N-icht G-eduldete O-rganisationen
Als die "Aquarius 2" vorvergangene Woche in Marseille vor Anker ging, am Donnerstag kurz nach Sonnenaufgang, war das nicht nur das Ende einer Fahrt: Es war de facto auch das Ende der privaten Seenotrettung im zentralen Mittelmeer. Schon bei der Ankunft am Pier gab es keinen Zweifel: Das Schiff, das gemeinsam von den NGOs Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée betrieben wird, würde den Hafen nicht mehr verlassen können. Die Republik Panama, wo es registriert ist, hat angekündigt, ihm die Flagge zu entziehen. Läuft die Crew dennoch aus, riskiert sie, auf Hoher See recht- und schutzlos zu sein.
Seit die Aquarius 2 festsitzt, können sich schiffbrüchige Flüchtlinge kaum noch Hoffnung auf Hilfe machen -alle nennenswerten NGO-Missionen zwischen Italien und Libyen sind eingestellt. Ende vergangener Woche war bloß die "Astral" im Mittelmeer unterwegs: eine Segelyacht der Organisation Open Arms, mit 30 Metern Länge nicht einmal halb so groß wie die Aquarius 2 und mit entsprechend geringem Fassungsvermögen. Die Schiffe aller anderen Hilfsorganisationen liegen in Malta, Spanien und Italien fest und werden dort am Auslaufen gehindert. Das Gleiche droht der Astral, sollte sie in nächster Zeit havarierte Migranten aufnehmen; vorausgesetzt, man lässt sie dann überhaupt in Europa anlanden.
(Anm.: Inzwischen ist wieder zumindest ein Schiff im zentralen Mittelmeer unterwegs – der Schlepper „Mare Jonio“ wurde von mehreren NGOs gechartert und fährt unter italienischer Flagge. Deshalb kann ihm nicht untersagt werden, italienische Häfen anzulaufen. Innenminister Matteo Salvini von der rechtsextremen Partei Lega tobt, ist aber vorerst machtlos (profil 42/18).)
Betrieben wird die Blockade gegen die Seenotretter vor allem von Italien. Doch auch die meisten anderen europäischen Staaten und zuvorderst die österreichische EU-Ratspräsidentschaft unterstützen oder dulden zumindest den harten Kurs, der mit der Notwendigkeit begründet wird, die illegale Migration aus Afrika zu stoppen: einerseits durch Abschreckung, andererseits durch die Zerschlagung von Schleppernetzwerken, als deren wichtigste Komplizen die Politik einige NGOs enttarnt haben will. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) etwa brachte beim Salzburger EU-Gipfel die Aquarius 2 namentlich in Zusammenhang mit den Menschenschmugglern, indem er insinuierte, dass es zwischen der Crew von Ärzte ohne Grenzen und den Kriminellen "eine zumindest informelle Abstimmung" gebe. "Es ist schon seltsam", wundert sich Marcus Bachmann, Berater für humanitäre Angelegenheiten bei Ärzte ohne Grenzen Österreich: "Bis vor Kurzem hat man sich strafbar gemacht, wenn man Schiffbrüchigen auf Hoher See Hilfe verweigert hat. Jetzt ist es plötzlich umgekehrt."
Was derzeit mit der Aquarius 2 und anderen Rettungsschiffen passiert, ist aber nur Symptom für eine Gesamttendenz, die weit über den Schauplatz Mittelmeer hinausreicht: Die immer feindseligere Haltung europäischer Regierungen gegenüber Hilfsorganisationen - und zwar nicht nur jenen, die als Seenotretter im Mittelmeer tätig sind.
Akronym NGO als Gütesiegel
Was geht da vor sich? Wenn man so will, schlägt das Pendel einer jahrzehntelangen Entwicklung gerade heftig in die Gegenrichtung aus. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann sich die Zivilgesellschaft immer stärker in die Politik einzumischen. Eine Unzahl von Initiativen und Hilfsorganisationen mit den unterschiedlichsten Motiven und Zielsetzungen wurde gegründet. Die meisten sind inzwischen wieder verschwunden, einige jedoch geblieben und noch viel mehr dazugekommen.
Zunächst begegnete ihnen der Staat mit Unverständnis, Ablehnung und notfalls sogar brutaler Gewalt. Als der WWF Anfang der 1980er-Jahre gegen das Kraftwerk Hainburg kampagnisierte, wurde er anfangs belächelt; später versuchte die rotblaue Regierung, die Proteste in der Stopfenreuther Au niederzuknüppeln. Als das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior 1985 französische Atomtests im Pazifik störte, wurde es auf Anordnung von Präsident François Mitterand vom Geheimdienst versenkt, dabei kam ein Aktivist ums Leben.
Derartige Methoden konnten nicht verhindern, dass der Einfluss von NGOs immer größer wurde und sich die Politik gezwungenermaßen zunehmend mit ihnen arrangierte. Wie denn auch: Dem Anspruch, die Welt ein bisschen besser zu machen - egal ob durch den Schutz von Menschen-, Umwelt- oder Tierrechten-, lässt sich schwer entgegentreten; dem damit verbundenen Vertrauensvorschuss ebenso wenig. Daran änderte auch der zunehmend schrille Aktivismus nichts, mit dem viele Organisationen im Wettbewerb der Aufmerksamkeitsökonomie zu bestehen versuchten.
Lange Zeit galten NGOs in der Bevölkerung als besonders glaubwürdig und wurden von den Medien auch so behandelt. Bei einigen Sendungsformaten von Ö1 könnte man durchaus auf die Idee kommen, die Globalisierungskritiker von Attac seien die oberste Instanz in Wirtschaftsfragen und die Armutskonferenz die einzige Institution, die Substanzielles zu Sozialthemen zu sagen hat.
Das Akronym NGO war ein Gütesiegel, das für sich selbst bürgte. Auf einen Nenner bringen lassen sich die Hilfsorganisationen allerdings kaum: weder, was ihre inhaltliche Ausrichtung betrifft, noch ihre Methoden oder die politische Agenda, die ihnen - ob zu Recht oder zu Unrecht - zugeordnet wird.
Alles in allem kann man den NGOs ihre Meriten aber keinesfalls absprechen. Sie sind ein bedeutsamer Faktor für das Funktionieren der Zivilgesellschaft: oft lästig für die Regierenden, aber gerade deshalb notwendig und zurecht respektiert. Der Umgang mit ihnen wird nicht von ungefähr dafür herangezogen, die demokratische Reife von Staaten zu beurteilen.
Vetrauensverlust im Sinne der rechten Regierungen
Übel mitgespielt wurde ihnen bislang nur in autoritären Systemen wie etwa in Russland. Umso bemerkenswerter ist es, dass die NGOs nun auch in europäischen Staaten immer mehr unter Druck geraten. Die Politik weiß sich dabei im Einvernehmen mit der öffentlichen Meinung: In den vergangenen Jahren mussten die Hilfsorganisationen in vielen EU-Ländern seit Beginn der Flüchtlingskrise (oder genauer: seit dem Kippen der Willkommens-Stimmung im Jahr 2016) einen messbaren Ansehensverlust hinnehmen - parallel zu anderen Institutionen, die dem "System" zugerechnet werden, also etwa traditionellen politischen Parteien und sogenannten Mainstream-Medien. Der Edelman Trust Barometer, eine jährliche Studie zum Vertrauen in Institutionen und Organisationen, kommt beispielsweise zum Ergebnis, dass inzwischen nur mehr 37 Prozent der Deutschen NGOs als vertrauenswürdig betrachten. 2016 waren es noch 45 Prozent gewesen. Ähnliche Trends zeigen sich in Großbritannien, Italien und Frankreich.
Das bedeutet vor allem für rechtskonservative und - populistische Regierungen geradezu eine Einladung, gegen all jene Organisationen vorzugehen, die sich für Flüchtlinge und Migranten einsetzen.
Der Vorwurf, Migration zu fördern, dient auch als Vorwand, gegen alle möglichen unliebsamen NGOs vorzugehen
Aber nicht nur gegen sie. "Der Vorwurf, Migration zu fördern, dient auch als Vorwand, gegen alle möglichen unliebsamen NGOs vorzugehen - etwa jene, die sich gegen Korruption und für grundlegende Menschenrechte einsetzen", sagt Aron Demeter, Sprecher von Amnesty International in Ungarn, wo sich die Regierung besonders rabiat gebärdet.
Von dortigen Verhältnissen ist Österreich noch weit entfernt. Dennoch sorgt gerade ein Gesetzesvorhaben für Aufregung, demzufolge NGOs künftig nur dann Parteienstellung bei Umweltverträglichkeitsprüfungen bekommen, wenn sie nachweislich mindestens 100 Mitglieder haben. Alle fünf Jahre wird überprüft, ob sie diese Kriterien erfüllen, falsche Angaben können mit bis zu einem Jahr Haft geahndet werden. Ein "Riesenschritt in Richtung Orbánisierung", wie Lukas Hammer, Plastik-Sprecher von Greenpeace vermutet? Na ja. Aber durchaus ein Indiz für eine geänderte staatliche Haltung gegenüber der Einmischung durch NGOs.
Dazu passt es auch, dass sich Christoph Riedl, Mitarbeiter der evangelischen Diakonie, derzeit mit einer Anzeige wegen übler Nachrede konfrontiert sieht. Eingebracht wurde sie vom Leiter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl: "Wenn man würfeln würde, wären die Entscheidungen richtiger", hatte Riedl über die Arbeit der Behörde gespottet, Abschiebungen nach Afghanistan als "falsch und politisch motiviert" bezeichnet. Beißende Kritik? Ja. Aber ein Fall für das Gericht?
In Griechenland sitzt seit wenigen Tagen Panos Moraitis in U-Haft. Der Geschäftsmann und frühere Marinesoldat hat Ende 2015 das Emergency Response Centre International (ERCI) gegründet. Die Organisation behauptet von sich selbst, 45.000 Flüchtlinge und Migranten aus Seenot gerettet und nach Griechenland gebracht zu haben. Jetzt werden Moraitis und mehr als zwei Dutzend weitere Beschuldigte nicht nur wegen gewerbsmäßiger Schlepperei, sondern auch wegen Verstoßes gegen Spionage- und Geldwäschegesetze gerichtlich verfolgt.
In Frankreich steht die Pensionistin Martine Landry, eine Flüchtlingskoordinatorin von Amnesty International, vor Gericht. Sie hatte zwei nach Italien abgeschobenen Flüchtlingen bei der Rückkehr ins Land geholfen. Strafandrohung: fünf Jahre Haft und bis zu 30.000 Euro Geldstrafe. Landry wurde zwar in erster Instanz freigesprochen, die Staatsanwaltschaft hat aber Berufung eingelegt.
"Drei Höllenkreise für humanitäre Hilfe"
Man kann in Fällen wie diesen bloß die Ahndung von Gesetzesverstößen sehen - aber auch eine Änderung der Rechtspraxis, die darauf abzielt, strafrechtlich zu verfolgen, was vor nicht allzu langer Zeit noch als ehrenhaftes Engagement galt: Hilfe für Flüchtlinge und Migranten. Am Beispiel der Seenotrettung skizziert Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen das, was er die "drei Höllenkreise für humanitäre Hilfe" nennt: "Erstens wird NGOs das Recht abgesprochen und die Möglichkeit genommen, überhaupt tätig zu werden. Zweitens werden sie finanziell unter Druck gesetzt - etwa, indem für humanitäre Angelegenheiten vorgesehene Gelder umgeleitet werden, beispielsweise zum Grenzschutz. Und drittens wird versucht, Hilfe zu delegitimieren und zu kriminalisieren." Und warum das alles? "Weil wir eine humanitäre Krise sichtbar machen und das den politischen Interessen zuwiderläuft", vermutet Bachmann.
Wir haben Hinweise darauf, dass die libysche Küstenwache Havarien oft gar nicht meldet.
Wobei: Die Situation im Mittelmeer ist komplex - jede Aktivität, und sei sie noch so gut gemeint, kann unerwünschte Folgen haben. Mittlerweile weiß man, dass Schlepper hochsensibel auf geänderte Geschäftsbedingungen reagieren. Sie maximieren ihr Risiko gerade so weit, dass Todesfälle zwar einkalkuliert sind, die Mehrzahl der Passagiere aber damit rechnen kann, durchzukommen. Andernfalls würde ihr Geschäft über kurz oder lang zusammenbrechen. Die Erfahrung zeigt: Je mehr Rettungsschiffe unterwegs sind und umso näher sie sich an der Küste befinden, desto schlechter, überfüllter und zahlreicher waren die Flüchtlingsboote. Aber egal warum jemand in Lebensgefahr geraten ist: Es kann nicht unmoralisch sein, alles für seine Rettung zu tun. Und die Behauptung, das schleichende Ende der Seenotrettung habe dazu geführt , dass immer weniger Migranten in See stechen, will Bachmann nicht so stehen lassen: "Wir wissen gar nicht, wie viele Menschen derzeit im Mittelmeer ertrinken. Wir haben Hinweise darauf, dass die libysche Küstenwache Havarien oft gar nicht meldet. Und wir bekommen vermehrt Berichte, denen zufolge Handelsschiffe Ertrinkenden nicht mehr zu Hilfe kommen." Wenn das stimmt, dann haben die Reedereien offenbar ihre Schlüsse aus dem Fall der "Alexander Maersk" gezogen. Der Containerfrachter hatte im vergangenen Juni 113 Schiffbrüchige aufgenommen und war von Italien anschließend tagelang daran gehindert worden, in einen Hafen einzulaufen, was die Betreiber mehrere Millionen Euro kostete.
Wie engagiert die offizielle Seemission der EU im Mittelmeer, die Operation Sophia, agiert, ist fraglich. Der aktuelle Standort ihrer fünf Marineschiffe wird geheim gehalten, um Schleppern keine Hinweise zu geben. Das Kommando hat jedenfalls Italien - und damit jenes Landes, dessen Innenminister Matteo Salvini kürzlich der eigenen Küstenwache mehr als eine Woche untersagte, 144 Flüchtlinge an Land zu bringen, die sie zuvor gerettet hatte.
Auch die Aquarius 2 hatte vor ihrer Fahrt nach Marseille Schiffbrüchige an Bord, die ihr niemand abnehmen wollte. Erst nach langem Hin und Her erklärten sich Deutschland, Spanien, Portugal und Frankreich zur Verteilung der 58 Passagiere bereit.
Wir sind alle sehr unglücklich, hier festzusitzen.
Währenddessen sorgte Italien dafür, dass den Seenotrettern die Zulassung entzogen wurde. Jetzt sucht die Aquarius 2, die nach eigenen Angaben bislang 29.523 Menschen vor dem Ertrinken gerettet hat, nach einem Staat, der ihr eine neue Flagge gibt. "Wir wissen, dass weiterhin Leute auf dem Seeweg aus Libyen fliehen", sagt Tom de Kok, Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen auf der Aquarius 2, gegenüber profil: "Dass niemand vor Ort ist, um ihnen im Notfall zu helfen, kann tödliche Folgen haben. Wir sind alle sehr unglücklich, hier festzusitzen."
In einem von der Zeitung "Le Monde" publizierten Appell rufen Prominente nunmehr Frankreich dazu auf, das Schiff zu registrieren -immerhin ist Präsident Emmanuel Macron nach außen hin stets für eine menschliche Migrationspolitik eingetreten. Bis Freitag hatte der Elysée-Palast aber nicht darauf reagiert.