Adieu, Madiba

Nelson Mandela: Adieu, Madiba

Nachruf. In memoriam Nelson Mandela

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Eine der Lieblingsgeschichten von Nelson Mandela geht so: Bei einem Spaziergang auf den Bahamas sei er vor Jahren einem älteren Ehepaar begegnet. Der Mann habe ihn sofort erkannt, die Frau hingegen wusste nichts mit ihm anzufangen. Wer dieser Herr denn sei, fragte sie ihren Gatten. Und als dieser dann peinlich berührt herumzustottern begann, wandte sie sich direkt an den Fremden: „Wofür sind Sie denn berühmt?“
Darauf, so Mandela lachend, habe er auch keine Antwort gewusst.
Tatsächlich legte Nelson Mandela nie seine Verwunderung darüber ab, in welchem Maß er bereits zu Lebzeiten zum globalen Mythos und Superstar geworden war. Wann immer er anlässlich eines Geburtstages, eines zu seinen Ehren veranstalteten Rockkonzertes oder eines Staatsbesuchs in fernen Ländern mit nicht enden wollendem Applaus gefeiert wurde, war seinem verzückten Lächeln anzusehen, wie überrascht er von dem ganzen Jubel war – als ob das alles gar nicht ihm, sondern einem hoch über ihm schwebenden Alter Ego gelte.

Mandelas Popularität war – vor allem in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens – nicht mehr zu überbieten: Das US-Magazin „Time“ kürte ihn zum „Mann des Jahrhunderts“; Staatsmänner, Königinnen und Popstars standen Schlange, um sich in seinem Glanz fotografieren zu lassen; Sportler schauten gern bei „Madiba“, wie der Landesvater respektvoll unter seinem Clan-Namen genannt wurde, vorbei, bevor sie zu internationalen Wettkämpfen aufbrachen.

Und als sich sein gesundheitlicher Zustand im vergangenen Juni so weit verschlechterte, dass sein Ableben nur noch eine Frage von Tagen zu sein schien, versammelten sich tausende Menschen vor dem Spital, in dem er behandelt wurde. Von dieser Krise hat er sich nie mehr erholt: Darüber konnte auch nicht hinwegtäuschen, dass er Anfang September aus der Klinik nach Hause gebracht wurde, um dort medizinisch weiterbetreut zu werden. Die inoffizielle Staatstrauer um Nelson Mandela hatte also längst begonnen, als er am vergangenen Donnerstag Abend in seinem Anwesen in Johannesburg starb.

Das, was die Südafrikaner „Madiba Magic“ nennen, bleibt aber auch nach seinem Tod wirksam: Mandelas Zauber, der selbst einstige Feinde in seinen Bann schlug. Sogar weiße Rassenfanatiker pflegten ihre Hasstiraden auf den das Land angeblich in den Ruin treibenden „schwarzen“ Afrikanischen Nationalkongress (ANC) gewöhnlich mit einer einschränkenden Bemerkung zu unterbrechen: „Nur Mandela ist anders.“

„How are you?“
Worauf diese Andersartigkeit beruhte, beschäftigte zahlreiche Biografen, die in diesem Zusammenhang auf die Herzlichkeit und persönliche Wärme des Idols zu verweisen pflegen. Ein strahlendes Lächeln, ein fester Händedruck und das obligatorische „How are you?“: Wie kein anderer Prominenter wusste Mandela jedem Gesprächspartner, egal welchen Ranges, den Eindruck zu vermitteln, ehrlich wahr- und ernstgenommen zu werden.

Mandela sei der „Inbegriff all jener Instinkte, die wir mit unserer Kindheit verbinden: Vertrauen, Gutherzigkeit und Optimismus“, sagt der südafrikanische Autor Mark Gevisser: „Die Welt fühlte sich sicher bei ihm, denn in Mandela hatte sie den idealen Vater gefunden.“
Diese Väterlichkeit musste sich Rolihlahla („der Unruhestifter“, wie ihn seine Eltern ursprünglich nannten) erst erwerben: Als junger Mann war Nelson ein Feuerbrand und ziemlich arrogant. Diesen Fehler legte er später ab – die ihm eigene Würde, die er bereits in seiner Kindheit und Jugend ausstrahlte, behielt er hingegen bei. Sie schützte ihn in 27 Gefängnisjahren vor zahllosen Erniedrigungen.

Geboren wurde Mandela am 18. Juli 1918 in Mvezo, einem winzigen Dorf in der abgeschiedenen Transkei, als Häuptlingssohn. Nach dem frühen Tod seines Vaters nahm ihn dessen Vetter, der König der Tembu, in den Regenten-Kraal auf. „Mandelas Würde hatte nie etwas Aufgesetztes an sich“, meint der südafrikanische Publizist Allister Sparks: „Das hängt gewiss damit zusammen, dass er von einem König großgezogen wurde.“ Das strahlte später selbst auf seine Häftlingswärter aus. Schon bei der ersten Begegnung auf der Gefängnisinsel Robben Island habe er ihn nicht als Häftling, sondern automatisch als Respektsperson angesprochen, erzählt Mandelas einstiger Aufseher James Gregory: „Es gibt Menschen, da kann man gar nicht anders.“

Der Häuptlingssohn brachte noch etwas anderes aus seiner Jugend mit: einen kaum zu widerstehenden Charme. Mandela liebte Frauen und trainierte bereits als Junge im königlichen Kraal, einer militärischen Einrichtung zum Schutz des Herrschers, was später in der Politik eine seiner nützlichsten Eigenschaften werden sollte: die Kunst der Verführung. Kenner des südafrikanischen Transformationsprozesses sind davon überzeugt, dass die verängstigte weiße Minderheit der Abschaffung der Apartheid, dem Verlust ihrer Privilegien und dem Regenbogenstaat niemals zugestimmt hätte, wäre sie nicht von Mandelas Charisma überwältigt worden. „Nie wieder ist mir ein Mensch begegnet, der Charme, Standfestigkeit und Einfühlungsvermögen auf so überzeugende Weise verband“, sagt die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer.
Schon vor seiner Verhaftung 1962 war Nelson Mandela einer der wichtigsten politischen Führer seines Landes: Als militanter Chef der Jugendliga des ANC steuerte der „Terrorist“ (Margaret Thatcher) die bis dahin eher behäbige Organisation des schwarzen Mittelstands in den bewaffneten Kampf und baute deren „Armee“, den „Speer der Nation“, auf – ein Pazifist war Mandela entgegen der landläufigen Auffassung nie.
Das eigentliche historische Verdienst des Befreiungsführers sollte aber erst in den Jahren nach dem 11. Februar 1990 wirksam werden, als der großgewachsene Mann mit erhobener Faust an der Seite seiner Ex-Frau Winnie vor unzähligen Kameras aus aller Welt aus dem Victor-Verster-Gefängnis bei Kapstadt schritt – die Bilder der Freilassung gehören mittlerweile zu den Ikonen der Weltgeschichte. Damals wusste niemand, was von dem in 27 Jahren der Versenkung gesichtslos gewordenen Helden zu erwarten war: Der um die Blüte seines Lebens gebrachte Ex-Gefangene hätte sehr wohl verbittert die Saat vernichten können, die mit der viel zu späten Einsicht der weißen Minderheitsregierung damals endlich ausgebracht wurde.

Was jedoch folgte, war das „Wunder vom Kap“. Statt die verängstigten Weißen in die Ecke zu drängen, suchte der ANC-Chef seine Kerkermeister für die Vision der Regenbogennation zu gewinnen: Er wusste, dass das Experiment des Multikulti-Staats nur unter Beteiligung der wirtschaftlich dominanten Minderheit gelingen konnte. Auf die Frage, warum er nach 27 Jahren der Erniedrigung weder Bitterkeit noch Rachegelüste empfunden habe, antwortete Mandela: „Verbitterung ist wie Gift trinken und erwarten, dass dein Feind davon stirbt.“

Die weißen Rassisten hätten ihm alles genommen, führte Mandela gegenüber seinem Freund Bill Clinton weiter aus: „Die besten Jahre meines Lebens, meine Frau und meine Kinder. Das Einzige, was sie mir nicht nehmen konnten, waren mein Verstand und mein Herz. Hätte ich ihnen nicht vergeben, dann hätten sie auch das bekommen.“
Leiden könne bei einem Menschen zwei Dinge auslösen, meint Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu: „Es kann einen verbittern – oder es brennt die verhärtende Schlacke ab. Es kann einen Menschen stark und gleichzeitig sanft und einfühlsam machen. So ist es zweifellos mit Nelson geschehen.“

