Obamacare: Welche Folgen hat die Abschaffung der US-Gesundheitsreform?

US-Präsident Donald Trump will die historische - und heftig umstrittene - Gesundheitsreform seines Vorgängers Barack Obama abschaffen. Vor allem für chronisch Kranke sind die Folgen unabsehbar.

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Jeden Morgen, pünktlich um sechs Uhr, setzt sich Amber Ennis in ihrem Bett auf. Dann schiebt die 60-jährige Texanerin den Vorhang mit den Blumen zur Seite, um zu schauen, wie das Wetter ist. Nach einem Spaziergang mit ihrem Hund durch die Vorstadtnachbarschaft von Austin mit ihren flachen Einfamilienhäusern, den gepflegten Vorgärten und den von den Bäumen hängenden Kinderschaukeln, zieht sie, zurück in ihrem Apartment, ihre Bluse hoch und setzt sich die erste Insulinspritze des Tages. Insgesamt drei Injektionen braucht die Diabetikerin, bevor sie frühstückt. Danach schluckt sie eine Herztablette.

Dass die meisten von Ennis’ Tagen so beginnen, verdanke sie Barack Obama, sagt sie. Der 44. US-Präsident hatte im Jahr 2010 trotz massiven Widerstands der Republikaner ein Gesetz durchgebracht, das eine kleine Revolution zum Ziel hatte: eine leistbare Gesundheitsversorgung für alle Amerikaner. Offiziell heißt die Reform "Affordable Care Act“ (ACA), besser bekannt ist sie unter dem Namen "Obamacare“. Mit ihr führte der Staat eine allgemeine Krankenversicherungspflicht ein und verbot es den Versicherungsunternehmen, Menschen mit Vorerkrankungen von einer Krankenversicherung auszuschließen. Wer unter 26 Jahre alt ist, kann sich bei den Eltern mitversichern lassen, Niedrigverdiener bekommen Zuschüsse. Heute sind in den USA mehr als 20 Millionen Amerikaner mehr krankenversichert als zuvor. Die Zahl der gänzlich Nichtversicherten sank von über 20 auf elf Prozent.

Eine gute Sache, möchte man meinen. Dennoch war das Gesetz bei seiner Einführung und in den darauffolgenden sechs Jahren mehr verhasst als beliebt. Denn trotz langer Vorbereitung legte der ACA im Oktober 2013 einen holprigen Start hin: Anfangs funktionierte sein Herzstück, die Website healthcare.gov, über die US-Bürger fortan Krankenversicherungen abschließen und staatliche Zuschüsse beantragen konnten, nicht richtig. Als die technischen Probleme gelöst waren, kamen andere hinzu: Viel weniger junge, gesunde Menschen als vorgesehen erwarben eine Krankenversicherung und zahlten lieber die vorgesehene Strafe. Dafür schrieben sich mehr ältere, bereits kranke Menschen als erwartet ein. Die Versicherungen machten Millionenverluste, viele zogen sich aus Obamacare zurück. Die verbliebenen erhöhten meist die Prämien für alle Kunden und verkleinerten die Zahl der Vertragsärzte.

Gütiger Gott, jede Nation hat ihren Bürgern mehr geboten als wir. (Amber Ennis, 60 - Austin, Texas)

"Natürlich hat Obama nicht alles richtig gemacht“, sagt Ennis: "Aber er war der erste Präsident in mehr als 50 Jahren, der etwas im Bereich der leistbaren Gesundheitsversorgung auf die Beine gestellt hat.“ Vor Obamacare waren die Notaufnahmen der Spitäler vor allem in der Nacht überfüllt mit Familien und Kindern jedes Alters, denn dort mussten sie auch ohne Versicherung behandelt werden. Unternehmen tricksten zudem ständig mit den Arbeitszeiten herum, um ihre Kosten für die Gesundheitsversorgung möglichst niedrig zu halten (üblicherweise wurde nur Vollbeschäftigten eine Versicherung bezahlt). Auf dem Markt wiederum waren Polizzen vor allem für Niedrigverdiener teuer, falls sie nicht ohnehin wegen Vorerkrankungen ausgesiebt wurden.

"Gütiger Gott, jede Nation hat ihren Bürgern mehr geboten als wir“, sagt Amber Ennis und schüttelt den Kopf: "Wir hatten nur was für die Pharma- und Versicherungsfirmen übrig.“ Nun fürchtet die Texanerin, dass alles so wird wie früher. Denn ein zentrales Wahlversprechen des 45. US-Präsidenten Donald Trump war es, Obamas Gesundheitsreform rückgängig zu machen. Er hatte sie im Wahlkampf als "totales Desaster“ beschrieben und ihre sofortige Aufhebung versprochen. Trumps erste Amtshandlung noch am Tag der Inauguration war die Unterzeichnung eines Dekrets, das die Aufweichung der Versicherungspflicht in die Wege leitete.

"Ich habe eine Heidenangst, dass ich meine Versicherung verliere“, sagt Ennis. Vor drei Jahren wurde sie von ihrem Arbeitgeber in die Frühpension geschickt und verlor damit auch ihre Versicherung. Ohne ACA hätte sie aufgrund ihrer Vorerkrankungen kein Versicherer aufgenommen, für das staatliche Versicherungsprogramm Medicare, das Menschen ab 65 Jahren erfasst, war sie noch zu jung. Alleine ihre Medikamente kosten aber ohne Versicherung jedes Monat 3000 Dollar. Selbst mit Obamas Prestigeprojekt geht sich das kaum aus: Ennis bekommt 2660 Dollar monatlich Pension und zahlt 1400 Dollar für die Miete, dazu kommt die Krankenversicherung. Die Polizze kostet insgesamt 900 Dollar - 360 Dollar zahlt sie selbst, 560 der Staat. Zusätzlich muss sie rund 1000 Dollar an Selbstbehalt für die Medikamente und Untersuchungen berappen. Nimmt ihr Donald Trump nun auch noch das, kann die 60-Jährige ihre Behandlung nicht mehr finanzieren.

Ungewisse "Übergangsperiode"

George Balteria kennt diese Sorgen. Er leitet eine der Firmen, die für den Staat Kalifornien die Versicherten für Obamacare anmelden. Die Agentur wird von den Versicherern finanziert und soll ihnen die mühsame Papierarbeit abnehmen. In den letzten Einschreibungswochen für das Jahr 2017 strömten jeden Tag bis zu 1300 Kunden in die Filiale im südkalifornischen Westminster, in der heute noch die Weihnachtsdeko hängt. Sie standen Schlange, um sich auf abgewetzten Stühlen persönlich über ihre Versicherungsoptionen beraten zu lassen. Mittlerweile müssen die Berater regelmäßig die Frage beantworten, was denn mit ihrer Versicherung unter Donald Trump passiere. "Die Übergangsperiode macht ihnen Sorgen, sie wissen nicht, was geschehen wird. Und ehrlich gesagt: ich ebensowenig“, sagt Balteria.

Er arbeitet seit Jahren im Versicherungsbereich, sitzt oft genug selbst am Beratungstisch und kennt alle Vor- und Nachteile des Affordable Care Acts. "Wir sehen auch die dunkle Seite der neuen Verordnungen“, sagt er. Er weiß von vierköpfigen Familien, die statt zuvor 350 Dollar wegen Obamacare nun rund 700 Dollar pro Monat zahlen müssen und höhere Selbstbehalte haben. Auch er wünscht sich wie die Texanerin Ennis keine Rückkehr in die Zeit vor dem ACA. "Wer früher als Einzelperson eine Krankenversicherung wollte, fand sich im Wilden Westen wieder.“ Die Versicherungen seien nicht standardisiert und somit nicht vergleichbar gewesen. Manche deckten bei Spitalsaufenthalten nur 200 Dollar pro Tag ab, obwohl diese 1500 kosteten. Ganze Versicherungsabteilungen befassten sich damit, welches Risiko noch akzeptabel für eine Polizze war: Mit erhöhtem Blutdruck und ein bisschen Übergewicht wurde man gerade noch aufgenommen. Diabetes bedeutete aber eine Absage ohne Umschweife.

In kurzer Zeit gelang es Obamacare trotz eingestandener Fehler, die Erwartungen vieler US-Amerikaner an ihr Gesundheitssystem zu verändern. Balteria sagt, er erlebe jeden Tag, wie Menschen überzeugt werden: Sie kämen in sein Büro, um die Strafen, die Obamacare-Verweigerern drohen (in Kalifornien sind das 2,5 Prozent vom Bruttoeinkommen im Jahr) zu vermeiden - und, um sich lautstark über das System mit seinem Versicherungszwang zu beschweren. "Wenn sie dann aber für eine Versicherung, die im Vollpreis 500 Dollar kostet, nur 41 Dollar zahlen müssen, werden sie richtig emotional und sind hin und weg, dass sie sich erstmals eine Gesundheitsvorsorge leisten können“, sagt Balteria.

Sollte die Trump-Regierung die historische Reform des Vorgängers tatsächlich wieder rückgängig machen wollen, muss sie mit starkem Gegenwind rechnen. In den vergangenen Tagen und Wochen bestürmten Hunderte Amerikaner bei Bürgerversammlungen ihre republikanischen Kongressabgeordneten, um sie wahlweise zu beknien oder zu bedrohen, den neuen Präsidenten mit der Gesundheitsreform nicht einfach so gewähren zu lassen. 20 Millionen Menschen haben viel zu verlieren. Kurz bevor die historische Obama-Reform zunichte gemacht zu werden droht, erreicht sie in Umfragen die höchste Zustimmungsrate, seit sie erfunden wurde. Die Anzahl der Befürworter des Gesetzes übersteigt erstmals jene der Gegner.

"Repeal and repair"

Auch bei weißen Männern ohne Universitätsabschluss - einer Kernwählerschicht Trumps - ist die Nichtversichertenrate um zehn Prozentpunkte zurückgegangen. Die Erfolge der Reform zwingen republikanische Politiker dazu, zähneknirschend weiterzuentwickeln, was ihnen Obama mit dem ACA vorgelegt hat: Ein Kuckucksei, das sie wohl nicht mehr loswerden und nun ausbrüten müssen. Verlangten sie erst "repeal“ - "Aufheben“ -, dann "repeal and replace“ - also "Aufheben und Ersetzen“ -, so haben manche Kongressabgeordnete bereits zu "repeal and repair“, also "Aufheben und Reparieren“, gewechselt. Und das, nachdem sie das Gesetz über Jahre hinweg hart bekämpft hatten: Im Kongress stimmten die Republikaner mehr als 60 Mal für eine Annullierung der Reform, vier Mal riefen sie den Obersten Gerichtshof an.

Nun scheinen sie noch zu grübeln, was genau nach Obamacare passieren soll. Die Zeit drängt jedenfalls: Um den ACA auch im Jahr 2018 zu betreiben, müssen die Versicherungen ihre Prämienvorschläge und -programme bis Anfang Mai einreichen. Mit Oktober müssen die Verhandlungen mit den staatlichen Regulatoren abgeschlossen sein. "Manche Unternehmen klagen, dass sie gerne wüssten, was passieren wird und welche Pläne es gibt“, erklärt Sandy Ahn vom Institut für Gesundheitspolitik der Georgetown University in Washington. Sie könne sich durchaus vorstellen, dass die Versicherer ohne klare gesetzliche Rahmenbedingungen im nächsten Jahr nicht mehr an den unter Obama eingeführten Versicherungsbörsen teilnehmen und dadurch in manchen Regionen in den USA gar keine Anbieter mehr im Programm sind oder die verbleibenden wegen der Unsicherheit hohe Prämien ansetzen.

Die Unsicherheit, das Risiko, das Chaos - die Diabetikerin Amber Ennis denkt kaum noch an etwas anderes. Sie ist keine, der man vorwerfen könnte, dass sie sich zurücklehnt, sich auf den Staat verlässt: Ennis hat einen Universitätsabschluss, arbeitete jahrelang in der Rechtsabteilung eines Mineralölunternehmens, wurde jung Witwe und zog ihre zwei Kinder alleine groß. Nun verbringt sie ihre Tage damit, einen Job zu suchen, um ihre Medikamente bezahlen zu können. Rund 20 Stunden in der Woche fährt sie für den Fahrtendienst Lyft, um ihre Ausgaben zu decken. Immer wieder muss ihre Tochter mit Bargeld aushelfen. Dafür hasst sich Amber Ennis zutiefst, sagt sie. Die Texanerin will niemandem eine Bürde sein.

Wenn Trump ernst macht, dann schwindet selbst dieser knappe finanzielle Spielraum. Ennis wappnet sich für dieses Szenario, denn dem neuen Präsidenten traut sie alles zu. Sie habe schon daran gedacht, in Mexiko billig an Medikamente zu kommen, doch das will sie dann doch nicht. Lieber vergleicht sie im Internet die Lebens-und Versicherungskosten in Kanada oder Norwegen. "Ich will nicht umziehen“, sagt sie, dann schießen ihr die Tränen in die Augen: "Alle meine Freunde sind hier. Aber ohne Obamacare bin ich tot.“