Der verlassene Staat

Nahost-Konflikt: Anerkennung Palästinas, Sanktionen gegen Israel - Jerusalem versteht die Welt nicht mehr

Nahost. Anerkennung Palästinas, Sanktionen gegen Israel: Jerusalem versteht die Welt nicht mehr

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Der Tatort: eine Synagoge. Die Tatzeit: vor sieben Uhr, zum Morgengebet. Die Täter: zwei Palästinenser. Die Todesopfer: vier streng gläubige Juden und ein Polizist, der es zuvor noch geschafft hatte, eine Frau in Sicherheit zu bringen. Die Tatwaffen: eine Pistole und mehrere Fleischermesser.
Das Attentat am vergangenen Dienstag in Har Nof (übersetzt: „Aussichtsberg“), einem von ultra-orthodoxen Juden bewohnten Stadtteil in West-Jerusalem, ließ auch hartgesottene Ermittler erschauern. Die nach der Tat veröffentlichten Fotos waren kaum zu ertragen, doch Polizeisprecher Mickey Rosenfeld kommentierte sie gegenüber CNN mit den Worten: „Es war noch viel schlimmer.“

Politiker aus aller Welt beeilten sich, ihrer Abscheu, ihrer Trauer und ihrer Solidarität mit Israel Ausdruck zu verleihen: UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, US-Präsident Barack Obama, Frankreichs Präsident François Hollande, Großbritanniens Premier David Cameron, Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier. In der schweren Stunde steht die westliche Welt an der Seite Israels.

Oder täuscht der Eindruck? Handelt es sich bei den mitfühlenden Aussendungen womöglich nur um ein Ritual, das kaschieren soll, dass man sich in Wahrheit längst von Israel abgewandt hat?

Die israelische Regierung und ein großer Teil der israelischen Bevölkerung misstrauen Europa, den USA und den Vereinten Nationen seit Langem.
Von deren Seite, so der Eindruck, hagelt es permanent Kritik, unangenehme Resolutionen, Sanktionsdrohungen, Boykotte – und, vielleicht das Schlimmste: Unterstützung für Palästina, den Feind.

Es ist keine Illusion.

Anerkennung Palästinas
Die schwedische Regierung gab Ende Oktober bekannt, sie werde Palästina als Staat anerkennen. Das britische Unterhaus forderte kürzlich die Regierung Cameron auf, dasselbe zu tun; vergangene Woche folgte das spanische Parlament diesem Beispiel, und am Freitag dieser Woche stimmt die französische Nationalversammlung über die gleiche Frage ab – der Antrag stammt von der sozialistischen Mehrheitsfraktion.

Vorvergangenes Wochenende setzte es für die Regierung von Benjamin Netanjahu einen weiteren Schock: Die Tageszeitung „Haaretz“ veröffentlichte den Inhalt eines vertraulichen Dokuments aus dem Europäischen Auswärtigen Dienst, also dem Außenministerium der EU. Inhalt: mögliche Sanktionen gegen Israel, für den Fall, dass die dortige Regierung eine Zweistaatenlösung durch fortgesetzten Siedlungsbau sabotiert. Die Vorschläge reichen von diplomatischen Unfreundlichkeiten und Maßnahmen gegen Siedlerorganisationen bis hin zu Aktivitäten zur „Stärkung der Elemente palästinensischer Staatlichkeit“.

Israel ist einiges an Kritik gewohnt. Regierung und Bevölkerung fühlen sich vom Ausland oft missverstanden. Doch bisher sind europäische Staaten davor zurückgeschreckt, Affronts wie jenen der Anerkennung eines palästinensischen Staates auch nur zu erwägen. Die Boykott- und Sanktionsbewegung beschränkte sich auf Nicht-Regierungsorganisationen, die von Prominenten wie dem britischen Star-Physiker Stephen Hawking oder dem Pink-Floyd-Musiker Roger Waters unterstützt wurden. Nun wird der Druck zusehends stärker, der Unmut gegenüber Israel erreicht den politischen Mainstream und wird in den Parlamenten mehrheitsfähig – auch wenn die meisten Regierungen diese nicht bindenden Beschlüsse nicht umsetzen.