Die Sprache der Gefängniswärter
Mandelas Einsicht, den Feind, wenn auch nicht unbedingt lieben, so doch mindestens verstehen zu müssen, hatte sich bereits in den Gefängnisjahren angebahnt und war eher kühlem Kalkül als moralischen Grundsätzen geschuldet. Aus ­purem Selbsterhaltungstrieb lernte Häftling Nummer 46664 Afrikaans, die Sprache der Gefängniswärter, und machte sich einige der Schließer zu regelrechten Vertrauten. Noch im Gefängnis begannen auch die ersten Gespräche mit höchsten Vertretern des Apartheid-Regimes, die Mandela ganz im Geheimen führte. Nicht einmal seine besten Freunde weihte er ein. Er riskierte damit, von seiner eigenen Organisation als Verräter abgestempelt zu werden.
Auch später stand Mandela, der durchaus autokratische Züge zeigte und ausgesprochen stur sein konnte, immer wieder allein auf weiter Flur, etwa als er im zweiten Jahr seiner Regierungszeit beim Rugby-Weltcup mit aller Kraft und allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die unter schwarzen Südafrikanern verhassten, fast ausschließlich weißen „Springböcke“ anfeuerte. Mandelas riskantes Kalkül ging auf, wie Clint Eastwoods Film „Invictus“ auf mitreißende Weise nachvollzog: Der Weltmeistertitel der „Springböcke“ wurde zur Geburtsstunde der Regenbogennation. Nur noch wenige ganz verbohrte Weiße wünschen sich heute den Apartheidstaat zurück.

Nach seinem Abgang als Präsident wurde Mandela endgültig in den Olymp erhoben. Seither galt der Elder Statesman als Personifizierung des sauberen Politikers und Inbegriff des progressiven Reformers, der das Gute im Menschen zur Entfaltung brachte und nicht wie viele andere in seinem Metier an die niederen Instinkte kleinkarierter, neidischer und ängstlicher Wähler appellierte.

Ausgerechnet ein Sohn des afrikanischen Kummerkontinents wurde auf diese Weise zum humanistischen Schutzpatron des Guten: der Macht der Versöhnung, dem Respekt vor den anderen, dem Fortschritt als Traum der Menschheit.

Unter Marketingexperten gilt Mandela als perfekte „Marke“: Sein Name wird im Bewusstsein der Menschen instinktiv mit einem ganzen Bündel positiver Werte wie Integrität, Großherzigkeit und Bescheidenheit verknüpft. „Mandela ist wie ein Coca-Cola-Emblem“, sagt die Kapstädter Künstlerin Janet Wilson: „Er ist Teil unserer Alltagskultur geworden.“
Als Agnostiker war Mandela seine Heiligsprechung allerdings immer suspekt. „Mich beunruhigt der Eindruck, dass ich ein Halbgott sei“, klagte er einmal: „Ich will wie jeder andere Mensch behandelt werden – mit meinen Tugenden und Lastern.“
Wie Biograf David Smith schreibt, war der junge Nelson als Jus-Student und in seinen politischen Anfangsjahren tatsächlich alles andere als tadellos: Seine erste Ehefrau Evelyn soll er etwa verprügelt haben. Und auch als Präsident war Mandela keineswegs ohne Makel: Am verhängnisvollsten wirkte sich seine ursprüngliche Ignoranz gegenüber der Aids-Pandemie aus. „Ich wollte die Wahlen gewinnen und habe deshalb nicht über Aids gesprochen“, bereute Mandela später das Versäumnis, das viele Südafrikaner mit dem Leben bezahlten.

Nach Mandelas Präsidentschaft ging es kontinuierlich bergab mit dem Land. Unter Thabo Mbekis Aids-Politik wurde Südafrika zum Gespött der Welt, unter Jacob Zuma verlor der regierende ANC den letzten Rest seiner Integrität. Das Kap der Guten Hoffnung wurde von Skandalen und Krisen erschüttert. Inzwischen ist aus dem Regenbogenstaat eine Gewitternation geworden. Die Südafrikaner mussten sich daran gewöhnen, ohne die Weisheit ihres Gründervaters auszukommen: Der immer gebrechlicher werdende Madiba nahm zu aktuellen Ereignissen keine Stellung mehr. Trotzdem ist der Johannesburger Publizist Mondli Makhanya davon überzeugt, dass Mandelas Tod die labile Nation noch zusätzlich belasten wird: „Es ist die Idee Nelson Mandela, die Südafrika verbindet. Jetzt fürchten wir uns alle vor der Frage, wer uns zusammenhalten kann.“
Aus dieser Notlage hilft den Südafrikanern auch nicht, dass Mandela selbst seinem Tod schon seit Langem mit jener Eigenschaft entgegensah, für die er, abgesehen von seinem Charme, seiner Würde und menschlichen Wärme, ebenfalls berühmt war: seinem Humor. Sollte er am Himmelstor abgewiesen werden, werde er einfach seinen ANC-Mitgliedsausweis vorzeigen, witzelte er einmal.