AUF DEM VORMARSCH: Kämpfer der schiitischen "Volksmobilisierungskräfte" (Haschd al-Scha'abi) beim Sturm auf die nordirakische Stadt Hawija.

Nordirak: Der Krieg nach dem Krieg

Monatelang kämpften Kurden und Schiiten im Nordirak gemeinsam gegen die Terrormiliz IS. Nun, da der Sieg näher rückt, werden die Verbündeten zu Feinden - und der Region droht neues Chaos.

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Auf den ersten Blick ist nicht mehr viel übrig von der Heimat, für die Amar Hassan in den Krieg zog. Die Gegend um die nordirakische Stadt Hawija gleicht einer Trümmerlandschaft, durch die Tausende Menschen irren, unterernährt, dehydriert, traumatisiert, manche mit lethargischen Kindern in den Armen.

Bei Temperaturen um 40 Grad, ohne jede Infrastruktur, waren sie monatelang nicht nur den Fanatikern der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) ausgeliefert gewesen, die hier eine ihrer letzten Hochburgen verteidigten, sondern auch den Luftangriffen der USA und ihrer Verbündeten.

Dennoch ist der 23-jährige Amar außer sich vor Glück, als profil ihn vergangene Woche an der Front trifft. "Wir konnten Taz befreien, mein Dorf", jubelt er: "Drei Jahre war ich nicht dort und habe auf diesen Moment gewartet."

Die Offensive um Hawija und umliegende Orte wie Taz - eine Region mit rund 100.000 Einwohnern -begann am 21. September. Anders als in der Millionen-Stadt Mossul, in der die Terrormiliz zähen Widerstand bot, sackten die morschen Reste des "Kalifats" binnen Wochen in sich zusammen. Die Eroberung von Hawija am 4. Oktober war lediglich Formsache; sie hatte sich in den Tagen davor bereits abgezeichnet: Kämpfer der Terrormiliz zeigten sich nur noch via YouTube, wo Propagandisten des IS Videos hochluden, die angeblich zeigten, wie zur Schlacht um die Stadt gerüstet wurde - unter anderem mit bewaffneten Teenagern im Alter von vielleicht 14 Jahren. Durch die Ferngläser der irakischen Scharfschützen waren jedoch nur mehr verwaiste Straßen auszumachen.

Zu den Siegern zählen nun Männer wie Amar Hassan: rund 140.000 Freiwillige, die seit 2014 in sogenannten "Volksmobilisierungskräften" Krieg gegen den "IS" führen. Auf Arabisch lautet der Name der Schirmorganisation, unter der etwa 60 fast ausschließlich schiitische Milizen organisiert sind, "Haschd al-Scha'abi" - ein Begriff, der für eine immer stärkere Machtbastion im politisch zerklüfteten Irak steht. Nachdem die offizielle irakische Armee angesichts des IS im Jahr 2014 regelrecht kollabiert war, griffen diese Freiwilligenverbände ein.

"Wir kämpfen für Freiheit und unsere Ideologie und hören nur auf die Urteile des Großayatollah Ali al-Sistani", sagt Hassan Dschass, einer der Milizionäre, als ihn profil in der Nähe eines Gefechtsstands für Scharfschützen bei Hawija trifft. Vor dem Krieg war er Gemüsehändler, jetzt ist er Soldat -wie auch Amar Hassan, der als Automechaniker arbeitete, ehe er vor drei Jahren um "seinen" Irak zu kämpfen begann. Als Schiit habe er die Pflicht, zur Waffe zu greifen, um sich und sein Land zu verteidigen, denn seit dem Angriff der Terrormiliz "Islamischer Staat" stehe sehr viel auf dem Spiel, sagt er: "Das zu tun, ist Auftrag meines Glaubens, meiner Ideologie."

MILIZIONÄRE: Knapp zwei Drittel der irakischen Bevölkerung sind Schiiten. Für sie geht es nach dem Sieg über den IS darum, den Zerfall des Staates zu verhindern - und die Ölressourcen im Norden des Landes nicht den Kurden zu überlassen.

Während der militärischen Offensive in Hawija wurden Mitte September Tausende Kämpfer der "Volksmobilisierungskräfte" in der Gegend im Kirkuk zusammengezogen. Dschass' Einheit, die aus turkmenischen Schiiten besteht, bildete sogar die Speerspitze des Angriffs.

Knapp zwei Drittel der irakischen Bevölkerung sind Schiiten; der Krieg gegen "Daesh", wie der IS hier nach seinem arabischen Akronym abfällig bezeichnet wird, ist für Kämpfer wie Dschass eine Glaubensfrage. "Meine Aufgabe ist es, für die Einheit des Iraks zu kämpfen, für die Befreiung meiner Landsleute", sagt er. Er habe auch nicht vor, sich wieder dem Handel mit Wassermelonen und Tomaten zu widmen, wenn der IS besiegt sei: "Der Kampf geht weiter."

