Neue Gewaltwelle in Israel: Scharfe Kritik an Palästinenser-Führung
Interview: Otmar Lahodynsky, Tel Aviv
Seit Anfang Oktober sind bei einer neuen Gewaltwelle bereits 27 Israelis und rund 170 Palästinenser getötet worden. Bisher griffen Palästinenser jedoch fast nur mit Messern an. profil sprach mit Yair Lapid, einem führenden israelischen Oppositionspolitiker, über die Frage, ob dies bereits eine dritte Intifada darstellt.
profil: Sie haben die Reaktionen auf die jüngsten Attentate von Palästinensern in Israel und auf der Westbank kritisiert. Die Welt kümmere sich nicht mehr darum. Yair Lapid: Erst kürzlich ist die schwangere Frau eines Freundes in einem Kleidungsgeschäft niedergestochen worden. Zum Glück hat sie überlebt. Aber warum regt sich niemand mehr außerhalb von Israel darüber auf, wenn wie vorigen Monat eine sechsfache israelische Mutter von einem jungen Palästinenser vor ihrer Haustüre erstochen wird? Es heißt dann immer, man müsse die tragische Lebenssituation der Palästinenser berücksichtigen, also werden Opfer und Attentäter auf eine Stufe gestellt. Das ist eine fundamentale Ungerechtigkeit.
profil: Gestern haben drei palästinensische Attentäter in Jerusalem bei einer Straßensperre eine israelische Polizistin getötet, ehe sie selbst erschossen wurden. Lapid: Und am selben Tag, an dem Hadar Cohen ermordet wurde, lädt der Präsident der Palästinensischen Behörde, Abu Mazen (Mahmoud Abbas) die Familien der Terroristen in sein Büro in Ramallah ein. Stellen Sie sich vor, Israels Premierminister würde die Familien der Duma-Mörder (Jüdische Rechtsextremisten ermordeten in Duma eine palästinensische Familie, Anm.) zu sich einladen. Da würde ein Aufschrei durch die ganze Welt gehen, und voll zu recht.
profil: Die Verzweiflung unter Palästinensern, also auch unter israelischen Arabern, muss aber groß sein, wenn sie solche Taten begehen. Lapid: Wir haben diesen Terror nicht initiiert. Die jungen Leute werden oft durch Hassprediger in den Moscheen dazu angestiftet. Der fundamentalistische Islam, dem jetzt auch Europa ausgesetzt ist, ist dafür verantwortlich. Worte haben kein Problem, Grenzen zu überschreiten. Europa und die USA haben geglaubt, man könne den islamistischen Terror hier im Nahen Osten gleichsam einschließen- also auf Syrien, den Irak oder auch auf die Westbank und Gaza beschränken. Jetzt sehen alle, dass dies nicht funktioniert. Terror kennt keine Grenzen. Und er spaltet die Welt in zwei Hälften: Es gibt die Angreifer und die Opfer. Wenn 130 Menschen in Paris von Islamisten ermordet werden, dann sollten wir nicht eine Diskussion darüber starten, wie schlecht sich die Angreifer fühlten oder wie sehr sie unterdrückt wurden. Es handelt sich um Terror gegen die zivilisierte Welt.
profil: Aber hat der Terror hier in Israel doch auch damit zu tun, dass der Friedensprozess zum Erliegen gekommen ist? Auch der frühere israelische Präsident Schimon Peres erklärte, man müsse auch die Motive der jungen Attentäter berücksichtigen. Lapid: Natürlich müssen wir auf der politischen Seite aktiv werden. Ich bin überdies noch immer für die Zwei-Staaten-Lösung. Aber auf der Welt gibt es Millionen von Menschen, die in viel schlechteren Umständen leben müssen als die Palästinenser auf der Westbank. Und die glauben nicht, dass ihnen erlaubt ist, schwangere Frauen zu erstechen. Die EU hat in den vergangenen Jahren Millionen an die palästinensische Behörde bezahlt. Man soll die Lage der Palästinenser verbessern. Aber es darf keine Rechtfertigung für diese feigen Attentate geben, denen Israel in den vergangenen Monaten ausgesetzt war.
profil: Einige der Attentäter waren israelische Araber. Ist das eine bedrohliche Entwicklung? Lapid: Ja, das ist es. Es gibt auch eine neue Art der Anstiftung über soziale Netzwerke. Manche Attentäter waren auch israelische Staatbürger. Sie lebten in einer freien Gesellschaft. Sie profitierten von sozialer Unterstützung. Sie konnten wählen. Sie gehörten teilweise der Mittelschicht an. Aber trotzdem haben sie unschuldige Menschen getötet oder hatten zumindest die Absicht dazu.
