DER TAG DANACH: Christchurch trauert um die Opfer

Neuseeland: Bataclan in Christchurch

Mindestens 49 Menschen starben bei einem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Neuseeland. Das – mutmaßlich rechtsextrem motivierte – Attentat steht im Kontext eines Konflikts, der die westliche Welt bis in die letzten Winkel erfasst hat.

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Irgendwann kurz nach halb zwei Uhr nachmittags ist Brenton T. live on air. „Fangen wir an mit der Party“, sagt er, dreht den Zündschlüssel seines Subaru um und fährt zur Al-Noor-Moschee. Aus dem Radio dröhnt ein Schlagerrhythmus, dazu serbischer Gesang, vom Rückspiegel baumelt ein gelber Wunderbaum. In einer Gasse stellt er den Motor ab.

Brenton T. trägt eine Helmkamera, streamt alles in Echtzeit auf Facebook. Er steigt aus dem Auto, öffnet den Kofferraum. Darin liegen zwei rote Kanister und drei Gewehre, die mit handgeschriebenen Namen und Parolen bemalt sind. Er greift sich eines, auf dem „Vienna 1683“ steht, das Jahr der Türkenbelagerung. Er geht um die Ecke, auf den Eingang des Gebäudes zu. Die Kamera filmt ein älteres Paar, das an diesem unglückseligen Freitagnachmittag vor der Moschee auf dem Gehsteig steht. Die beiden blicken ihn verwirrt an, ahnen nicht, was er gleich tun wird, dieser schwarz gekleidete junge Mann mit den olivgrünen Handschuhen und dem bemalten Gewehr in der Hand.

Am Freitag vergangener Woche, kurz vor 14 Uhr Ortszeit, starben in zwei Moscheen der neuseeländischen Stadt Christchurch Dutzende Menschen. Der Tathergang war bis Redaktionsschluss nicht bis ins Detail geklärt: Eine noch unbekannte Anzahl von Tätern schoss auf unbewaffnete Muslime, die sich zum Freitagsgebet versammelt hatten. Kurz darauf verhaftete die neuseeländische Polizei drei Männer. Ihr Vorgehen lässt sich mit dem Anschlag auf das Pariser Theater Bataclan im Jahr 2015 vergleichen, bei dem 89 Menschen getötet wurden – nur dass die Täter in diesem Fall keine Islamisten waren, sondern mutmaßlich Rechtsextreme.

74 Seiten langes "Manifest"

Vor dem Massaker von Christchurch stellte T. ein 74 Seiten langes Word-Dokument online, das nun als „Manifest“ in aller Welt analysiert wird. Sein Titel: „Der große Austausch“. Dahinter steckt die Verschwörungstheorie eines angeblich über Migration gesteuerten Bevölkerungsaustauschs, die auch europäische Rechtsgruppen rund um die Debatte des UN-Migrationspaktes stark propagierten. Ob T. den Text allein verfasst hat, steht bislang nicht fest.

Das „Manifest“ ist jedenfalls ein unzusammenhängendes Sammelsurium voller Tippfehler, in dem der Urheber seine Ideologie erklären will: Er fürchte sich vor den hohen Geburtenraten in nichteuropäischen Ländern, sehe sich als „Ethno-Nationalist“ und „Öko-Faschist“. In dem Papier verdammt er die Seenotrettung im Mittelmeer, prangert angebliche muslimische Vergewaltigerbanden an und verteufelt die Migration. Zwischendurch outet er sich als Fan der Volksrepublik China und Kämpfer gegen den Klimawandel. Auf dem Deckblatt prangt die schwarze Sonne, ein von Rechtsextremen oft verwendetes Erkennungssymbol.

T. gibt an, er habe bereits Geld an „viele nationalistische Gruppen“ gespendet. Für sein Attentat habe er sich den Segen der „wiedergeborenen Tempelritter“ geholt – nicht die einzige Reminiszenz an die Kreuzzüge und den Kampf zwischen Christen und Muslimen.

So wirr das „Manifest“ auch sein mag und so unklar die Hintergründe noch sind: Die Bluttat von Christchurch hat sich im Kontext eines Konflikts ereignet, der seit Jahren in der gesamten von westlichen Werten geprägten Welt ausgetragen wird. Im Zentrum steht der Streit um Migration, vornehmlich aus muslimischen Ländern. Die Täter von Christchurch handelten im Namen einer Ideologie, die Hass auf Muslime, Ablehnung von Einwanderung und Bewahrung einer „reinen“ – weißen – Bevölkerung auf die extremste Weise vertritt.

Solcherart motivierte Attentate sind kein Novum: 2015 etwa verübte der 21 Jahre alte Dylann Roof, ein fanatischer Anhänger der Ideologie von der Überlegenheit der weißen Rasse, ein Massaker in der von Afro-Amerikanern besuchten methodistischen Kirche in Charleston (US-Bundesstaat South Carolina); neun Menschen starben. Im vergangenen Jahr schoss der Italiener Luca Traini aus dem Fenster seines Autos auf afrikanische Migranten und tötete sechs Menschen. Seinen Namen hatte T. auf eines seiner Gewehre geschrieben – zusammen mit den Namen von serbischen Milizführern aus den Balkankriegen der 1990er-Jahre, die in rechten Kreisen noch immer als Helden des Kampfes gegen den Islam gefeiert werden.

Reizfiguren eines Kulturkampfes

Symbole aus den Balkankriegen, die Türkenbelagerung, die Kreuzzüge: Wie gelangt das alles ins ferne Neuseeland? In dem südwestpazifischen Inselstaat leben bei einer Gesamtbevölkerung von nicht ganz fünf Millionen Einwanderern rund 50.000 Muslime – das ist gerade einmal ein Prozent. Doch Migranten und Muslime sind längst zu Reizfiguren eines Kulturkampfes geworden, der sich in der gesamten westlichen Welt verbreitet hat und selbst in Neuseeland den Vorbildern in Europa zu ähneln scheint.

Das zeigt auch die Zusammensetzung der aktuellen Regierung: Die sozialdemokratische Labour-Partei von Premierministerin Jacinda Ardern koaliert mit der Partei New Zealand First (NZ First), einer nationalistischen, populistischen Gruppierung, die 1993 von Winston Peters gegründet wurde. Peters ist heute stellvertretender Premierminister und Außenminister. Die NZ First wendet sich gegen hohe Einwanderungsquoten, um zu verhindern, dass „Neuseelands Identität, Werte und Erbe überschwemmt“ werden. Auf ihrem Parteikongress im vergangenen Herbst forderte die Partei ein Gesetz, wonach Einwanderer neuseeländische Werte „respektieren“ müssen. Die Netto-Einwanderung Neuseelands – also die Einwanderung nach Abzug der Auswanderer – betrug zuletzt pro Jahr 58.000 Menschen, Tendenz leicht steigend.

Brenton T. ist Australier, statistisch gesehen also selbst einer dieser Migranten. In dem „Manifest“ steht, das zähle aber nicht: „Ein Australier, der in Neuseeland lebt, ist dasselbe wie ein Österreicher, der in Bayern lebt. Sie sind dasselbe Volk, dieselbe Kultur.“ Außerdem sehe er sich als Europäer, da Australien von den Europäern kolonialisiert wurde. Er habe auch nichts gegen Muslime, wenn sie in ihren Ländern blieben. Sobald sie aber in ein europäisches Land kämen, würden sie zu „Invasoren“.

Man könnte darüber lachen, wie sich da ein Nachkomme europäischer Kolonisatoren ein Weltbild zurechtzimmert, wie er sich dabei in immer neue Widersprüche verstrickt und wie er in Schlachten aus längst vergangenen Epochen schwelgt, die weit weg von Australien gefochten wurden und auch nichts mit Neuseeland zu tun haben.

Doch als Brenton T. am vergangenen Freitag gegen zwei Uhr nachmittags seinen Facebook-Live-Stream beendete, waren mindestens 49 Menschen tot.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur