voranzukommen.
Die Hisbollah mag sich im Schock befinden – die Führung ist tot, die Kommunikationskanäle sind im wahrsten Sinne des Wortes gesprengt, die Raketenbestände durch israelische Luftschläge dezimiert –, doch sie verfügt nach wie vor über ein großes Waffenarsenal und über ein weitverzweigtes Tunnelsystem. Ihre Guerilla-Truppen können der IDF bei ihrer Bodenoffensive schwer zusetzen. Aus dem Weißen Haus hieß es, man unterstütze Israels Recht, sich gegen die Hisbollah und alle anderen vom Iran unterstützten Terrorgruppen zu verteidigen. Ein Sprecher warnte aber auch vor einer Ausweitung des Konfliktes. Tamir Hayman, ehemaliger General der IDF und heute Leiter des Institute for National Security Studies in Tel Aviv, formuliert es gegenüber dem britischen „Economist“ so: „Israel muss seine Ziele im Libanon deutlich machen und darlegen, welche Art von Waffenstillstand es mit der Hisbollah zu akzeptieren bereit ist.“ Im Kampf gegen die Hisbollah sei es bisher gut gelaufen, „aber das Potenzial für eine Katastrophe im Libanon ist groß“.
Das Risiko entstehe „zwischen dem ersten Hügel, der eingenommen wird, um die Mission zu erfüllen, und dem zweiten, der gestürmt wird, um die Truppen auf dem ersten Hügel vor Feuer zu schützen“, schreibt die liberale israelische Tageszeitung „Haaretz“. So könne es passieren, dass man in einem fremden Land 18 Jahre lang festsitzt – so wie Israel im Südlibanon ab 1982 – oder vielleicht sogar länger.
Die Verluste könnten auch für Israel hoch sein. Allein in den ersten zwei Tagen nach Beginn der Bodenoffensive starben im Südlibanon acht israelische Soldaten.
Gaza: der beinahe vergessene Krieg
Mit dem iranischen Luftangriff auf Israel und dem Beginn der Bodenoffensive im Südlibanon ist der Krieg in Gaza in den Hintergrund gerückt. Bis etwa Mitte September verlief hier die wichtigste Kriegsfront. Doch die Prioritäten haben sich verschoben.
Für die Geiseln bedeutet das nichts Gutes. Ein Deal mit der Hamas über die Freilassung der aus Israel verschleppten Menschen stand von vornherein im Widerspruch zum Ziel der Regierung, die Hamas um jeden Preis zu zerschlagen. Nun sind die Anliegen der Geiseln und ihrer Angehörigen noch weiter nach hinten gerückt.
Mehr als 41.000 Menschen wurden im Gazastreifen seit Kriegsbeginn getötet. Die Zahlen stammen aus dem von der Hamas betriebenen Gesundheitsministerium und sind nicht unabhängig überprüfbar, gelten aber als zuverlässig.
Auf die Frage, wie eine langfristige Lösung im Gazastreifen aussehen könnte, gibt es nach wie vor keine für alle Seiten akzeptable Antwort. US-Präsident Joe Biden schlug bereits im Mai einen Dreistufenplan vor. Beginnend mit einer sechswöchigen Waffenruhe und dem Abzug der IDF aus dem Gazastreifen sollten nach und nach alle israelischen Geiseln und Hunderte palästinensische Häftlinge freigelassen werden, bevor der Wiederaufbau des Gazastreifens beginnen könne. Der UN-Sicherheitsrat stimmte für den Plan. Doch davon ist man weiter entfernt denn je.
Noch vor zwei Wochen schien ein von den USA und Frankreich forciertes Abkommen zwischen Israel und der Hisbollah greifbar. Die Hisbollah sollte sich auf acht bis zehn Kilometer Entfernung von der Grenze zurückziehen, danach sei der Weg für eine dreiwöchige Waffenruhe frei, so der Plan. Netanjahu schien einverstanden, doch dann gab er den Befehl zum Angriff auf Nasrallahs Bunker in Beirut. Die Biden-Administration war davon nicht informiert gewesen.
Mit der Bodenoffensive im Libanon hat Netanjahu die USA einmal mehr brüskiert, in Washington geht die Sorge vor einem großen Krieg in Nahost um. Im Gespräch mit der „New York Times“ äußerten Mitglieder der Biden-Administration sogar die Vermutung, Netanjahu wolle Donald Trump dabei helfen, die Präsidentschaftswahlen am 5. November zu gewinnen. Das Vertrauen zwischen den USA und Israel schwindet.
Jemen, Syrien, Irak: die vielen Verbündeten Irans
Die Hisbollah im Libanon und die Hamas im Gazastreifen sind die wichtigsten Verbündeten des Iran in der Region, doch sie sind nicht die einzigen. Die von Teheran ausgerufene „Achse des Widerstands“ gegen Israel umfasst auch das Assad-Regime in Syrien, Milizen in Syrien und im Irak sowie die Huthi-Miliz im Jemen.
Im Jemen unterstützt der Iran die schiitische Huthi-Miliz im Kampf gegen Regierungstruppen sowie den Erzfeind Saudi-Arabien. Vor zehn Jahren eroberten die Huthis weite Teile des Landes, seit einem Jahr feuern sie Raketen auf Israel und auf Handelsschiffe und Öltanker im Roten Meer ab.
In Syrien steht der Iran aufseiten von Machthaber Bashar al-Assad, im Bürgerkrieg entsandte Teheran ab 2011 Berater und Kämpfer alliierter Milizen aus dem Libanon, aus Pakistan, Afghanistan und dem Irak. Und im Irak unterstützt der Iran seit Beginn der US-Invasion 2003 schiitische Paramilitärs (siehe Karte).
Im Mehrfrontenkrieg gegen Israel kann der Iran also auf eine ganze Reihe loyaler Verbündeter zurückgreifen. An finanziellen Mitteln für deren Unterstützung hat es bisher nicht gefehlt. Um Sanktionen zu umgehen, kann Teheran auf zwei wichtige Wirtschaftspartner zählen: Russland und China.