Die Pariser Kathedrale Notre Dame in Flammen
Historiker Philipp Blom über Notre Dame: „Dinge gehen verloren“

Historiker Philipp Blom über Notre Dame: „Dinge gehen verloren“

Der Historiker und Bestsellerautor Philipp Blom über die Bedeutung der Kathedrale von Notre-Dame, den Streit um die christliche Identität Europas und die Frage, was der Brand uns für den Umgang mit historischen Bauten lehrt.

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Interview: Robert Treichler

profil: Wie haben Sie von dem Brand von Notre-Dame erfahren? Blom: Ich war in einem Hotel in den Südtiroler Alpen und telefonierte gerade mit einem Freund. Nebenbei lief der Fernseher, und plötzlich sah ich, dass Notre-Dame in Flammen stand. Da fiel mir der Moment ein, als ich am 11. September 2001 in Paris ankam und ebenfalls im Fernsehen sah, dass das World Trade Center brannte. Aber Gott sei Dank ist das ein irreführender Vergleich. profil: Sie haben selbst eine Zeit lang in Paris gelebt. Wie sehr trifft Sie dieser Verlust? Blom: Natürlich trifft mich das – Notre-Dame ist ein so starkes Symbol. Auf der anderen Seite gehört es zur Geschichte, dass Dinge auch verloren gehen. Wir sind eine Kultur, die glaubt, alles konservieren und restaurieren und genau so erhalten zu können, wie es einmal war. Dieser Brand erinnert uns daran, dass wir gegenüber den Ereignissen nicht so mächtig sind, wie wir vielleicht denken.

profil: Ist Notre-Dame mehr als eine Kirche? Blom: Kulturhistorisch selbstverständlich. Es ist der Ort, an dem sich Napoleon selbst die Krone aufs Haupt setzte. Es ist der zentrale Ort von Paris. Der Platz vor der Kathedrale hat große symbolische Bedeutung. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass er als Nullpunkt diente, von dem aus in Frankreich alle Distanzen gemessen wurden, etwa die Autobahnen. Das war das historische Herzstück von Paris und ist es bis heute – ein großer Orientierungspunkt. profil: Momentan gibt es einen Konflikt darum, wie dieser Brand und das Gebäude interpretiert werden sollen. Er spielt sich vor dem Hintergrund der Debatte um die Identität Europas ab: Wie christlich ist dieser Kontinent noch, symbolisiert die teilweise Zerstörung von Notre-Dame die Demontage der letzten christlichen Bollwerke? Blom: Was heißt christliches Bollwerk? Die katholische Kirche ist im französischen Staat kein Machtfaktor mehr, die von Notre-Dame aus die Geschicke Frankreichs lenken würde – das ist vorbei. Dass eine große Kirche als Sammelpunkt für viele Christen, manchmal auch für sehr konservative Christen dient, ist verständlich. Für mich ist es eher ein Ort von großer historischer Bedeutung, auch von großer musikalischer Bedeutung. Eine der wichtigsten Orgeln von Europa steht darin. Natürlich war Europa über Jahrhunderte hinweg ein hauptsächlich christlicher Kontinent, und die wesentlichen Sakralbauten sind christliche Sakralbauten. Das kann man ganz gelassen aus der Geschichte erklären, ohne daraus ein Politikum zu machen.

Als Ausdruck einer Etappe von europäischer Identität ist die Kathedrale eines der wichtigsten Elemente, die wir haben.

profil: Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat vor allem auf die einigende Wirkung gesetzt und nicht so sehr Notre-Dame als Kathedrale der Christen in den Vordergrund gestellt, sondern als Kathedrale für die ganze Nation. Das hatte fast etwas Überkonfessionelles, auch für Atheisten. Blom: Ich bin selbst Atheist und somit nie als gläubiger Mensch in diese Kirche gegangen. Religiös hat sie für mich persönlich keine Bedeutung. Aber als Ausdruck einer Etappe von europäischer Identität, die allerdings auch nie so einfach gestrickt war, wie das manche Leute gerne hätten – weder religiös noch ethnisch –, sondern die immer schon komplex war, ist die Kathedrale eines der wichtigsten Elemente, die wir haben. Aber das kann man als moderne Nation auch gemeinsam erleben: Es ist eben nicht nur das Symbol einer Glaubensgemeinschaft, sondern gerade in einem laizistischen Staat wie Frankreich ein Symbol einer nationalen Gemeinschaft.

