NATO und Atomkraft: Finnland – wo alles anders ist
In Österreich beschwören alle Parteien die Neutralität, und keine befürwortet die Atomenergie. In Finnland ist es genau umgekehrt. Warum ist das so, und haben die Finnen womöglich die besseren Argumente?
Willkommen in der Welthauptstadt des Schneematschs“, sagt ein knorrig-freundlicher Mann mit tief ins Gesicht gezogener Mütze. Es ist früher Nachmittag in Helsinki, und der weiße Boden strahlt deutlich heller als der Himmel. Gegen 15 Uhr geht hier im Winter die Sonne unter. Dieses Faktum ist nicht nur für Touristen von Bedeutung, die pflichtbewusst Sehenswürdigkeiten ablichten. Die lange Dunkelheit kann sich auch auf das Gemüt der Leute schlagen, jedenfalls aber auf den Energiehaushalt des Landes. Aber dazu später.
Für Österreicher hält Finnland eine Sehenswürdigkeit bereit, die man erst bei näherem Hinsehen, in Gesprächen und Diskussionen erkennt. Dann jedoch kommt man aus dem Staunen nicht heraus. In zwei der wichtigsten Fragen unserer Zeit trifft Finnland Entscheidungen, die denen Österreichs diametral entgegengesetzt sind: in der Sicherheitspolitik und beim Klimaschutz.
Betrachten wir zunächst die Sicherheit. Finnland war ebenso wie Österreich ein neutraler Staat. Bis Finnland am 17. Mai 2022 offiziell ein Beitrittsgesuch an die NATO richtete und nicht ganz ein Jahr später, am 4. April 2023, Mitglied des westlichen Militärbündnisses wurde. Die erforderliche Zustimmung im finnischen Parlament fiel überwältigend aus: 184 Abgeordnete stimmten mit Ja, nur sieben mit Nein. Alle großen Parteien – Sozialdemokraten, Konservative, Liberale, Grüne – befürworteten den Beitritt, dagegen stimmten nur Mandatare der Linksallianz und der einzige Vertreter der rechtsextremen Partei „Alle Macht dem Volke“.
Haben wir unrecht?
In Österreich würde eine Abstimmung über einen NATO-Beitritt ziemlich genau spiegelverkehrt ausgehen. Hier gilt die Neutralität als Sicherheitsgarantie und ein NATO-Beitritt als Kriegserklärung an die eigene Bevölkerung. In Finnland hingegen war es das Gefühl der Unsicherheit, das die Bevölkerung dazu brachte, die Neutralität aufzugeben.
Die Finninnen und Finnen erklären ihre Position in der ihnen eigenen, zurückhaltenden Art, freundlich lächelnd, aber bestimmt. Sodass man gezwungen ist, sich zu fragen: Kann es sein, dass sie recht haben und wir in Österreich unrecht?
Der Trip nach Finnland gerät zu einer Reise zu den Zweifeln an den eigenen Positionen.
Das finnische Außenministerium in Helsinki ist ein Ensemble gelb gestrichener Bauten im historistischen Stil, mit weißen Säulen und Giebeldächern, direkt am Wasser gelegen. Drinnen erklärt Petteri Korvala, ein hoher Beamter, worauf das Fundament der finnischen Sicherheitspolitik einst gründete: eine eigene, starke Verteidigungskraft; ein Netzwerk aus Abkommen mit befreundeten Staaten; pragmatische Beziehungen mit den Nachbarn im Osten – gemeint ist Russland.
„Doch das war in einer Nacht dahin.“ Genauer gesagt in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022, als die russische Invasion in der Ukraine begann.
Finnland denkt um
Zu diesem Zeitpunkt ist Sanna Marin, eine Sozialdemokratin, Finnlands Ministerpräsidentin, und Sauli Niinistö, ein Konservativer, Staatspräsident. Die Stimmung in politischen Kreisen unterscheidet sich kaum von der innerhalb der Öffentlichkeit: Russlands Staatspräsident hat die neutrale Ukraine angegriffen, also bleibt Finnland nichts anderes übrig, als sein Sicherheitskonzept radikal zu überdenken. Vor allem Putins Formulierung, wonach Russlands Nachbarn nicht das Recht hätten, über ihre Sicherheit nach Belieben zu bestimmen, ließ in Finnland alle Alarmglocken schrillen.
Aber ist Finnlands Situation überhaupt mit der Österreichs vergleichbar? Finnlands Grenze zu Russland erstreckt sich über eine Länge von rund 1300 Kilometern, Österreich hingegen liegt fernab der Russischen Föderation und ist von NATO-Staaten umgeben. Allerdings: Wenn die Neutralität vor Aggressionen schützt, weshalb macht die Entfernung dabei einen Unterschied? Zudem braucht es keine gemeinsame Grenze, um Opfer von russischen Attacken zu werden. Finnland verzeichnet russische Angriffe und Störmanöver im Cyberbereich und auch im hybriden Raum, etwa in den sozialen Medien.