Damit zeichnen sich bereits die Frontlinien eines möglichen neuen Konflikts im Irak ab -nicht mehr zwischen Sunniten und Schiiten, sondern zwischen Schiiten und Kurden. Denn gleichzeitig mit dem Aufmarsch der "Volksmobilisierungskräfte" verstärkten auch die Peschmerga ihre Kräfte in und um Kirkuk. Nur dem Eingreifen der kurdischen Kämpfer war es 2014 zu verdanken, dass die Stadt, anders als Mossul, Falluja oder Ramadi, nicht in die Hände der IS-Terroristen fiel. Seither haben dort die Peschmerga das Sagen.

Loses Zweckbündnis

Zweckdienlicher Pragmatismus sorgte bislang dafür, dass die kurdischen Einheiten Seite an Seite mit den Freiwilligen der Haschd al-Scha'abi, der irakischen Armee sowie der Bundespolizei kämpften. Doch je schwächer der IS wird, desto loser wird auch der Zusammenhalt dieses Zweckbündnisses - zumal es im Nordirak längst um mehr ging als darum, die schon lang zermürbte Terrormiliz im Irak zu besiegen. Wer von Kirkuk, der viertgrößten Stadt des Irak, in das 45 Kilometer entfernte Hawija fährt, passiert einige der größten Ölfelder der Welt: Vier Prozent der globalen Reserven liegen hier unter dem Wüstenboden. Und von den 650.000 Barrel Öl, die pro Tag von der kurdischen Autonomieregion gefördert werden, stammen 550.000 aus dieser Region - eine Zahl, die höchste politische Sprengkraft birgt. Ohne diese Einnahmequelle wäre die kurdische Autonomieregion nicht lebensfähig und damit auch kein unabhängiger Staat, für den die Kurden vor wenigen Tagen mit überwältigender Mehrheit per Referendum votierten.

In Kirkuk, einer Stadt mit circa einer Million Einwohner, stellen Kurden laut eigenen Angaben mit zwei Dritteln die Mehrheit. Araber und Turkmenen, die ebenfalls hier leben, bezweifeln dies und sprechen lediglich von knapp über 50 Prozent Kurden. Exakte Daten gibt es nicht, weil eine Volkszählung in dieser seit Jahrzehnten heiß umkämpften Provinz und ihrer Hauptstadt politisch zu brisant wäre.

"Kirkuk ist das Herz unseres Landes und als wichtigste Stadt der Kurden von hoher symbolischer Bedeutung", sagt Najim Alawani. Der Universitätsprofessor unterrichtet Literatur an der Universität Erbil, lebt aber in jenem Vorort Kirkuks, in dem es am Vorabend des Referendums zu einem ersten Scharmützel zwischen Peschmerga-Kämpfern und Einheiten der Haschd al-Scha'abi gekommen war: "Egal was passiert - Kirkuk werden wir nicht aufgeben."

Gleichzeitig machte der irakische Premierminister Haidar al-Abadi unmissverständlich klar, dass die schiitisch dominierte Zentralregierung des Irak Kirkuk niemals kampflos aufgeben werde. "Ich warne die kurdischen Peschmerga vor einer Mobilisierung um Kirkuk. Es ist inakzeptabel, sich jene Gebiete, die nicht eindeutig zur Kurdenregion gehören, einfach einzuverleiben", drohte al-Abadi erst vor wenigen Tagen - und stellte in den Raum, dass die Hashdal-Scha'abi-Einheiten, die direkt unter dem Kommando des Premierministers stehen, "eingesetzt werden könnten, falls es zu Gewalt kommt."

"Wir haben in die Kämpfe um Hawija erstmals nicht mehr direkt eingegriffen, sondern sichern lediglich die Verteidigungslinien. Dazu sind eben viele Männer nötig", begründet hingegen Jabar Yawar, der Generalsekretär des Peschmerga-Ministeriums, die starke kurdische Präsenz gegenüber profil.

Scharfe Töne

Na'aim Al-Abodi, Kommandant einer der bewaffneten schiitischen Gruppen, schlug schärfere Töne an: "Wir sind in Kirkuk, um den Kampf gegen den ,Islamischen Staat' zu unterstützen. Doch wir sollen uns auch bereithalten, um die Ölfelder abzusichern, das hat uns Premierminister Abadi ausrichten lassen. Wir haben ausreichend Kämpfer vor Ort, die in Hawija im Einsatz sind. Kindische oder unvorsichtige Aktionen der Kurden haben sofort Konsequenzen."

Dabei können sich die irakischen Schiiten auf einen mächtigen Helfer verlassen. Ein Großteil der Haschd-al-Scha'abi-Einheiten steht direkt unter dem Einfluss des Iran, die Porträts führender Politiker des Mullah-Regimes zieren die Gefechtsstände der "Volksmobilisierungskräfte". Qassim Soleimani, der Chef der Auslandstruppen der Iranischen Revolutionsgarden, organisiert Bewaffnung und Training von mindestens einem Drittel der Kämpfer.

Gegründet, um den IS zu bekämpfen, spielt diese Einheit nach ihren eigenen Regeln und verfolgt mittlerweile vor allem ein Ziel: die Vormacht der 60 Prozent Schiiten im Irak einzuzementieren.