profil: In der herrschenden politischen Stimmungslage wird oft der Gegensatz zwischen Christen und Muslimen betont – so auch jetzt. Blom: Ich weiß nicht, inwieweit sich Muslime, die in Frankreich leben, mit Notre-Dame identifizieren, aber ich glaube, jeder Mensch, dem Kulturgeschichte und ihre Weiterentwicklung etwas bedeuten, spürt angesichts der Zerstörung etwas. Die Debatte stellt auch nur eine Etappe im Zuge des Umdefinierens unserer Identitäten dar – weg von engen religiösen Bindungen, hin zu einer anderen Art von Gemeinschaft. Man kann die Debatte auch als ein Symptom für diesen Prozess sehen. profil: Es gibt Vorwürfe, manche Muslime hätten sich gefreut, dass Notre-Dame brannte. Blom: Es wird schon einige Deppen geben, die sich darüber freuen. In Algerien etwa haben die Menschen so massiv unter dem französischen Staat gelitten, dass sie ambivalente Gefühle dazu haben können, wenn sie Notre-Dame als Symbol dieses Staates und seiner Macht sehen. Aber man wird immer jemanden finden, der sich unangemessen äußert. Wenn es nur darum geht, so jemanden aufzuspüren, um eine Kontroverse loszutreten, dann ist das sehr kurzsichtig. Natürlich gibt es hämische Reaktionen, aber die meisten Menschen sehen Notre-Dame als Symbol eines Frankreich, das einmal war, und vielleicht als Symbol eines Frankreich, das im Begriff ist, sich umzudeuten.

Es ist ein ambivalenter und auch schmerzhafter Prozess, zu sehen, wie etwas so Bedeutsames zum Entertainment herabgewürdigt werden konnte.

profil: Frankreich als laizistischer Staat hat in Bezug auf Notre-Dame eine sehr bewegte Geschichte. Die Begräbnisfeiern von Staatspräsidenten wie Charles de Gaulle oder François Mitterrand fanden hier statt. Frankreich hat sich also nie ganz von seinem christlichen Fundament gelöst. Blom: Wie löst sich ein Staat von mächtigen Symbolen? Frankreich versuchte es stärker als andere westeuropäische Länder. Notre-Dame ist wie jede anständige Kirche auf einem Tempel gebaut, der anderen Göttern geweiht war, weil auch diese Kirche die Aufgeladenheit und die symbolische Wirkung dieses Ortes nutzen wollte. Und vielleicht ist es nur klug, diese symbolische Wirkung weiter zu nutzen, denn man kann sie ja nicht einfach verschwinden lassen.

profil: Auch das wurde versucht, zur Zeit der Französischen Revolution, als die Kirche entweiht und zu einem „Tempel der Vernunft“ umgedeutet wurde. Man wollte alles Religiöse eliminieren. Blom: Das hat nicht geklappt, weil es ein sehr enges Verständnis dessen war, was Menschen ausmacht. profil: Auch auf ökonomischer Ebene entfaltet das Unglück möglicherweise eine einigende Wirkung. Nachdem Macron versprochen hat, der Staat werde Notre-Dame wieder aufbauen, und dafür die Bevölkerung um Mithilfe bat, meldeten sich sofort die Superreichen und kündigten Spenden in Höhe von 700 Millionen Euro an. Blom: So viel schon?

profil: Der Milliardär François-Henri Pinault versprach, über die Familien-Holding 100 Millionen bereitzustellen. Die Milliardärsfamilie Arnault sagte 200 Millionen zu, weitere 200 Millionen kommen von der L’Oréal-Eigentümerfamilie Bettencourt- Meyers. Die Reichen betreiben offenbar Wiedergutmachung für die von der Regierung gestrichene Vermögenssteuer. Blom: Eine extrem elegante Weise, das zu handhaben. profil: Hätte man vor dem Brand gesagt, wie ungeheuer bedeutsam die Kathedrale von Notre-Dame für Europa ist, wäre man wohl als allzu konservativer Zeitgenosse dagestanden. Jetzt, von diesem emotionalen Ereignis bewegt, sind sich fast alle einig darüber, wie fundamental wichtig diese Kirche für uns alle ist. Braucht es starke Momente, um sich dieser Dinge bewusst zu werden und es auch sagen zu können? Blom: Das ist sicherlich so, gerade weil Notre-Dame ein so starkes Symbol ist und weil wir uns in einer Phase unserer gemeinsamen Geschichte befinden, in der Symbole umgedeutet werden. Notre-Dame wurde in erster Linie zu einer Touristenattraktion; nur eine kleine Minderheit ging hin, weil die Kirche für sie ein spirituelles Zentrum war. Es ist ein ambivalenter und auch schmerzhafter Prozess, zu sehen, wie etwas so Bedeutsames zum Entertainment herabgewürdigt werden konnte. Wenn es dann brennt und man die Bilder von tragischer Schönheit sieht, wird einem diese Ambivalenz deutlich: dass irgendetwas unwiederbringlich verloren ist – nicht nur gotische Schnitzereien und Rosettenfenster, sondern eine gewisse symbolische Kraft, die dieser Ort für ein Kollektiv hatte und die er nun nicht mehr auf dieselbe Weise beanspruchen kann. Das ist eine schwierige, ambivalente, aber notwendige Entwicklung, denn solche Orte waren und sind auch immer Symbole von Unterdrückung. Wir erleben heute, dass wir sie umdeuten müssen und dass sie uns oft abhandenkommen, und das, glaube ich, hat dieser Brand so stark symbolisiert.

Solche Unglücke sind immer passiert. Die Idee, dass man ein Gebäude in einem Originalzustand erhalten kann, ist eine Illusion.

profil: Notre-Dame war mit dem Pogrom an Protestanten in der Bartholomäusnacht von 1527 assoziiert – einer der schaurigen Aspekte in der Geschichte dieser Kathedrale. Blom: Macht bringt immer auch schreckliche Dinge hervor, und die katholische Kirche hatte sehr viel Macht. Natürlich sind sehr verschiedene Dinge mit der Geschichte dieses Ortes verbunden. Die meisten Menschen sehen heute die bauliche Schönheit, oder sie gehen hin, weil in den Touristenführern steht, dass man hingehen soll. Aber um die Geschichte eines solchen Ortes zu verstehen, braucht es mehr, vor allem auch ein gesundes Verständnis für Ambivalenz. profil: Wird Notre-Dame nach seinem Wiederaufbau als symbolischer Ort wieder so sein können, wie er war? Blom: Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis die Renovierungsarbeiten vollständig abgeschlossen sein werden. Man wird sich bemühen, die Restauration perfekt zu gestalten; vielleicht wird man auch zeitgenössische Elemente einbauen, um den Bruch deutlich zu machen. Natürlich wird es dann ein anderer Ort sein. Aber solche Unglücke sind immer passiert. Die Idee, dass man ein Gebäude in einem Originalzustand erhalten kann, ist eine Illusion – abgesehen davon, dass es eine höchst fragwürdige Vorstellung ist: Welcher Originalzustand ist denn gemeint? Im Zustand welchen Jahrhunderts will man diese Kirche haben, die so oft umgebaut, renoviert und auch verschandelt wurde? Ein solcher Ort ist auch ein lebender Ort, der sich immer verändert, für den es deshalb auch keinen authentischen Zustand gibt. Wenn man einen authentischen Zustand sucht, dann müsste es ein Zustand sein, der die ganze Geschichte dieses Ortes reflektiert. Und so wie über Jahrhunderte hinweg Fresken gemalt und übertüncht, Skulpturen hergestellt und dann wieder abgehackt wurden, so hat dieser Ort nun ein neues, sehr einschneidendes Kapitel in seiner Geschichte erlebt. Ich halte es für ein wichtiges Symbol, dass wir die Dinge nicht so erhalten können, wie wir meinen, dass sie sein sollen: dass es dieses touristische oder meinetwegen auch das authentisch-spirituelle Europa, in Kunstglas gegossen, einfach nicht geben kann, sondern dass es sich weiterentwickelt.

profil: Gelegentlich auf brutale Weise. Blom: Ja, all das ist lebendige Geschichte, von der wir auch ein Teil sind. Die Änderungen betreffen nicht nur die Widmung dieser Orte und den spirituellen Sinn, sondern auch die bauliche Substanz und die Menschen, die hingehen, und die Gründe, aus denen sie hingehen. Das alles kann man nicht einfach festhalten und entscheiden, welcher der Idealzustand ist, in dem man es bewahren will.

Zur Person

Philipp Blom, 49. Der in Hamburg geborene und in Wien lebende Historiker und Beststellerautor machte mit zwei historischen Sachbüchern auf sich aufmerksam: „Der taumelnde Kontinent“, ein Werk über Europa in den Jahren von 1900 bis 1914, sowie „Die zerrissenen Jahre“ über die Zwischenkriegszeit 1918–1938 (beide im Hanser Verlag). Von 2001 bis 2007 lebte der frankophile Blom in Paris, 2005 erschien „Das vernünftige Ungeheuer: Diderot, d’Alembert, de Jaucourt und die Große Enzyklopädie“ (im Verlag Die Andere ­Bibliothek), eine erzählerische Darstellung der Entstehung der Enzyklopädie der Aufklärung. Zuletzt veröffentlichte Blom, der auch im ORF-Radio Ö1 die ­Diskussionssendung „Punkt Eins“ moderiert, unter dem Titel „Eine italienische Reise“ (Hanser) eine Spurensuche nach der Herkunft seiner 300 Jahre alten Geige.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur