Odessa: Die Stadt, die Putin haben will
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Von Wolfgang Rössler
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Das Hauptquartier des militärischen Nachrichtendienstes SSO in Odessa ist eine schmucke Kaserne: Jugendstil, Stuckwerk aus blütenweißem Muschelkalk. Besonders furchteinflößend wirkt es nicht. Ebensowenig der junge Mann in Jeans und T-Shirt vor dem Eingang. Er gibt sich betont lässig, sein Englisch ist akzentfrei. Was irritiert, sind bloß die beiden Taschen aus Kunststoff in seiner Hand. „Hey guys“, sagt er. „Das mag seltsam klingen. Aber bevor ihr durch diese Türe geht, müsst ihr einen Sack über den Kopf ziehen.“
Kein Außenstehender darf sehen, wie der ukrainische Geheimdienst arbeitet. Schon gar nicht zwei dubiose Österreicher, die man der Spionage für Russland verdächtigt.
Zwei Stunden zuvor hatte uns die Militärpolizei bei einem Checkpoint kurz vor Odessa gefilzt. Auf meinem Handy wurden Fotos von Panzersperren gefunden, dazu russische Telefonnummern. Dass es sich um Regimegegner handelte, ließ sich vor Ort nicht aufklären: Anders als die von NATO-Offizieren ausgebildeten SSO-Leute sprechen die Uniformierten auf der Straße kaum Englisch. Auch mein neuer Reisepass erregte Misstrauen, ebenso jener von Wolfgang Wedan, Nothilfekoordinator der NGO „Jugend eine Welt“, den ich am Weg von der moldauischen Hauptstadt Chișinău zu einem Kinderkrankenhaus in Odessa begleitete. Er war zuvor in Venezuela gewesen, einem mit Russland verbündeten Land. Der Stempel aus Caracas war verdächtig. Man beschloss, die Ausländer zum Verhör in das SSO-Hauptquartier zu bringen. Zu viele Missverständnisse im Kriegsgebiet, erst recht im Oblast Odessa. Noch ist es hier vergleichsweise ruhig. Aber das kann sich rasch ändern. In der bunten Schwarzmeermetropole könnte sich der Krieg entscheiden.
Die Großstadt mit gut einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern ist neben Kiew eine wirtschaftliche Hauptschlagader des Landes. Das Getreide, das auf den rabenschwarzen, fruchtbaren Äckern des Landes wächst, wird zu einem großen Teil über den Hafen von Odessa in aller Herren Länder verschifft. Trotz des Krieges, trotz russischer Sabotageakte und des Diebstahls von Weizen bleibt die Ukraine einer der wichtigsten Getreideexporteure der Welt. Fällt Odessa, fällt der Seeweg – und damit eine Haupteinnahmequelle. Schon die Annexion des Donbas, mit seinen an Gasvorräten und Lithium reichen Industrieregionen, hat der Ukraine wirtschaftlich einen schweren Schlag versetzt. Mit dem Verlust Odessas wäre das Land wohl ruiniert. Die Einnahme der Hafenstadt ist Putins erklärtes Ziel, Kiew bliebe dann wohl nur mehr die Kapitulation. Odessa wäre für den Diktator der Hauptpreis.
Noch ist der Weg zur Metropole für Putins Truppen versperrt. Das freilich geht auf Kosten der hundert Kilometer östlich gelegenen Schwesterstadt Mykolajiw: Dort detonieren täglich Raketen und Marschflugkörper, die Infrastruktur ist weitgehend lahmgelegt. Dass Mykolajiw dem Beschuss der russischen Übermacht standhält, grenzt an ein Wunder – und ist nur durch die Aufrüstung der Verteidiger durch amerikanische Waffensysteme erklärbar. Wie lange aber dieser Schutzwall für Odessa noch hält, wagt niemand zu prognostizieren. Erst recht nicht angesichts der angekündigten Teilmobilisierung Russlands. Im Süden geht die Angst um, dass die Küstenregion schlicht überrannt wird. Kein Wunder, dass die Verteidigung feindliche Spähtrupps fürchtet.
