Nicolas Schmit: „Ich würde einiges anders machen als von der Leyen“
Der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten Nicolas Schmit über seine Vision für Europa, problematische Migranten und was sich in der EU-Kommission ändern muss.
Nicolas Schmit ist ein klassischer Sozialdemokrat der alten Garde: Als Kommissar in Brüssel kämpfte der Luxemburger erfolgreich für Mindestlöhne und faire Arbeitsbedingungen, nun tritt er bei den EU-Wahlen als Spitzenkandidat für Europas Sozialdemokraten an. Als Chef der EU-Kommission würde er die Arbeitsweise der Behörde im Sinne von mehr Transparenz reformieren. Das Problem: Kaum jemand kennt den 70-Jährigen.
In einer Umfrage darüber, was die Menschen vor den EU-Wahlen beschäftigt, stehen Armut und soziale Ausgrenzung ganz oben. Das sind klassische sozialdemokratische Themen. Dennoch verlieren Europas Sozialdemokraten seit mehr als 20 Jahren bei Europawahlen kontinuierlich an Stimmen und liegen auch diesmal in Umfragen weit hinter der christlich-konservativen EVP. Wie erklären Sie sich das?
Schmit
Armut, Inflation und Kaufkraftverlust sind konkrete Anliegen, auf die wir klare Antworten geben müssen. Wir werden zeigen, dass wir diese Themen in unserer Wahlkampagne und auch in der Arbeit der EU-Kommission in den Vordergrund stellen. Unsere Themen sind der Kampf gegen Armut und soziale Exklusion sowie für gute Arbeitsplätze und faire Löhne. Weder die Konservativen und noch weniger die extreme Rechte stellen diese Themen in den Vordergrund. Sie sprechen von vagen Begriffen wie Leitkultur. Doch das bewegt die Menschen nicht. Was sie bewegt, ist ihr tägliches Leben.
Bei Ihrer Kür zum Spitzenkandidaten für die Europawahlen haben Sie gesagt, die beste Antwort auf die extreme Rechte sei die sozialdemokratische Vision. Was gehört sonst noch dazu?
Schmit
Neben der Stärkung des Sozialen geht es um den Kampf für die Demokratie in Europa, von innen wie von außen, denn die Demokratie ist bedroht. Die dritte Vision ist, dass wir die großen Veränderungen und Umwälzungen in Technologie und Klima nicht verpassen dürfen. Wenn wir aber von grüner Transition sprechen, dann kann das nicht ohne die soziale Dimension geschehen.
In der Klimapolitik arbeitet die EVP im Europäischen Parlament zunehmend mit europafeindlichen Kräften zusammen, etwa bei der Verwässerung des „Green Deal“. Nach den Wahlen könnten diese Kräfte auf 170 Mandate kommen. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft der traditionellen proeuropäischen Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten?
Ich würde die Kommission in Richtung ‚better governance‘ reformieren, für mehr Kollegialität und mehr Transparenz.
Schmit
Wir müssen Europa voranbringen. Die EVP muss sich entscheiden, ob sie dabei mitmachen oder sich mit den Rechtsextremen rückwärts bewegen möchte. Für uns Sozialdemokraten gibt es keine Koalition mit Rechten, wir werden weder mit den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) noch mit der Fraktion der Identität und Demokratie (ID) zusammenarbeiten. Die EVP hat eine große Verantwortung über die Zukunft Europas. Dazu gehört auch eine wirksame, zukunftsorientierte Klimapolitik. Setzt sie die aufs Spiel, arbeitet sie gegen die Zukunft Europas, gegen nachhaltige Arbeitsplätze und die Notwendigkeit, die Klimakatastrophe zu vermeiden.
Was würden Sie als Kommissionspräsident anders machen als Ursula von der Leyen?
Schmit
Einiges. Ich würde zwar verschiedenes weiterführen, etwa in der Klimapolitik. Allerdings denke ich, dass man Klima- und Industriepolitik besser miteinander verzahnen muss. Der Dialog mit den Sozialpartnern muss gestärkt werden. Ich würde die Kommission in Richtung „better governance“ reformieren, für mehr Kollegialität und mehr Transparenz. Wir müssen uns fragen, ob alle Regulierungen wirklich notwendig sind. Dazu müssten verschiedene Stakeholder einbezogen werden. Ich höre immer nur davon, was die Industrie sagt. Wir müssen im Dialog herausfinden, wie wir in der Kommission besser arbeiten können. Es braucht eine Reform in der Arbeitsweise. Dafür würde ich mich als Präsident einsetzen.
Soll die Kommission verkleinert werden?
Schmit
Das hängt von den Verträgen ab, die die Kommission nicht ändern kann. Wir können auch mit 27 Kommissionsmitgliedern arbeiten. Handlungsbedarf sehe ich darin, wie die Kommission organisiert ist. Kollegialität und Transparenz sind die wesentlichen Schlagwörter.
Immer wieder wird der Vorwurf laut, dass die Deutschen ihre ohnehin beträchtliche Macht in der Kommission weiter ausbauen, zuletzt mit der umstrittenen Bestellung des CDU-Abgeordneten Markus Pieper zum EU-Mittelstandsbeauftragten. Ist Deutschland in der EU zu mächtig?
Schmit
Pieper hat den Job nicht angenommen …
Er hat in letzter Minute zurückgezogen und am geplanten ersten Arbeitstag verkündet, dass er nicht antreten wird. Doch da war der Schaden schon entstanden.
Schmit
Am Ende kam es nicht dazu, das sehe ich positiv. Ich habe mich gegen diese Vorgehensweise gewehrt, auch hier ist Transparenz angesagt. Die Idee, dass verschiedene Nationalitäten den Vorzug bekommen, ist nicht der richtige Weg.
Ist Deutschland also zu mächtig?
Schmit
Ich würde das nicht so sagen, aber Kompetenz sollte immer vor Nationalität gehen. Wenn man besonders kompetent ist, kann man auch Deutscher sein.
Auf Ihrem Twitter-Profil bezeichnen Sie sich als Feminist. Was bedeutet das für Sie?
Schmit
Dass ich für absolute Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau bin. Ich habe zwei Söhne und zwei Töchter, ich kann nicht akzeptieren, dass meine Töchter anders oder schlechter behandelt werden als meine Söhne, egal in welchem Bereich. Ob im Professionellen, im Privaten, in der Freiheit und der Selbstbestimmung. Ich sehe mit Besorgnis, dass verschiedene Kräfte – die Ultrarechten, aber ein wenig auch die Konservativen – die Rechte der Frauen wieder infrage stellen. Dagegen werde ich mich stellen.
Das Thema Migration spielt bei den Europawahlen eine große Rolle. In Österreich müssen sich die Sozialdemokraten vorwerfen lassen, bei Problemen lange weggeschaut zu haben, das habe der FPÖ geholfen. Wie stehen Europas Sozialdemokraten zu illegaler Migration?
Jeder, der nach Europa kommt, muss unsere Werte akzeptieren: Diversität, die Rechte der Frauen, Rechtsstaatlichkeit.
Schmit
Nicht nur die Sozialdemokraten haben das Thema falsch eingeschätzt. Wir müssen eine Balance finden. Wir dürfen nicht die Tür für alle öffnen, wir müssen unsere Grenzen kontrollieren und brauchen ordentliche Asylverfahren, aber gleichzeitig dürfen wir unsere europäischen Werte nicht verlieren. Es ist inakzeptabel, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil niemand sie rettet. Ich trage den kürzlich beschlossenen EU-Migrationspakt mit. Aber Migration geht nur mit Integration. Dazu gehört soziale Integration. Jeder, der nach Europa kommt, muss unsere Werte akzeptieren: Diversität, die Rechte der Frauen, Rechtsstaatlichkeit.
Da stimmen Ihnen wohl die meisten zu. Aber was soll mit jenen geschehen, die diese Werte nicht akzeptieren?
Schmit
Wenn diese Menschen unsere Werte und Gesetze nicht respektieren, muss man fragen, ob ihr Platz wirklich in Europa ist.
Man kann sie nicht ohne Weiteres zurückschicken, denn dafür fehlen mit vielen Herkunftsstaaten die Rückführungsabkommen.
Schmit
Wenn diese Menschen auf illegalem Weg nach Europa gekommen sind, stellt sich sehr wohl die Frage der Rückführung. Das ist Teil einer offenen Migrationspolitik, sonst wären wir offen für jeden, und das ist nicht tragbar.
„Nicolas Who?“, titelte das Nachrichtenportal „Politico“, als bekannt wurde, dass Sie als Spitzenkandidat antreten. Außerhalb Luxemburgs kennt Sie kaum jemand, Sie sind 70 Jahre alt, und viele fragen sich, ob die EU ein Nachwuchsproblem hat.
Schmit
Ich kann das nachvollziehen, aber ich denke, dass Alter kein Kriterium sein sollte. Es ist nicht so, dass mein Alter mich weniger einsatzfähig macht. Hätte es jüngere Kandidaten gegeben, wäre es für mich kein Problem gewesen, zurückzustecken. Doch jemanden nur an seinem Alter zu messen, ist eine Form der Diskriminierung.
Nicolas Schmit
Jahrgang 1953, ist Kandidat der Sozialisten und Sozialdemokraten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission. Seit Ende 2019 ist er EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration unter Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Zuvor war der luxemburgische Sozialdemokrat in seinem Heimatland Arbeits- und Sozialminister. Am Samstag, dem 20. April, reist Schmit zum SPÖ-Europakongress nach Wien.