Niederlande: Kann Rechtspopulist Geert Wilders die Wahl gewinnen?
Ein Politikjournalist aus Den Haag beschrieb mir die Niederländer als Volk, das obsessiv darauf aus ist, alle zu umarmen. „Manchmal so fest, dass man kaum noch Luft bekommt“, sagte er. Und wer sich nicht umarmen lässt, für den gibt es sogar einen Begriff: Wegloper. Wegloper (also Ausreißer oder wortwörtlich Wegläufer) können viele sein: der Soldat, der desertiert; der Islamist, der sich weigert, einer Frau die Hand zu geben – und Geert Wilders.
Der Politiker, dessen Markenzeichen das platinblonde, inzwischen eher weiße Haar ist, gilt seinen Konkurrenten und vielen Journalisten als einer, der wegläuft. Als Wegloper, der nur Scheinlösungen anbiete, bezeichnete ihn auch schon Premierminister Mark Rutte.
Seine Gegner werfen Wilders vor, dass er vor der Verantwortung fliehe, mit allen gemeinsam daran zu arbeiten, dass es dem Land gut geht. Wilders’ Partei für die Freiheit (PVV) könnte bei der Parlamentswahl diese Woche stärkste Kraft werden. Stärkste Kraft bedeutet in den Niederlanden, wo es keine Fünf-Prozent-Hürde für Miniparteien gibt, rund 20 Prozent.
Es sind 20 Prozent, vor denen sich viele in Europa fürchten.
Wilders, 53, will den „patriotischen Frühling“ einläuten, und man könnte sagen, dass er ein Symptom für die Identitätskrise der Niederländer und irgendwie auch ganz Europas ist – Symptom einer Krise des Liberalismus, der noch keine Antwort auf die drängenden Fragen globalisierter Gesellschaften gefunden hat: Wie geht man mit Menschen um, die einer Minderheit angehören, aber gleichzeitig feindselig und diskriminierend anderen gegenüber sind? Will man überhaupt jedem gegenüber liberal sein? Wo hört Toleranz auf?
Ein Populist, der das Volk scheut
Wilders stellt das Gegenteil dessen dar, wie sich die Niederlande gerne zeigen: weltoffen, tolerant, moralisch überlegen. Und während Holländer es gerne „gezellig“ haben, behaglich und nett, grenzt Wilders aus, wirkt kühl, unnahbar und arrogant. Während Premier Rutte einmal die Woche in einer Schule seinem alten Beruf nachgeht und als Lehrer vor die Klasse tritt, lässt Wilders sein Büro im Parlament abschirmen. Selbst wenn er zum Plenarsaal geht, hat er seine Leibwächter dabei. Wo er übernachtet, ist ein Geheimnis, weil er auf einer Todesliste von Al Kaida steht. Wilders ist ein Populist, der das Volk scheut.
Ich weiß, was es bedeutet, von den Niederländern umarmt zu werden. 1984, ich war neun und vor dem Krieg im Libanon ins Umland von Rotterdam geflohen, wurde ich sofort in einen Sprachkurs geschickt und von den Nachbarskindern zum Schlittschuhlaufen und Ponyreiten mitgenommen. Ich, die Tochter eines Palästinensers, die in Berlin geboren und in Beirut aufgewachsen war, ließ mich gerne umarmen. Ich sprach bald fließend Niederländisch und fühlte mich zu Hause. Meine Mutter lernte ihren späteren Ehemann kennen, dessen Familie uns sofort ins Herz schloss. Nie hatte ich das Gefühl, dass ich als Fremde gesehen, ja ausgeschlossen wurde.
Heute erlebe ich Holland anders. Moscheen werden bedroht und angegriffen, der Hass auf Muslime, insbesondere Marokkaner, wächst. Neue Protestparteien werden gegründet, die vor allem eines wollen: Abgrenzung. Gleichzeitig gibt es junge Männer, die den Weg, den ich damals gegangen bin, umgekehrt gehen. Sie kommen nicht an, sondern laufen weg, ziehen aus den Niederlanden fort in die arabische Welt – als Dschihadisten nach Syrien oder in den Irak, hinein in einen brutalen Krieg mit 1000 Fronten.