Nach einer Leibesvisitation führen uns SSO-Beamte drei Stockwerke nach oben. Irgendwann kommen wir in einem Büro an, ein SSO-Offizier grüßt freundlich. Ein Beamter bringt Kaffee, ein anderer nimmt im Raum Platz und hantiert mit einer E-Zigarette. Als er sie zum Glühen gebracht hat, fixiert er den Verdächtigen aus Wien: „Putin is a dick, right?“ Putin ist ein Arschloch, stimmt’s? – „Yes, of course.“ Ja, klar. Schallendes Gelächter.
Gefahr von Oben
Teil einer abgeschossenen Kamikaze-Drohne. Die Fluggeräte sorgen auch in Odessa für Angst und Schrecken.
Die Missverständnisse lassen sich aufklären – auch weil der CIA-geschulte SSO-Offizier die Korrespondenz mit einem liberalen Oppositionspolitiker aus Moskau gelesen hat. Den Sperrcode habe ich Stunden zuvor herausgerückt. Zur Entscheidungshilfe trug ein Soldat des Asowschen Regiments bei, ein gefürchtetes Freiwilligenbataillon, das bereits seit 2014 gegen prorussische Separatisten im Osten des Landes kämpft. Er hielt die Hand am Lauf seiner Kalaschnikow, auf seiner Brust klebte ein Totenkopfsymbol. Das eigentliche Verhör ist ein lockeres Gespräch. Am Ende verabschieden sich die SSO-Offiziere mit Umarmung und bitten um Verständnis: Die Säcke müssen wieder über den Kopf. Sicher ist sicher, schließlich befinde man sich im Krieg.
Davon ist außerhalb der Geheimdienstkaserne auf den ersten Blick wenig zu spüren. Bis zur Ausgangssperre um 23 Uhr pulsiert die Stadt. Die Cafés und Pubs sind abends voll, aus Lautsprechern dröhnt Musik, junge Liebespaare knutschen in den Häuserecken. „Odessas Merkmal war immer die Leichtigkeit“, sagt Karina Beiglzimer, Journalistin und Deutschlehrerin. Die Meeresbrise, Menschen aus aller Welt, die aus den Bäuchen der Schiffe steigen und in den Gastwirtschaften über ferne Ländern schwadronieren. „Jeder Jüngling in Odessa möchte Schiffsjunge auf einem Hochseeschiff sein. Die Dampfer, die zu uns in den Hafen kommen, entfachen in unseren Herzen eine Gier nach neuen Ländern“, schrieb Isaak Babel, der berühmteste Schriftsteller der Stadt, vor mehr als 80 Jahren. „Luftmenschen“ nannte er die Menschen in seiner Heimat: geprägt von Sonne, Müßiggang und Übermut. Man spricht Russisch, bekennt sich zur Ukraine und fühlt odessistisch. Nationalität? Egal. „Politik hat uns nie interessiert“, sagt Beiglzimer.
Das hat sich geändert. An jeder zweiten Litfaßsäule kleben staatliche Propagandaplakate: Mal ist es ein Lob der tapferen Soldaten, die mit Maschinengewehren die Freiheit ihres Landes verteidigen, mal ein Aufruf an Frauen, es ihnen gleichzutun, mal Durchhalteparolen mit Bildern von einem Mädchen, für deren Zukunft es zu kämpfen gelte. FM Odessa, der populärste Radiosender der Stadt, spielt zwischen Frontberichten patriotische Lieder, die wahlweise nach alten Volksweisen, Eminem oder Eric Clapton klingen: Aus „no woman, no cry“ wird „Sla-va U-kraini“.