Mit einem Flaggenmeer schiitischer Symbole und ideologischem Feuereifer, zum Ausdruck gebracht durch Bilder von bluttriefenden Schwertern und verklärten Konterfeis der schiitischen Märtyrer Ali und Hussein, kompensieren die Freiwilligen ihre oft provisorische Ausstattung.

Ex-Gemüsehändler Dschass hat keine festen Schuhe an den Füßen, sondern nur Plastikschlapfen. Deswegen ist es ihm auch unangenehm, fotografiert zu werden: "Wie schaut das denn aus? Wir sind an der Front nur 800 Meter von den Terroristen entfernt."

Dabei erzählen diese ausgetretenen Plastiktreter ebenso viel über Amar Hassan oder Hassan Dschass wie die Worte der Männer. Letztlich ist klar, dass sich hier eine paramilitärische Armee formiert hat, in der Männer aus dem Volk eine wichtige Rolle spielen sollen, bewaffnet wie die Revolutionsgarden im Iran oder die Hisbollah im Libanon.

KRIEGSALLTAG: Während der Kämpfe schlafen die schiitischen Milizionäre unmittelbar an der Front bei Hawija unter freiem Himmel.

"Wir sind im Dschihad gegen die sunnitischen Dschihadisten", formuliert es Abu Ali Beg. Auch er kommandiert eine Haschd-al-Scha'abi-Miliz, die in den Großraum Kirkuk beordert wurde. Und dieser Dschihad sei mit dem Ende des Krieges gegen "Daesh" nicht gelaufen, meint Beg: "Es gibt ein Urteil unseres Großayatollahs Al Sistani. Er hat zum Kampf für den Irak aufgerufen. Er hat uns beordert, und nur er schickt uns wieder heim."

Aber gegen wen wird man kämpfen, wenn der IS besiegt ist?

"Gegen den Feind."

Und wer ist dieser Feind?

"Jeder, der die Einheit des Irak anzweifelt."

Gemeint sind damit die Kurden Vorvergangenen Freitag meldete sich der Großayatollah abermals zu Wort und kritisierte das Unabhängigkeitsreferendum heftig: Die Einheit des Irak gehe über alles. Gleichzeitig rief er dazu auf, keinen "Bruderkrieg" anzuzetteln.

Wahlen im November

Trotz der verschärften Rhetorik verlief das Referendum vergangene Woche auch in Kirkuk glimpflich. Doch bereits in einem Monat wartet die nächste Bewährungsprobe auf die Stadt: Am 1. November sollen nicht nur in den Kurdengebieten, sondern auch in "umstrittenen" Regionen wie Kirkuk Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten werden. Einmal mehr kündigt die Zentralregierung in Bagdad an, diesen Alleingang nicht zu tolerieren. Und mittlerweile weiß man, dass man sich auf gewichtige Verbündete verlassen kann. Die Türkei und der Iran zeigten sich angesichts der drohenden Spannungen mit den großen kurdischen Minderheiten in ihren eigenen Ländern schon Tage nach dem Referendum dazu bereit, aufseiten Bagdads einzugreifen.

In erster Linie könnten die sich anbahnenden Spannungen zwischen den schiitischen Milizen und kurdischen Peschmerga das Kräfteverhältnis in Bagdad verändern. Eskalieren die Spannungen in Kirkuk, würde dies den Einfluss des Iran massiv stärken.

"Natürlich kämpfen wir Schiiten um die Einheit unseres Staates", sagt Abu Ahmad al Assaf. Der ehemalige Kameramann des libanesischen Hisbollah-Fernsehsenders Manar TV fungiert derzeit als Pressesprecher der Haschd-al- Scha'abi-Milizen in Kirkuk und lebt in Bagdad: "Wir Schiiten haben alle den gleichen Traum: eine Revolution wie im Iran. Das ist leider wegen der ethnischen Unterschiede und den Religionen im Irak nicht möglich. Aber wir kämpfen auf unsere Art um die Freiheit der Schiiten, hier in Kirkuk genauso wie auch in Syrien."

Tatsächlich haben viele Freiwillige der Haschd al-Scha'abi beim Bürgerkrieg in Syrien erste Kampferfahrungen gesammelt und waren Teil jener schiitischen Milizen, die unter dem Kommando der Iranischen Revolutionsgarden aufseiten Bashar al-Assads eingegriffen haben.

"Ich habe in vielen Schlachten in Syrien mitgekämpft, wie viele der Kameraden der Haschd al-Scha'abi", sagt Ahmad al Assaf: "Wir Schiiten verteidigen unsere Bastionen und die Einheit unserer Länder. Unser Vorbild ist der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini. Und dieses Idol verbindet uns, vom Libanon über Bagdad bis Teheran, gegen alle Feinde der Einheit unserer Staaten. Es muss allen klar sein: Wir sind die Garanten der Grenzen geworden, von denen in Syrien bis zu denen im Irak."