Zwischen Ruinen und Hoffnung: Gaza in den ersten Tagen des Waffenstillstands
Die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk ist seit Donnerstag für Ärzte ohne Grenzen im Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis, im Süden von Gaza, sowie in einem anderen mobilen Krankenhaus im Norden von Gaza im Einsatz. Sie war im August zum ersten Mal dort. Im Gespräch mit profil erzählt sie von ihrer Anreise, den Tagen vor und den ersten Tagen nach Beginn des Waffenstillstands. Ihr Einsatz dauert insgesamt sechs Wochen.
Protokoll: Natalia Anders
Die Anreise
Ich bin am Donnerstagabend nach Gaza gekommen, zu dieser Zeit war von einem Waffenstillstand bereits die Rede. Ob der wirklich eintreten würde, wussten wir damals natürlich nicht, da in der Vergangenheit bereits mehrere Male davon gesprochen wurde. Ich bin zuerst nach Amman, Jordanien geflogen und von dort mit dem Bus an die jordanisch-israelische Grenze gefahren. Dort musste ich mit anderen NGO-Mitarbeitenden durch mehrere Grenzkontrollen. Danach sind wir mit dem Bus weitergefahren bis zur Grenze nach Süd-Gaza. Ab da sind wir weiter in gepanzerten Sonderfahrzeugen und mit Schusswesten und Helmen bekleidet weiter in die Stadt gefahren. Diese Strecke war die mit Abstand gefährlichste.
Am nächsten Tag wurde verkündet, dass es ab Sonntag einen Waffenstillstand geben soll. Man sah den Menschen eine große Erleichterung an, sie hatten das erste Mal seit 15 Monaten wieder Hoffnung. Diese Hoffnung war jedoch getrübt von großer Unsicherheit. Wie lange wird das alles noch weitergehen? An einen dauerhaften Waffenstillstand glaubt hier nämlich niemand mehr.
Als ich im Nasser-Spital ankam, fragte ich zuerst nach, ob meine lokalen Kollegen noch am Leben sind. Wir begrüßen uns im Krankenhaus immer zuerst mit einem: „Ich bin noch am Leben.“ Weil die Menschen in der Nacht, wenn sie ins Bett gehen, nicht wissen, ob sie am nächsten Morgen wieder aufwachen.
Die Nacht vor dem Waffenstillstand
Die Nacht auf Sonntag habe ich mit meinen Kollegen in einem „Safe Room“ verbracht. Das sind Räume, in denen Fenster verbarrikadiert und Türen nochmal extra geschützt werden. In der letzten Nacht vor dem Waffenstillstand gab es intensive Raketenangriffe.
Deshalb haben auch einige Familien unserer Arbeitskollegen bei uns übernachtet. Um halb sieben Uhr früh gab es einen heftigen Bombenanschlag, 150 Meter von unserem „Safe Room“ entfernt. Vor allem die Kinder, die diesen Zustand schon seit 15 Monaten kennen, waren in totaler Panik, es fiel uns Ärzten sehr schwer, sie zu beruhigen.
Während meiner Zeit in Gaza lebe ich – wie schon bei meinem letzten Einsatz – in einer so genannten „Safe Zone“, in der hauptsächlich Ausländer wohnen. Meine Kollegen und ich übernachten in einem Schlafsaal und teilen uns das Haus. In dieser Gegend stehen noch ein paar andere Häuser.
Besonders „safe“ war diese Zone bis vor kurzem aber nicht; bis Sonntag fielen auch hier Bomben.
Die verzögerte Freude
In den Stunden vor dem offiziellen Waffenstillstand blickten wir voller Erwartungen auf die Uhren und zählten die Minuten. Fünf Minuten, vier Minuten, drei Minuten … Dann kam plötzlich die Nachricht, dass der Waffenstillstand doch nicht stattfinden soll, weil nicht alle Namen der freizulassenden Geiseln herausgegeben wurden.
Wir dachten: „Scheiße, es geht jetzt doch weiter.“ Eine Stunde später wurde der Waffenstillstand schließlich verkündet, doch unsere Freude war verschwunden. Dass sich der Zeitpunkt verschoben hat, bestätigte, wie unsicher die Lage ist und wie schnell sich alles wieder drehen kann.
Die Tage danach
Natürlich sind die Leute wahnsinnig froh darüber, dass sie nicht mehr um ihr eigenes oder um das Leben ihrer Kinder fürchten müssen. Doch nun kommt die große Unsicherheit und alle fragen sich: Wie lange wird der Waffenstillstand anhalten? Ist es sicher genug, um nach Gaza City und nach Nord-Gaza zurückzukehren, wo viele Familie herkommen?
Manche haben Häuser, die nur zum Teil zerstört wurden und würden lieber dorthin zurückziehen, als weiterhin in Zelten zu wohnen. Viele haben aber alles verloren und stehen vor dem Nichts.
Mein lokaler Kollege aus dem Krankenhaus hat mir Fotos von seiner alten Nachbarschaft gezeigt. Auf den Fotos sieht man nur riesige Trümmerhaufen. Und eine temporäre Straße. Da, wo diese Straße jetzt ist, war damals sein Haus. Nicht einmal Trümmer sind zurückgeblieben.
Natürlich herrscht Erleichterung darüber, dass nicht mehr jeden Tag Leute sterben müssen. Aber der Waffenstillstand ist für viele zu spät gekommen, und es treffen nach wie vor zu wenige Hilfsgüter ein. 15 Monate haben wir dafür gekämpft, dass zumindest ein Minimum an Medizin und Nahrungsmitteln in den Gazastreifen gelangt. Es ist immer noch nicht genug, um alle zu versorgen. Wir haben zu wenig zu essen, es gibt zu wenig sauberes Wasser. Die Kinder können nicht zur Schule gehen. Ich habe Arbeitskollegen, die nur die Kleider besitzen, die sie tragen. Es ist so kalt, dass Kinder nachts Angst davor haben, in ihren Zelten zu erfrieren. In diesem Winter sind bereits acht Neugeborene erfroren.
Das Einzige, was sich geändert hat, ist, dass keine Bomben mehr fallen, aber das Leiden geht weiter.
Ich habe gehört, dass UN-Schätzungen zufolge kommende Woche ein Korridor nach Nord-Gaza eröffnet wird und man rechnet damit, dass ungefähr 700.000 Menschen aufbrechen werden, um in den Norden zurückzukehren. Es wird ein totales Chaos geben.
Jetzt fängt der richtige Schmerz an, weil die Menschen Zeit zum Trauern haben. Jetzt kommt die Erkenntnis, dass nichts mehr vom alten Leben da ist.
Die Arbeit im Krankenhaus
In den beiden Abteilungen (Amn.: Im Nasser-Krankenhaus in Süd-Gaza, sowie im mobilen Krankenhaus in Nord-Gaza), in denen ich arbeite, hat sich seit dem Waffenstillstand nicht besonders viel geändert. Weil es für die Menschen noch immer nicht möglich ist, von hier wegzugehen. Wir haben nach wie vor Patienten, die in der Nacht auf Sonntag verletzt und mit Schussverletzungen eingeliefert wurden. Ob es in den Spitälern in den nächsten Wochen zu etwas Entspannung kommt, wird sich zeigen. Viele werden versuchen, aus dem Land zu kommen.
Die Sorgen der Zivilisten
Rein psychologisch gesehen waren die Menschen in den vergangenen 15 Monaten im Überlebensmodus, sie waren damit beschäftigt, irgendwie durchzukommen. Mit der Waffenruhe muss man nicht mehr aktiv um sein Leben fürchten. Jetzt fängt der richtige Schmerz an, weil die Menschen Zeit zum Trauern haben. Jetzt kommt die Erkenntnis, dass nichts mehr vom alten Leben da ist.