Die finnische Sozialdemokratie hatte lange Zeit Vorbehalte gegenüber einem NATO-Beitritt gehegt. Nach dem 24. Februar 2022 waren sie verschwunden. Staatspräsident Niinistö wiederum warb seit Jahrzehnten für einen NATO-Beitritt seines Landes. Der heute 76-Jährige wurde im Mai des vergangenen Jahres, kurz nach dem Ende seiner Präsidentschaft, von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beauftragt, einen Bericht über die Widerstandskraft Europas gegenüber konventionellen militärischen Angriffen ebenso wie Cyber-Attacken und hybriden Kampagnen zu erstellen.
Eine Zivilschutzbeamtin zeigt die Feldbetten in einem Bunker unter der Hauptstadt Helsinki.
Jetzt nippt er in einem Besprechungszimmer des Außenministeriums an seinem Kaffee und räsoniert über die Sicherheit Europas. Die Europäische Union sei in dieser Frage erfolgreich, sagt er, „aber vielleicht zu erfolgreich. Die Menschen halten Sicherheit für etwas Selbstverständliches.“ Gegen diese Sorglosigkeit kämpft Niinistö an. So wie es einen „gemeinsamen Markt“ der EU gebe, müsse es auch eine „gemeinsame Sicherheit“ geben. Niinistö kennt Putin von mehreren Begegnungen. „Putin denkt, wir Europäer seien schwach“, sagt er, „wir müssen ihm zeigen, dass wir stark sind. Nicht um Krieg zu führen, sondern um einen Krieg zu verhindern.“ Tatsächlich neutral sei Finnland seit dem EU-Beitritt nicht mehr gewesen, sagt Niinistö: „Wir haben uns damals ausgesucht, wer unsere Freunde sind.“ Das war am 1. Jänner 1995, am selben Tag, als auch Österreich Mitglied der Europäischen Union wurde.
Finnland ist nicht bloß aus Sorge um seine eigene Sicherheit Mitglied der NATO geworden. „Wir wollen zeigen, dass wir etwas zur europäischen Sicherheit beitragen können, nicht nur von der Beistandsklausel profitieren“, sagt General Markku Viitasaari, Direktor des Nationalen Verteidigungsreferats, stolz. Das ist nicht nur so dahingesagt, es entspricht auch der Stimmung im Land. Jedes Jahr wird der Wille der Bevölkerung, das eigene Land zu verteidigen, in einer repräsentativen Umfrage erhoben. Nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine stieg der Wert von rund 70 Prozent in den Jahren davor auf 83 Prozent und sank im vergangenen Jahr auf immer noch beträchtliche 78 Prozent. Das ist ein Element des finnischen Konzepts der umfassenden Landesverteidigung.
Überraschender noch ist der Prozentsatz der Zustimmung auf die Frage, ob finnische Truppen im Bündnisfall ein anderes NATO-Land verteidigen sollten: 69 Prozent antworten mit Ja.
Auch Rechtspopulisten sagen Ja
Gibt es in Finnland keine rechtspopulistische Partei vom Schlag der FPÖ, die gegen die Unterstützung der Ukraine agitiert, russlandfreundlich ist und die NATO verteufelt? Überraschenderweise nicht. Jussi Halla-aho, Parlamentspräsident und Mitglied der rechtspopulistischen Partei „Die Finnen“, verlangt ganz im Gegenteil, dass die Verteidigung der Ukraine eine höhere politische Priorität bekommen müsste, und warnt davor, dass ein Sieg Russlands „die größte Gefahr“ wäre.
Finnland schlüpft nicht ängstlich unter den Schirm der NATO, es meint es ernst mit der gemeinsamen Verteidigung. Anders als andere Staaten hat es auch in der Vergangenheit nie die Rüstungsausgaben vernachlässigt. 2021 beschloss die Regierung den Kauf von 64 Kampfflugzeugen des Typs Lockheed F-35 um mehr als neun Milliarden Euro. Die Verteidigungsausgaben liegen derzeit bei rund 2,5 Prozent des BIP. In Österreich sind es rund 0,8 Prozent.
Das ausgeprägte Bewusstsein, wie wichtig die Abwehr äußerer Gefahren ist, hat seinen Ursprung auch in der Geschichte Finnlands. Das Land war Teil Schwedens und später, bis 1917, Teil des Russischen Reiches. Etwas mehr als 100 Jahre Unabhängigkeit reichen nicht aus, um diese Erinnerung auszulöschen.
Draußen vor dem Ministerium liegen mehrere große Schiffe vor Anker. Jedes von ihnen hat an Land einen eigenen Briefkasten. Sie heißen „Voima“, „JM Sisu“ oder „Polaris“. Es sind Eisbrecher, die im Winter die Seewege freimachen. Der Klimawandel sorgt paradoxerweise durch stärkere Winde für dickere Eisdecken, die bis zu 15 Meter in die Tiefe reichen. Ein moderner Eisbrecher kostet 120 Millionen Euro und verfügt über eine Kraft von 25.000 Pferdestärken. Die Schiffe gehören einem privaten Unternehmen, das im staatlichen Auftrag unterwegs ist. 90 Prozent der Importe und Exporte werden über die Seewege bewerkstelligt. Diese sicher und eisfrei zu halten, ist eine Überlebensfrage. Finnland versteht sich in dieser Hinsicht als Insel, aber nicht als eine Insel der Seligen.
An Deck der „Polaris“ bläst der kalte Wind, aber in diesem Jahr ist zumindest das Meer vor Helsinki bisher eisfrei.
Die Finnen sind stolz darauf, auf Gefahren und Krisen vorbereitet zu sein. Die Bedingungen hier oben im Norden machen es notwendig, dass die Menschen als Gemeinschaft handeln. Jeder für sich allein wäre in vielen Situationen aufgeschmissen. Vielleicht ist das Vertrauen in die staatlichen Institutionen in Finnland deshalb noch höher als in anderen europäischen Ländern.
Tief unterhalb der Hauptstadt Helsinki, erreichbar mit Aufzügen, befinden sich Zivilschutzräume für bis zu 900.000 Menschen. Die Stadt hat zwar nur rund 700.000 Bewohner, doch die Bunker sollen im Katastrophenfall auch Menschen aufnehmen können, die sich aus anderen Gründen gerade hier aufhalten.
Lange Gänge führen zu großen Hallen, die als Indoor-Freizeitstätten genutzt werden. Hier wird Landhockey gespielt, Kinder toben über Klettergerüste. Zwei Angestellte in Uniformen führen vor, wie es hier im Ernstfall aussähe. Sie stellen mit wenigen Handgriffen Stockbetten auf, die in Containern gelagert sind. Die Luft wird gefiltert, Toiletten sind ausreichend vorhanden, Lebensmittel auch, die Eingänge sind mit schweren Metalltüren verschließbar.
Niemand wünscht sich, eines Tages in einem Bunker ausharren zu müssen, aber falls doch, wäre Finnland wohl eine der empfehlenswerteren Destinationen.
Atomenergie und Klimaschutz
In politischen Fragen denken die Finnen auf bemerkenswerte Weise pragmatisch. Atte Harjanne ist dafür ein gutes Beispiel, und damit kommen wir zum zweiten Thema, bei dem Finnland konträr zu Österreich agiert: dem Klimaschutz.
Harjanne ist 39 Jahre alt, hat ein Ingenieurstudium absolviert und begann danach, die sozialen Folgen des Klimawandels zu erforschen. So verschlug es ihn zur Partei der Grünen. Mittlerweile ist er deren Fraktionsvorsitzender im finnischen Parlament. Das klingt nach einem nicht untypischen Lebenslauf für einen Grünen-Politiker. Sobald Harjanne jedoch über Klimaschutz zu sprechen beginnt, klingt er plötzlich gar nicht mehr wie ein Grüner. „Ich unterstütze die Atomenergie“, sagt er lächelnd, denn er weiß, dass er mit dieser Aussage außerhalb Finnlands ungläubige Blicke erntet: „Atomenergie ist ein wesentliches Instrument, um den Klimawandel zu bekämpfen. Alle Szenarien des Weltklimarats, bei denen die Erderwärmung auf ungefähr 1,5 Grad Celsius begrenzt wird, beinhalten den Ausbau der Atomenergie.“
Das ist bei Harjanne kein theoretisches Gerede, sondern angewandte Klimapolitik. Die finnischen Grünen unterstützen, ebenso wie Sozialdemokraten, Konservative, Liberale und Rechtspopulisten, den Ausbau der Atomkraft. Derzeit produzieren fünf Atomreaktoren mehr als ein Drittel des Stroms, zudem läuft im Südwesten des Landes das erste permanente Atommüllendlager der Welt im Testbetrieb. Es geht noch weiter: Weil Finnland im Jahr 2035 CO2-neutral werden möchte, sind weitere Atomkraftwerke geplant, und zwar auch in Form von kleinen Reaktoren, die Energie zur Beheizung von Städten erzeugen sollen, so auch in Helsinki. Solche Überlegungen werden etwa im städtischen Energieunternehmen Helen gewälzt. Dessen Aufsichtsratsvorsitzender heißt Atte Harjanne.
Es ist nicht so, dass sich finnische Klimapolitik im Bau von Atommeilern erschöpft. Auch Windkraftwerke und Solaranlagen werden errichtet. Allerdings braucht es etwa zum Heizen im kalten finnischen Winter eine verlässlich große Menge an Energie. Der Wind bläst nicht immer, und die Tage sind wie erwähnt sehr kurz. Ganz im Norden dauert die längste Winternacht 51 Tage.
Die Kälte des finnischen Winters fördert klares Denken, heißt es. Zu Hause in Österreich wird man angesichts der Argumente der Finnen für den Beitritt zur NATO und den Ausbau der Atomkraft wohl dennoch verständnislos den Kopf schütteln, verrate ich meinen Gesprächspartnern. Sie lächeln freundlich.
Die Kosten für eine Recherchereise nach Finnland für diesen Artikel wurden vom finnischen Außenministerium getragen.