profil: Es gibt auch Terroristen unter Israelis, etwa unter der sogenannten „Hill-Youth“, die palästinensische Zivilisten ermordeten. Lapid: Ja, aber in Israel werden diese Leute vor Gericht gestellt und verurteilt. Es gibt keinerlei Glorifizierung dieser Taten wie auf der palästinensischen Seite. Wenn ein Palästinenser Juden umbringt, werden Plätze und Schulen nach ihm benannt. Er wird als Märtyrer gefeiert, auch vom Präsidenten der palästinensischen Behörde, und seine Familie bekommt viel Geld. Wenn ein Jude einen Palästinenser ermordet, was einmal alle drei oder vier Jahre vorkommt, dann wird das praktisch von allen Israelis verurteilt, und die israelischen Politiker entschuldigen sich für diesen Terror. Die jüdischen Attentäter werden auch verurteilt – hoffentlich wieder zu lebenslanger Haft. Das macht schon einen Unterschied. Die Stärke Israels kommt auch davon, dass wir ein Land mit Grundwerten sind.
profil: Wie weit ist die aktuelle Regierung für den Stillstand der Verhandlungen mit den Palästinensern verantwortlich? Lapid: Ich bin in Opposition, aber ich habe es zu einer Regel gemacht, gegenüber ausländischen Medien die israelische Regierung nicht zu kritisieren. Dass ich diese Regierung kritisch sehe, ist klar, sonst würde ich ihr angehören. Ich hatte genügend Angebote.
profil: Ist es nicht seltsam, dass es noch immer keinen Außenminister gibt, und Premier Netanyahu auch diese Funktion übernahm? Lapid: Ja, das ist es, und ich habe dies schon oft kritisiert. Aber insgesamt ändert sich die Außenpolitik. Früher war etwa die österreichische Botschaft in Tel Aviv so etwas wie eine Außenstelle der österreichischen Regierung. Jetzt gibt es viel mehr direkte Kontakte. Es geht jetzt mehr um Sachfragen wie den Austausch von Informationen im Kampf gegen Terrorismus. Außenpolitik ist auch wichtiger für die Beziehungen mit Staaten, die nicht demokratisch sind.
profil: Was halten Sie vom Atom-Abkommen mit dem Iran? Lapid: Ich halte es für einen schlechten Deal. Die Überwachung der atomaren Kapazitäten ist lächerlich. Und die Iraner werden dazu weiterhin lügen. Und es gibt wenig Möglichkeiten, auf einen Bruch der Vereinbarung zu reagieren. Es wird nicht sofort harte Sanktionen geben. Iran wird durch dieses Abkommen nicht koscher werden. Dieses Land ist der größte Sponsor von Terror auf der Welt. Iran destabilisiert den Nahen Osten absichtlich. Iran ist auch das einzige Uno-Mitglied, das offen zur Zerstörung eines anderen Uno-Mitglieds, nämlich Israel, aufruft. Und jetzt sind alle so froh über das Abkommen, weil damit auch Geschäfte wieder möglich werden. Jetzt kümmert es niemanden, dass im Iran nach China die meisten Hinrichtungen stattfinden. Aber in China sind es Kriminelle, während man im Iran schon exekutiert wird, wenn man schwul ist, oder irgendwelche religiöse Regeln nicht einhält. Und dazu schweigt die Welt. Für Israel wird es gefährlich, weil der Iran jetzt mehr Geld ausgeben wird, um Terrorgruppen wie Hisbollah im Libanon oder Hamas im Gaza-Streifen zu unterstützen.
profil: Wie sehen Sie die Zukunft des „Islamischen Staates“? Lapid: Der IS bleibt weiter eine Bedrohung für die Welt und für Israel. Für uns ist die IS auf der Sinai-Halbinsel auch wegen ihrer Kontakte mit Hamas gefährlich. Und der IS in Syrien hat ja erklärt, dass Israel zu seinen Lieblingszielen gehört.
profil: Sehen Sie eine Chance für ein Ende des Bürgerkriegs in Syrien? Lapid: Im Jahr 2011 war ich noch TV-Kommentator. Und ich erinnere mich an Aussagen von Nahost-Experten, die sagten, dass der Krieg nur mehr drei Monate dauern wird und Assad gestürzt werden wird. Jetzt haben wir 2016, und es gibt keine Aussicht auf Frieden.
profil: Also wird auch der Flüchtlingsstrom nach Europa anhalten? Lapid: Für Europa stellt sich eine Grundfrage: Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wird Europa mit der Frage konfrontiert, wieweit es seine Grundwerte beibehalten kann. Wenn es diese nicht mehr einhält, dann wird sich Europa für immer ändern. Wollen dies die Europäer? Aber für uns Israelis gibt es einen Trost: Es gibt wenigstens einmal ein Problem, bei dem wir nur Beobachter sind.
Yair Lapid (52) ist Chef und Gründer der liberalen Yesh Atid-Partei („Es gibt eine Zukunft“). Der frühere TV-Journalist und Star-Moderator wechselte 2012 in die Politik. Bei der Wahl zur Knesset 2013 wurde Yesch Atid mit 19 Mandaten zweitstärkste Partei und Lapid war bis 2014 Finanzminister Israels. Nach der Wahl 2015, bei der er nicht mehr so gut abschnitt, wechselte Lapid auf die Oppositionsbank.