100 Jahre Nordirland: Die gescheiterte Provinz
von Siobhán Geets und Dieter Reinisch
In der Nacht auf den 8. April dieses Jahres erlebt das krawallerprobte Belfast so etwas wie eine Premiere. Gegen Mitternacht wird eine der „Friedensmauern“ durchbrochen, die Nordirlands Hauptstadt prägen. Ein Fundament aus Beton, darüber Wellblech, oben Gitter oder Stacheldraht: Rund 80 solcher Barrieren trennen protestantische von katholischen Arbeitervierteln. Bei Einbruch der Dunkelheit werden die schweren Eisentore, die von einer Seite auf die andere führen, geschlossen. Dann gibt es kein Durchkommen mehr.
Doch in dieser Nacht fahren Jugendliche auf der protestantischen Seite so lange mit einem Geländewagen gegen das Tor, bis es nachgibt. Auf der anderen Seite haben sich ebenfalls Jugendliche formiert, insgesamt sollen es mehr als 1000 gewesen sein. Stundenlang bewerfen die beiden Gruppen einander mit Brandsätzen und Feuerwerkskörpern.
Durch das offene Tor zu gehen, wagt allerdings niemand. Die meisten Jugendlichen waren noch nie auf der jeweils anderen Seite, das sollte sich auch in dieser Nacht nicht ändern.
Anfang April treibt es Nordirlands protestantische Jugend auf die Straße, die Bilder von Teenagern, die Molotowcocktails und Steine auf die Polizei werfen, gehen um die Welt. In Nordirland entlädt sich die Gewalt zyklisch, das geht seit 100 Jahren so. Immer stehen sich dieselben Gruppen gegenüber: katholische Nationalisten, die den Norden mit der Republik vereinen wollen, und protestantische Unionisten, die am Bund mit London festhalten – vereintes Irland gegen Vereinigtes Königreich.
Die Auseinandersetzung eskalierte mit dem Nordirlandkonflikt, der ab 1968 mehr als 3500 Menschen das Leben kostete. Zwar fand die Gewalt mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 ein Ende. Doch Nordirlands Bevölkerungsgruppen stehen einander nach wie vor skeptisch bis feindselig gegenüber. Heute randaliert in den unionistischen Arbeitergebieten jene Generation, die nach dem Ende der Kampfhandlungen geboren wurde.
„No Irish Sea Border“, steht auf Häuserwänden in unionistischen Vierteln geschrieben. Doch der Unmut richtet sich nur auf den ersten Blick gegen die Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien nach dem Brexit. Um eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und der britischen Provinz Nordirland zu verhindern, haben sich Brüssel und London auf das Nordirland-Protokoll geeinigt: Nordirland bleibt im Binnenmarkt der EU, die neue Zollgrenze verläuft durch die Irische See, also zwischen Nordirland und Großbritannien.
Für Unionisten kommt diese Sonderbehandlung Nordirlands dem Verlust der britischen Identität ihres Landes gleich – ein Prozess, der in ihren Augen mit dem Karfreitagsabkommen begonnen hat. Dass Nordirland Teil des EU-Binnenmarkts bleibt, bezeichnen Unionisten als „ökonomische Wiedervereinigung Irlands“. Doch das Problem geht viel tiefer.
Wer die Leute auf der Straße fragt, bekommt auch andere Gründe für ihren Zorn zu hören. „Wir wollen keine Bürger zweiter Klasse sein“, lautet eine beliebte Parole in unionistischen Gebieten. Im Gespräch mit profil erklärt der einflussreiche loyalistische Aktivist Jamie Bryson, dass sich die Proteste nicht nur gegen die Handelsgrenze auf der Irischen See richten. Begonnen hätten sie, weil die Polizei die katholische Seite bevorzugt behandle.
Als bestes Beispiel dafür nennt Bryson die Beerdigung des ehemaligen IRA-Anführers und Chefs der republikanischen Partei Sinn Féin in Belfast Bobby Storey. Daran nahmen im vergangenen Juni trotz Corona-Lockdowns mehr als 1000 Menschen teil, darunter die stellvertretende Regierungschefin Nordirlands Michelle O’Neill von der Sinn Féin. Die Angelegenheit hat den Zorn der Unionisten entfacht, weil niemand dafür bestraft wurde. „Wieso gelten die Regeln nicht für Sinn Féin?“, fragt Bryson. Die Leute gingen auf die Straße, um sich „gegen diese Ungleichbehandlung zu wehren“.
Dasselbe hört man allerdings auch von der anderen Seite. Die Anrainer nationalistischer Viertel klagen seit jeher über Repressionen durch die Polizei, das gilt auch für die aktuellen Proteste. Einen Tag, nachdem Jugendliche das Tor durchbrochen haben, kommt es erneut zu Protesten. Im Getümmel auf der katholischen Seite ist auch der 18-jährige Frank. Wieder werfen Jugendliche Gegenstände über die Mauer. Doch diesmal versucht die Polizei, die Gruppe mit Wasserwerfern auseinanderzutreiben. Frank hat Videos davon: „Schau dir an, wie sie mit uns umgehen. Und das nur, weil eine Handvoll Jugendlicher Molotowcocktails geworfen hat!“
Immer wieder betont Frank, dass die Polizei am Vortag auf der protestantischen Seite nicht eingegriffen habe. „Die Politiker sagen uns, wir sollen die Polizei unterstützen. Aber wie sollen wir sie akzeptieren, wenn sie so zweigleisig agiert? Die Polizei unterdrückt uns.“
Auf dem in jener Nacht aufgebrochenen Eisentor prangt ein Zitat von Benjamin Franklin aus dem Jahr 1783: „Es gab nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden.“ Dem widersprechen hier viele. Für Loyalisten wie Bryson leitete das Karfreitagsabkommen von 1998 die schlechteste Phase der Geschichte ihres Landes ein: Sie sehen sich als Verlierer des Friedensprozesses.
Heute gehört Nordirland zu den ärmsten Gegenden Westeuropas. In einigen protestantischen Arbeiterbezirken liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 60 Prozent. Dabei war das protestantische Nordirland bei seiner Gründung eine der wohlhabendsten Regionen im British Empire.
Vor genau 100 Jahren, am 3. Mai 1921, trat das Gesetz in Kraft, das die Insel teilte. Damit hofften die Briten, die „irische Frage“, wie sie das zunehmend lästige Problem seit dem 19. Jahrhundert nennen, endlich gelöst zu haben. Zuletzt erschütterte der Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1921 die Insel. Um sie nicht ganz zu verlieren und zumindest einen Teil der Kolonie zu behalten, beschließt das Parlament in London den Government of Ireland Act: Über die 26 südlichen Grafschaften dürfen fortan die Iren in Dublin regieren. Die sechs Grafschaften im Nordosten, in denen mehrheitlich Protestanten leben, werden abgetrennt und bekommen in Belfast ein eigenes Parlament. Die Provinz bleibt Teil des Vereinigten Königreichs.
Doch mit der Teilung entstehen neue Probleme. Von einem Tag auf den anderen werden die Katholiken zur Minderheit in der neuen Provinz. Die protestantische Mehrheit schafft ein System, das sie in allen Lebenslagen offen diskriminiert. Der erste Premierminister James Craig etabliert ein „protestantisches Parlament und einen protestantischen Staat für ein protestantisches Volk“. Noch 1981 vergleicht die „New York Times“ das politische System Nordirlands mit dem Apartheidsystem im von Weißen beherrschten Rhodesien, dem heutigen Simbabwe. Der unionistische Demagoge und spätere Regierungschef Ian Paisley schrieb 1967 im „Protestant Telegraph“: „Sowohl Rhodesien als auch Ulster haben primitive Ureinwohner: Die Iren werfen mit Weihwasser, die Kannibalen mit Knochen um sich.“
Gegen die Diskriminierung der Katholiken am Arbeitsmarkt, bei Wahlen, bei der Vergabe von Wohnungen und in nahezu allen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens entsteht Mitte der 1960er-Jahre eine Bürgerrechtsbewegung. In der „Northern Ireland Civil Rights Association“ kommen Aktivisten des gesamten progressiven und liberalen Politspektrums zusammen: Linke und Gewerkschafter, Republikaner, aber auch liberale Unionisten.
Vereintes Irland versus Vereinigtes Königreich
Unionisten wollen, dass Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs bleibt. Loyalisten sind radikaler und greifen zur Gewalt, um die Union zu verteidigen.
Die „Ulster Volunteer Force“ (UVF) und die „Ulster Defence Association“ (UDA) sind loyalistische paramilitärische Organisationen.
Die Democratic Unionist Party (DUP) ist die größte unionistische Partei Nordirlands und stellt seit 2007 den Regierungschef.
Als Nationalisten gelten jene Einwohner Nordirlands, die sich als Iren bezeichnen. Zusätzlich dazu treten Republikaner für eine Wiedervereinigung Irlands ein.
Sinn Féin ist die stärkste irisch-katholische Partei Nordirlands. Ihr Hauptziel besteht nach wie vor darin, die Teilung der Insel zu beenden.
Die IRA ist offiziell nicht mehr aktiv, ihre Strukturen bestehen aber weiterhin. Während des Nordirlandkonflikts wurde ihre Mitgliederzahl auf 10.000 geschätzt. Zu den republikanischen Gruppen, die weiterhin Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele einsetzen, gehören etwa die Neue IRA und die Irish National Liberation Army (INLA). Ihre Gesamtstärke wird auf 500 Mitglieder geschätzt.
Auch die Loyalisten organisieren sich neu. Der ehemalige britische Soldat Gusty Spence belebt mit Unterstützung des britischen Geheimdienstes die „Ulster Volunteer Force“ (UVF) wieder. Die loyalistische Terrormiliz erschießt 1966 den Kellner John Scullion – einzig, weil er Katholik ist. Scullion wird zum ersten Todesopfer des Nordirlandkonflikts. Gleichzeitig beginnen radikale Unionisten gemeinsam mit der protestantisch dominierten Polizei, die friedlichen Bürgerrechtsmärsche niederzuschlagen.
Im Sommer 1969 eskaliert die Situation. Am 14. August brennt ein unionistischer Mob die Bombay Street in Belfast nieder, die katholische Bevölkerung wird vertrieben. Insgesamt trifft es 1969 mehr als 1800 Familien, bis 1974 verlieren rund 60.000 Menschen ihre Häuser. Die britische Armee wird entsandt – und die IRA hat jetzt genug Unterstützer, um einen Guerillakrieg gegen die Soldaten zu starten. Barrikaden sollen Polizei und britische Armee am Eindringen in katholische Gebiete hindern, Angriffe auf Geschäfte und Hotels die Wirtschaft schwächen. Doch die Anschläge der IRA fordern auch immer mehr zivile Opfer.
Spätestens 1972 versinkt Nordirland in einem Bürgerkrieg, der bis heute nachwirkt. Die von Paramilitärs geschaffene Gewaltspirale endet erst am 31. August 1994, als die IRA einen Waffenstillstand ausruft. Die UVF folgt am 13. Oktober. Vier Jahre später findet der Krieg mit dem Karfreitagsabkommen sein offizielles Ende.
Glaubt man Loyalisten wie Jamie Bryson, ist das der Anfang allen Übels.
Wie im Libanon und in Bosnien wird mit dem Karfreitagsabkommen auch in Nordirland ein politisches System etabliert, in dem sich die konfessionellen und ethnischen Gruppen die Macht teilen müssen. Das Belfaster Parlament Stormont funktioniert nach dem Prinzip einer Zwangsehe: Die jeweils größten Parteien beider Seiten müssen eine Koalitionsregierung bilden. Der Versöhnung hat das bisher nicht gedient, die Spaltung der Gesellschaft bleibt bestehen.
Paramilitärs und Splittergruppen der ehemaligen Milizen gibt es bis heute. Dabei war die Unterstützung für das Karfreitagsabkommen zunächst groß. Die Bevölkerung war kriegsmüde und US-Investitionen versprachen den ersehnten Wirtschaftsaufschwung. Doch mit der Unterzeichnung des Abkommens versiegen nach und nach die Friedensdividenden. Die USA hatten lange gute Kontakte zum damaligen politischen Arm der IRA Sinn Féin, doch mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA versiegen die Investitionen. Politiker und Wirtschaftstreibende fürchten, selbst auf CIA-Beobachtungslisten zu landen, wenn sie in von Paramilitärs kontrollierten Gebieten investieren. Die nordirische Wirtschaft befindet sich im Sinkflug, die versprochenen Arbeitsplätze bleiben aus.
Die Industrie Belfasts war schon zuvor verschwunden. Schiffsbau und Leinenindustrie, beides Hochburgen der protestantischen Arbeiterklasse, siedelten in asiatische Billiglohnländer ab. Die Folgen waren enorm: Es setzte eine Massenarbeitslosigkeit unter Protestanten ein, die weltweite Finanzkrise 2008 verschärfte die wirtschaftlichen Probleme.
Die Unionisten hatten die Machtteilung mit Sinn Féin nur widerwillig akzeptiert. Als der versprochene Wirtschaftsaufschwung ausbleibt, sehen sich viele als Verlierer des Friedensprozesses.
Gleichzeitig entsteht eine neue katholische Mittelschicht. Sinn Féin wird zur stärksten Partei im Rathaus, immer mehr Katholiken schließen sich der Polizei an. Als der irisch-nationalistische Stadtrat Ende 2012 beschließt, den britischen Union Jack nur noch an bestimmten Tagen zu hissen, kommt es zu gewaltsamen Protesten. Angeführt werden sie von der UVF, die die verarmte protestantische Arbeitergegend im Osten der Stadt beherrscht. Jüngere, radikalere Loyalisten tun sich als Sprecher der Proteste hervor und dienen seither als politische Sprachrohre der Paramilitärs. Unter ihnen ist ein damals unbekannter junger Blogger: Jamie Bryson – jener Aktivist, der sich über die vermeintliche Diskriminierung der Protestanten beschwert und heute die einflussreiche Online-Plattform „Unionist Voice“ betreibt.
Im Gespräch mit profil erklärt der Historiker Aaron Edwards von der Universität Leicester, dass die größte unionistische Partei DUP auf diesen Zug aufgesprungen sei, um loyalistische Wähler an sich zu binden: „In den letzten zehn Jahren schürte sie ein Narrativ, das Protestanten als Opfer des Friedensprozesses und der Polizei darstellt.“ Edwards wuchs in der UVF-Hochburg Newtownabbey im Norden Belfasts auf und gehört zu den besten Kennern des Loyalismus.
Auch Jamie Bryson nutzt die Erzählung von den Protestanten als Opfer. Er spricht von einer „Wut auf den Friedensprozess“ und bezeichnet diesen als „einseitig“. Der 31-Jährige ist überzeugt, dass sich die Proteste bald auf das ganze Land ausweiten.
Die nächste Gelegenheit für eine Eskalation der Gewalt wird es während der Marschsaison im Sommer geben. Wie jedes Jahr werden dann Tausende in Orange gekleidete Protestanten mit Trommeln und britischen Flaggen durch Belfast ziehen, um die Schlacht am Fluss Boyne von 1690 zu feiern. Der Protestant Wilhelm von Oranien hatte damals das irisch-französische Heer seines katholischen Konkurrenten Jakob II. um den englischen Thron geschlagen. Am Rande dieser Märsche kommt es regelmäßig zu Gewaltausbrüchen.
Der Randalezyklus dient den Paramilitärs dazu, ihre Kontrolle über die protestantischen Arbeitergebiete zu festigen. Wie sehr sie um Macht ringen, wurde am vergangenen Wochenende sichtbar. In einem internen Machtkampf verübte die UVF einen Mordversuch auf ihren ehemaligen Kommandanten Willie Young.
Den Nordirlandkonflikt bringen diese Aktionen und die regelmäßigen Randale nicht zurück. Denn an einer Rückkehr zum bewaffneten Kampf hat niemand Interesse. Allerdings eröffne eine Zuspitzung der Lage jüngeren, radikaleren Kräfte die Möglichkeit, die aktuellen loyalistischen Anführer abzulösen, sagt Experte Edwards.
Deshalb brauche es regelmäßige Ausschreitungen an den Eisentoren Belfasts – Randale, in denen junge Aktivisten ihrem Frust Luft machen können, ohne dass die alten Anführer die Kontrolle verlieren. Für die Paramilitärs bringt der schlechte Frieden, der den Konflikt schürt, immer noch den größten Zulauf.
Buchempfehlungen
Aaron Edwards, UVF: Behind the Mask, Dublin: Merrion Press, 2017.
Robert W. White, Out of the Ashes: An Oral History of the Provisional Irish Republican Movement: An Oral History of Provisional Irish Republicanism, Dublin: Merrion Press, 2017.
Diarmaid Ferriter, Border: The Legacy of a Century of Anglo-Irish Politics, London: Profile Books, 2019.
Liam Ó Ruairc, Nordirland zwischen Krieg und Frieden: Der gescheiterte Aufbau nach der Niederlage der IRA, Wien: Promedia, 2020.
Ivan Gibbons, Partition. How and when Ireland was divided, London: Haus Publishing LTD, 2020.