Für Wilders gibt es nur „die Muslime“; die rund 700.000 Marokkaner und Türken im Land sind für ihn eine homogene Masse, böse, intolerant und faschistisch, weil sie an ein Buch glauben, das er als die islamische Version von Hitlers „Mein Kampf“ bezeichnet. Islam verdränge die Freiheit, so seine Überzeugung.
Wilders wird oft verglichen mit rechten Politikern wie Marine Le Pen in Frankreich oder Heinz-Christian Strache in Österreich. Auch Wilders ist gegen die EU und für einen stärkeren Nationalstaat. Völkische Gefühle sind ihm aber fremd: Seine Mutter stammt aus Indonesien, seine Frau aus Ungarn. Er ist bekennender Israel-Fan und hetzt nicht gegen Ausländer im Allgemeinen, sondern vor allem gegen Muslime.
Keine 50:50-Spaltung
Wie Strache und Le Pen steht er für einen Rechtsruck in Europa. Er vertritt Themen, die bei Menschen gut ankommen, die für den Brexit gestimmt oder Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt haben, die zornig sind, abschotten, konfrontieren und zerschlagen. Was die Niederlande trotzdem bisher von Großbritannien, den USA oder Österreich unterscheidet: Die Bevölkerung ist nicht 50:50 gespalten. Auch wenn jeder Fünfte für Wilders stimmt, gibt es nach wie vor 80 Prozent, die dies nicht tun.
Ein für Außenstehende absurdes Gremium beschreibt vielleicht am besten, wie die Niederlande ticken. 2015 wurden die Führungsgremien der Wasserverbände gewählt, sogenannte Waterschappen mit „Deichgrafen“ an der Spitze. Es gab eine Dauerbeschallung auf allen Kanälen mit schrecklichen Szenarien. „Bleibt deine Stadt beim nächsten Orkan trocken?“, fragten die Verbände in verstörenden Videoclips. Ein Wahlplakat zeigte ein Mädchen im Frühlingskleid, mit gelben Gummistiefeln an den Füßen und einem Blumenstrauß in der Hand. Sie stand hilflos auf einem Deich, als sich eine Monsterwelle hinter ihr aufbaute. „Schwimmen oder (Ab)Stimmen“, lautete der Slogan. Die Verbände erinnerten ihre Landsleute daran, um was es eigentlich geht: mit vereinten Kräften die Niederlande vor den Meeresfluten zu bewahren.
Jeder Niederländer wächst mit dem Bewusstsein auf, dass das Land absaufen kann. Gut ein Viertel der Fläche liegt unter dem Meeresspiegel, mehr als die Hälfte wäre ohne Schutzmaßnahmen regelmäßig überflutet. Es gibt niederländische Websites, die einem vorrechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit man selbst einmal im Leben von Flutwellen betroffen sein wird. In dem Ort bei Rotterdam, in dem ich als Kind gewohnt habe, sind es zehn Prozent.
Im 9. Jahrhundert hatten Bauern begonnen, Deiche, Kanäle und Schleusen zu bauen. Später entstanden Polder, und große Flächen wurden trockengelegt. Der ständige Kampf gegen das Wasser hat eine Dialogkultur entstehen lassen, aus der sich später eine Konsensdemokratie entwickelte. Konsens bedeutet in den Niederlanden nicht, dass man viel redet und am Ende nichts passiert. Konsens heißt, dass man pragmatisch ist und Lösungen findet. Dieses kollektive Bewusstsein erklärt, warum die Niederlande ein liberales Land wurden, in dem jeder Platz hat und sich wohlfühlt, denn im Notfall wird jeder gebraucht. So steht das Diskriminierungsverbot im Artikel 1 der Verfassung. Es wird an einem Mittwoch gewählt, nicht an einem Sonntag, damit auch die strenggläubigen Calvinisten, die „am Tag des Herrn“ ruhen, ihre Stimme abgeben können. Homosexuelle dürfen Kinder adoptieren, und jeder, der gerne kifft, kann dies im Coffeeshop tun.