In Israel reagiert die Öffentlichkeit auf solche Entwicklungen mit Zorn und Trotz. Premier Netanjahu kommentierte die Serie der Palästina-Beschlüsse in den europäischen Parlamenten scharf. Den Palästinensern ohne vorheriges Friedensabkommen mit Israel einen Staat zu geben, sei „absurd“, „ungerecht“, „rücksichtslos“ und „gefährlich“. Die israelische Zivilgesellschaft wiederum hat in dem Publizisten und Theatermacher Tuvia Tenenbom eine laute Stimme gegen all die nervenden europäischen Nörgler gefunden: die pro-palästinensischen Friedensutopisten, die scheinheiligen Menschenrechtsaktivisten, die verblendeten Israel-Korrespondenten und auch die desorientierte einheimische Linke.

Tenenboms jüngstes Buch „Allein unter Juden“, eine provokante Abrechnung mit allen Störenfrieden, steht auf Platz eins der israelischen Bestsellerlisten. Gegenüber profil bringt Tenenbom seine Position auf den Punkt: „Israelis leben in Angst. Sie haben Angst vor ihren Nachbarn, und sie fürchten die Boykotte Europas und der westlichen Welt. Sie fragen sich, warum sie mehr gehasst werden als jede andere Nation. Die Antwort der israelischen Linken ist: Israel ist schlecht, kriminell, hässlich. Und da komme plötzlich ich und sage: ‚Wisst ihr was? Ihr seid nicht so hässlich, wie ihr glaubt!‘ Das hat ihnen Erleichterung verschafft.“

Endlich traut sich jemand auszusprechen, dass die Kritik, die auf Israel niedergeht, niederen Motiven entspringt. Die Europäische Union etwa habe es darauf abgesehen, den Judenstaat zu delegitimieren, so Tenenbom: „Es gab keine palästinensische Kultur, bevor die Juden 1948 ins Land kamen. Heute gibt die EU Millionen dafür aus, um sogenanntes palästinensisches Erbe zu retten. Sie lässt einen Hamam restaurieren, nur um den Juden zu zeigen: Seht, ihr wart nicht da, sondern die Palästinenser waren hier!“

Die Restaurierung eines Hamams aus dem 14. Jahrhundert als feindlichen Akt der EU zu interpretieren, entspricht Tenenboms Logik – und der psychischen Verfasstheit vieler seiner Landsleute. Das erklärt sich zum Teil aus der Geschichte des jüdischen Staates, der von Beginn an in seiner Existenz bedroht war; und aus dem Verdacht, wer immer etwas an Israel auszusetzen hat, müsse Antisemit sein. Tuvia Tenenbom glaubt zum Beispiel einiges über die Deutschen zu wissen: „Eine Studie einer deutschen Universität hat ergeben, dass 47 Prozent der Deutschen antisemitisch sind, aber es sind meiner Meinung nach eher 80 Prozent, wobei es bei den meisten Menschen unterbewusst ist.“

Diese Erklärung macht es Israelis leicht, sich in der Isolation wohlzufühlen. Die da draußen mögen geifern und schimpfen – es sind ja doch bloß Antisemiten oder, im besten Fall, Ignoranten, die keine Ahnung von den Bedrohungen haben, denen das Land ausgesetzt ist.

Das Resultat ist ein tiefer Graben zwischen Israel und seinen (Noch-)Verbündeten. „Der Bruch“ betitelt die französische Wochenzeitschrift „Courrier International“ in ihrer aktuellen Ausgabe eine Titelgeschichte über die Beziehungen zwischen Israel und dem Westen.

Was ist da passiert?

Europa und die USA werden ungeduldig
Europa und die USA haben mit Israel die Geduld verloren. Bei ihrem ersten Treffen im Weißen Haus im Jahr 2009 verlangte US-Präsident Barack Obama von Premier Netanjahu einen Stopp des Baus von Siedlungen in den von Israel seit 1967 besetzten Gebieten im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Netanjahu ignorierte dies, die Zahl der Siedler stieg kontinuierlich weiter. Vorvergangene Woche sagte der israelische Außenminister Avigdor Liberman bei einem Treffen mit seinem deutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier, sein Land werde die Errichtung von Siedlungen nicht beenden: „Wer immer glaubt, dass die israelische Regierung dem Druck nachgeben und den Bau in Jerusalem beschränken werde, irrt.“

Der zuständige Wohnbauminister Uri Ariel schätzte den Zuwachs der Siedler in den kommenden fünf Jahren auf „50 Prozent“, das wären weitere 150.000 bis 200.000 Bewohner.

Paul Hirschson, Sprecher des israelischen Außenministeriums, klagte vergangene Woche gegenüber profil: „Die EU ist besessen von den Siedlungen.“ Nicht nur die EU: So gut wie alle Politiker außerhalb Israels sind der Ansicht, dass der Bau von Siedlungen jede Friedenslösung sabotiert. Zugespitzt hat sich der Streit wegen des Projektes in der sogenannten Zone „E1“, die Jerusalem mit dem Siedlungsblock Ma’ale Adumim verbinden und ein zusammenhängendes palästinensisches Staatsterritorium unmöglich machen würde. 2012 kündigte die Regierung Netanjahu an, 3000 Wohneinheiten in dem umstrittenen Sektor errichten zu wollen.

Ein palästinensischer Staat ist ohnehin weitgehend von der israelischen Agenda verschwunden. Anfang November veröffentlichte Wirtschaftsminister Naftali Bennett in der „New York Times“ einen Kommentar unter dem Titel „Für Israel ist eine Zweistaatenlösung keine Lösung“.

Siedlungsbau anstelle einer Zweistaatenlösung: Wie sollen die USA und Europa auf diese Politik reagieren? Sie stehen unverbrüchlich zu Israel, wenn es um Terrorbekämpfung geht, und fürchten nichts mehr als ein Aufflammen von religiösem Fanatismus. Dem Massaker in der Synagoge in Jerusalem waren bereits kleinere Anschläge vorangegangen. Jüdische Siedler hatten in der Nacht auf den 12. November eine Moschee nahe Ramallah in Brand gesteckt, in der nordisraelischen Ortschaft Shfaram warfen Unbekannte einen Molotow-Cocktail auf eine Synagoge.
Politisch jedoch wollen sich die westlichen Verbündeten nicht länger von der Regierung Netanjahu frustrieren lassen. Die USA haben schon zu viele wohlmeinende Nahostvermittler verschlissen. Der bisher letzte große Name war Senator George Mitchell, der von 2009 bis 2011 versuchte, Gewalt auf der einen Seite und Siedlungsbau auf der anderen in den Griff zu bekommen. Vergeblich.

Die EU als Zahler und Player
Auch Europa emanzipiert sich allmählich von seiner angestammten Rolle. Lange Zeit galt es als unangebracht, deutliche Kritik an Israel zu üben, wo doch Europa die Schande des Holocaust zu verantworten hat. Doch im kommenden Jahr jährt sich die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland immerhin zum 50. Mal. Die Parlamente, die nun eine Anerkennung Palästinas verlangen, sind in der Frage des Antisemitismus völlig unverdächtig. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini begründet das entschiedenere Auftreten Europas pragmatisch: „Man kann nicht Zahler sein, ohne auch ein politischer Player zu sein.“ Schließlich finanziert die EU mit viel Geld die palästinensische Autonomiebehörde, um den Lebensstandard im Westjordanland nicht ins Bodenlose abrutschen zu lassen.

Israel muss sich damit abfinden, nach den politischen Kriterien der Vernunft gemessen zu werden. Auf die Anerkennung Palästinas durch die schwedische Regierung hatte das israelische Außenministerium spöttisch gewitzelt, Nahost-Politik sei „komplizierter, als Ikea-Möbel zusammenzubauen“. Die Pointe wäre noch gelungener, wenn Israel tatsächlich dank großer Expertise erfolgreiche Friedenspolitik betriebe. Leider deutet seit Jahren nichts darauf hin.

Es besteht keine Gefahr, dass Europa unüberlegt Sanktionen gegen Israel verhängen könnte. Wahr ist aber, dass die Regierung Netanjahu zusehends isoliert ist und sich in Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit ergeht. Dieses Verhalten mache „Israel blind für Kritik, die tatsächlich gerechtfertigt ist“, fürchtet Shmuel Rosner, ein israelischer Journalist in einem Gastkommentar für die „New York Times“.

Zu glauben, dass die USA oder Europa sich darüber freuen, wenn Israel im Abseits steht, ist Unsinn. Als US-Außenminister John Kerry im vergangenen Jahr warnte, Israel drohe „weitere Isolation“, tat er das, um die israelische Regierung davon zu überzeugen, dass die Frage der Siedlungen endlich gelöst werden müsse.

Vergeblich.

Mitarbeit: Marianne Enigl und Anna Giulia Fink

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur