Glaubensfragen

Nahost-Konflikt: Die Propagandaschlacht der Argumente

Nahost-Konflikt. Über militärische Mittel hinaus liefern sich Israel und Palästina eine Propagandaschlacht

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Anna-Giulia Fink, Christina Feist

Der Krieg kommt wie das Meer - in Wellen. In regelmäßigen Abständen liefern sich Israel und Palästina bewaffnete, überaus blutige Auseinandersetzungen, insbesondere seit dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005. Deutlich länger schon, seit bald 20 Jahren, sind Hamas-Führer Khaled Meschal und Israels Premier Benjamin Netanjahu einander in erbitterter Gegnerschaft verbunden. Die handelnden Personen sind ebenso vertraut wie die Bilder, der Verlauf und die Strategien rund um die Gewaltausbrüche im Nahen Osten.

Propagandaschlacht
Die Medien sind seit jeher ein wichtiger Nebenschauplatz des Konfliktes; mittlerweile tobt die Propagandaschlacht auch im Internet, vor allem in den sozialen Netzwerken. In Europa, namentlich in Österreich und Deutschland, die eine besondere historische Verantwortung gegenüber Israel haben, kommt eine weiterer Aspekt hinzu: Die verbreitete Skepsis inbezug auf die israelische Politik wird von Antisemiten als Freibrief dafür missbraucht, ihren judenfeindlichen Ansichten ungehemmt Lauf zu lassen.

Die unterschiedlichen Konfliktebenen verunmöglichen es nahezu, einen vorurteilsfreien Blick auf die Probleme zu gewinnen, ohne gleich unwiderruflich Partei ergreifen zu müssen. Wo ist Kritik an Israel berechtigt, und wo steckt dahinter nichts als blanker Judenhass? Wann ist ein Angriff völkerrechtswidrig, wann gelten Opferzahlen als unverhältnismäßig? Eine profil-Annäherung an fünf gängige Vorwürfe.

Vorwurf 1
"Kritik an Israel ist antisemitisch“

In Paris kam es vergangene Woche zu Straßenschlachten zwischen Pro-Gaza-Demonstranten und der Polizei, in Brüssel wurden israelische Fahnen verbrannt, in Den Haag und Wien setzten Menschen den Davidstern mit dem Hakenkreuz gleich. Und im salzburgischen Bischofshofen musste ein Fußballmatch zwischen dem französischen Oberhausclub OSC Lille und dem israelischen Verein Maccabi Haifa in der 85. Minute beendet werden, nachdem Zuschauer mit palästinensischen Flaggen auf das Feld gestürmt waren und israelische Spieler angegriffen hatten.

Hat der Gaza-Krieg tatsächlich eine, wie es der Zentralrat der Juden in Deutschland formuliert, "schockierende Explosion von Antisemitismus“ ausgelöst?

Je mehr Feindseligkeit den Israelis entgegenschlägt, umso reflexartiger erheben Verteidiger den Vorwurf des Antisemitismus. Zu Recht? Nein, hält Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, gegenüber der "Zeit“ fest: "Kritik an der Politik ist nicht gleich Antisemitismus.“ Antisemitismus sei in Deutschlands Gesellschaft laut allen wissenschaftlichen Erkenntnissen ein zwar relativ konstanter, jedoch vergleichsweise unbedeutender Faktor. Zudem sind die Träger antijüdischer Aggression in Europa vor allem junge Migranten aus Nahost und Nordafrika, deren Antisemitismus für sie an einen ganz realen Konflikt geknüpft ist, anders als beim klassischen europäischen Antisemitismus. Für die autochthon-europäischen Antisemiten bietet nach Benz’ Einschätzung die Politik der israelischen Regierung einen willkommenen Anlass, ihren Ansichten zumindest vorübergehend öffentlich Ausdruck zu geben - in der Hoffnung auf das Einverständnis von Menschen, die zwar nicht antisemitisch, aber durchaus skeptisch gegenüber Israel sind. Wesentlich gefährlicher als dieser Bodensatz an Judenfeindschaft, der sich immer wieder Bahn bricht, so Benz, sei die Tatsache, dass der als Israel-Kritik getarnte Antisemitismus salonfähiger werde.

Vorwurf 2
"Israels Offensive ist allein aufgrund der ungleichen Opferbilanz unverhältnismäßig“

"Es stimmt,“ schrieb Henryk Broder in einem Beitrag für die "Jüdische Allgemeine“ von 2005: "Israel ist heute mehr Täter als Opfer. Das ist auch gut und richtig so, nachdem es die Juden fast 2000 Jahre lang mit der Rolle der ewigen Opfers versucht und dabei nur schlechte Erfahrungen gemacht haben. Täter haben meistens eine längere Lebenserwartung als Opfer, und es macht mehr Spaß, Täter als Opfer zu sein.“ Nun mag der vehemente Israel-Verteidiger Broder für seinen Hang zu äußerst provokanten Aussagen bekannt sein - trotzdem trifft der Satz zumindest im Kern einen zentralen Punkt der Debatte. Im Nahost-Krieg stehen einander zwei ungleiche Feinde gegenüber: eine hochgerüstete Militärmacht und eine deutlich unterlegene, wenn auch erstaunlich kampfstarke Guerilla-Truppe. Die Zahl der getöteten Palästinenser übersteigt inzwischen das Hundertfache der israelischen Verluste: 800 waren es Ende der vergangenen Woche, größtenteils Zivilisten, über 120 davon Kinder.

"Die asymmetrische Opferbilanz hat ihre Ursache auch darin, wie die Hamas den Konflikt austrägt“, sagt Jasper Finke, der an der Bucerius Law School in Hamburg lehrt. Menschliche Schutzschilde seien im Kriegsrecht ebenso strengstens verboten wie die Stationierung von Truppen und Waffen in Wohngebieten. Die Hamas jedoch bedrängt die eigenen Leute, "den israelischen Kampfjets mit entblößter Brust entgegenzutreten“. Daher kann laut Finke der Blutzoll von Zivilisten zu einem beträchtlichen Teil auch der Hamas zugerechnet werden.

Vorwurf 3
"Das aktuelle Vorgehen Israels in Gaza geht weit über das Recht auf Selbstverteidigung hinaus“

Das Selbstverteidigungsrecht, auf das Israel sich beruft, ist in der Charta der Vereinten Nationen verankert. Demnach hat jeder Staat "im Falle eines bewaffneten Angriffs“ das "naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ - auch gegen Terrororganisationen wie die Hamas, erläutert Hans-Joachim Heintze, der als Professor für Internationales Recht am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Universität Bochum lehrt. Allerdings handelt es sich beim Selbstverteidigungsrecht um ein sogenanntes Notrecht. Heintze: "Israel hätte nach erfolgter Selbstverteidigung umgehend den Sicherheitsrat informieren müssen. Dieser wiederum hätte zu entscheiden gehabt, ob Israel sich weiter verteidigen darf.“

Das humanitäre Völkerrecht verlangt bei Militärschlägen die Beachtung der Verhältnismäßigkeit "zwischen den eingesetzten Methoden und Mitteln und den zu erwartenden militärischen Vorteilen“, wie es im ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen heißt. Was das im konkreten Fall bedeuten soll, wird von den gegnerischen Parteien im Gaza-Konflikt mit Sicherheit jeweils anders ausgelegt.

Vorwurf 4
"Das Vorgehen im Gaza-Krieg ist nicht mit dem Völkerrecht vereinbar“

Seit dem ersten Tag des jüngsten Gaza-Konflikts ist von Rechtsverstößen die Rede. Ibrahim Kraishi, der palästinensische Vertreter im UN-Menschenrechtsrat, erklärte: "Jede einzelne Rakete, die auf Israel geschossen wird, stellt ein Verbrechen dar, egal, ob sie trifft oder danebengeht, weil sie auf zivile Ziele gerichtet ist.“ Navi Pillay, die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, äußerte kurz darauf "ernste Zweifel, ob Israels Schläge mit humanitärem Völkerrecht und internationalen Menschenrechten übereinstimmen“, und rief zu einer "unabhängigen Untersuchung“ auf.

Die israelische Armee beteuert, dass jeder militärische Schlag vorab im Hinblick auf mögliche Vorwürfe von Kriegsverbrechen juristisch geprüft werde. Zusätzlich warnt die Armee im Vorfeld von Angriffen telefonisch oder durch Warnschüsse, denn sie weiß: Wer in einem Wohngebiet militärisch operiert, der muss laut dem ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen rechtzeitig "Vorkehrungen“ treffen, um Zivilisten zu schützen und von Kämpfern zu trennen. Diese Maßnahmen aber befreien das Militär nicht von der weiteren Verantwortung. "Man muss die Menschen nicht nur dazu anhalten, ihre Häuser zu verlassen, sondern ihnen auch sagen, wo sie hingehen sollen, wo sie Schutz finden können“, sagt Völkerrechtler Heintze: "Da es aber keine Schutzräume gibt und die Israelis diesbezüglich auch nicht helfen, ist es zwar schön, dass die Zivilbevölkerung gewarnt wird, aber nicht sehr hilfreich.“

Vorwurf 5
"Auch Israel setzt sich über zivilisatorische Standards hinweg“

In Israel können einzelne Organe der Armee ausschließlich vor einem nationalen Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Das Land ist nicht Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs; es hat zwar die Genfer Konvention ratifiziert, aber einzelne Zusatzprotokolle ausgelassen; es ist nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrags, noch hat es jene Waffenkonventionen unterschrieben, die etwa den Einsatz von Anti-Personen-Minen, blindmachenden Lasern oder Cluster-Bomben verbieten.

Hinzu kommt, dass der israelische Staat seinen eigenen Gesetzen zufolge auch dann nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn im Zuge von "kriegsbezogenen Operationen“ wie auch immer geartete Schäden entstehen. "In den meisten Fällen kommt es zu keinem Verfahren“, sagt Salit Michaeli, Sprecherin der israelischen NGO B’Tselem: "Und wenn es doch eines gibt, dann dient es eher der Vertuschung der Taten.“

Und die Hamas? In ihrer Charta fordert sie die Zerstörung Israels und lehnt Friedensinitiativen als "reine Zeitverschwendung“ ab. Doch Israel ist in der stärkeren Position, und gerade in seiner Rolle als funktionierende Demokratie darf es sich nicht über zivilisatorische Standards hinwegsetzen. "Wir werden erst dann in Sicherheit leben, wenn die Palästinenser wieder Hoffnung haben“, schreibt Ami Ayalon, ehemaliger Chef des israelischen Geheimdienstes Schin Bet in der "New York Times“: "Deswegen müssen die politischen Weichen für eine Zwei-Staaten-Lösung gestellt werden - selbst wenn das heißt, dass anfangs wir uns darum kümmern müssen.“