Leitkultur mit ungeschriebenen Regeln
Trotzdem gibt es ebenfalls das, was Wilders beschwört, eine Art Leitkultur mit Regeln, selbst wenn diese ungeschrieben sind. Kaum jemand der rund 17 Millionen Bürger schert im Alltag aus. Kiffen wollen vor allem Touristen, streng religiöse Christen sind die absolute Minderheit. Eigentlich sind Niederländer recht bieder und angepasst. Wir hatten einmal eine Karikatur in unserer Wohnung hängen, auf der ein Mann sein Backsteinhaus blau anstreichen will. Er ist noch nicht fertig, da kommt schon die Polizei und führt ihn ab.
Niederländern ist außerdem wichtig, zu zeigen: Schaut alle her, ich halte meine Dinge in Ordnung. So haben die meisten Häuser riesige Fenster, oft ohne Vorhänge. Sie erinnern mehr an Schaufenster in einer Einkaufsstraße, durch die man ungehindert in Wohn- und Esszimmer schauen kann, die wiederum picobello aufgeräumt sind. Holländische Kinder spielen mit der „Kijkdoos“, einem Schuhkarton mit Guckloch am Rand, in den man seine perfekte Miniwelt bastelt. Dass man hier beim Brainstormen auf die Idee kam, „Big Brother“ zu erfinden, eine Fernsehshow bei der man Menschen beim Wohnen zuschaut, verwundert nicht.
Es ist eine Gesellschaft, die fundamental anders funktioniert als jene, aus der ich auch stamme. Stünde irgendwo in Arabien ein niederländisches Haus mit Riesenfenster, würden die Nachbarn wohl denken, sie hätten eine Peepshow in ihrer Straße. In arabischen Ländern lässt man die Öffentlichkeit nicht am Leben in der Wohnung teilhaben, dort fühlen sich die Menschen wohler hinter Spiegelglas oder dicken Jalousien. Es ist eine Kultur, die ihren Ursprung in einer Region hat, in der nicht zu viel, sondern zu wenig Wasser das Problem ist. Wo es viele Regeln gibt, gibt es auch viele Tabus.
Ein Niederländer sagte kürzlich zu mir: „Ich bin ein Liberaler alter Schule.“ Religionen lehne er ab. Er wolle sich über alle gleichermaßen lustig machen. Die Niederlande, wie ich sie kenne, haben keine Tabus. Der Papst wird verhöhnt, es gibt sogar Witze über Auschwitz. Wer sich jedoch über den Islam lustig macht, der wird gehasst, bedroht oder gar attackiert. Das regt auf. Und genau hier setzt Wilders an, schürt Misstrauen und verkauft darüber seine anderen Themen: abgeriegelte Grenzen, sofortiger „Nexit“.
Das sind die Themen, vor denen Europa Angst hat.
Bald wird sich zeigen, welches Gefühl heute in den Niederlanden stärker ist: das Bedürfnis nach Dialog und Konsens oder Zorn und der Wunsch, sich abzuwenden, wegzulaufen. Die bisherigen Regierungsparteien werden jedenfalls hoffen, dass Wilders nicht die Mehrheit bekommt und sie – wie vor wenigen Monaten Österreich – noch einmal davonkommen.
Zur Autorin
Mey Dudin flüchtete 1984 mit ihren Eltern aus dem Libanon in die Niederlande. Derzeit berichtet sie als freie Journalistin aus Griechenand, der Türkei und dem arabischen Raum.
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 11 vom 13.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.