Kriegspropaganda
Die traditionell sehr offene und liberale Gesellschaft ist extrem militarisiert. Mit emotionalen Plakaten wird an den Durchhaltewillen der Bevölkerung appelliert.
Nicht zuletzt die Gebietsgewinne der ukrainischen Armee in den Regionen Charkiw und Donezk führen zu einer patriotischen Aufwallung. Erstmals seit Beginn der Annexion keimt echte Hoffnung, dass der Krieg zu gewinnen sei. Der Jubel über die Erfolge im Osten täuscht über die Gefahr im Süden hinweg. Zumindest in Odessa ist man sich dessen bewusst: Angst ist ein ständiger Begleiter, auch in den Cafés und Diskotheken. Man sieht wenige Kinder auf den Straßen. Viele Eltern haben den Nachwuchs in den Westen geschickt.
Odessa hat an Leichtigkeit eingebüßt. „Die Gesichter der Menschen sind fahler geworden“, sagt Beiglzimer. Sie hatte den Büchermarkt in der Innenstadt als Treffpunkt vorgeschlagen. Zu Beginn der Invasion war auch die Hafenstadt unter Beschuss. Eine Zeitlang waren die Straßen wie leergefegt. Aber nach einer Weile ebbte der Angriff ab, der Frühling zog ins Land und die Leute hielten es nicht mehr in ihren Wohnungen aus. Man traf sich am Büchermarkt, wo Bands Konzerte gaben. Heute noch steht hier ein Piano mit einer Aufschrift in fünf Sprachen: „Kannst du spielen? Dann setz dich hin und spiele.“
Lebensfreude
Vor der berühmten Oper von Odessa werden Hochzeitsfotos gemacht. Man will sich die Lebensfreude nicht nehmen lassen.
Man hat gelernt, mit der Gefahr zu leben. Der Krieg zeigt sich in kleinen Details. Etwa an einem Stadtplan für Touristen, mit den Sehenswürdigkeiten Odessas. Er wurde mit schwarzer Acrylfarbe übermalt: Sollten die Russen wirklich kommen, will man ihnen die Orientierung nicht noch erleichtern. Oder auch beim Denkmal für Katharina die Große, Gründerin von Odessa im Jahr 1794. Die Zarin war eine für ihre Zeit aufgeklärte Monarchin, die mit Voltaire Briefverkehr hielt. Zugleich verleibte sie sich große Teile der Ukraine ein, die sie „Neurussland“ nannte – eine kolonialistische Demütigung, die Putin übernommen hat. Katharinas Statue ist mit blutroter Farbe beschmiert.
Beschmiertes Denkmal
Statue von Katharina der Großen, Gründerin von Odessa. Für russische Verhältnisse war sie eine recht aufgeklärte Herrscherin, die mit Voltaire und Diderot korrespondierte und überlegte, die Leibeigenschaft abzuschaffen. Kontrovers diskutiert wurde das Denkmal bereits vor dem Krieg. Dabei ging es um das koloniale Vorgehen Russlands im späten 18. Jahrhunderts. Nun aber ist alles Russische verfemt.
Einen Steinwurf entfernt führt die berühmte Potemkinsche Treppe hinunter zum Meer. Der Zugang ist mit Sandsäcken verbarrikadiert. Praktisch der ganze Hafen ist vermint und militärisches Sperrgebiet. Im August hat sich ein zehnjähriger Bub durch die Absperrungen gezwängt. Er wollte wie jedes Jahr im Sommer zum Strand, schwimmen. Eine Tretmine explodierte, das Kind war auf der Stelle tot. Vor der Barrikade steht ein Soldat, der sich sichtlich langweilt. Dann durchschneidet ein Sirenenton vom Hafen her die Luft. Der Wehrmann setzt den Schutzhelm auf, richtet den Schultergürtel seines Gewehrs und blickt mit einem Fernrohr auf den Himmel über dem Meer. Eine Frau mit zerzausten Haaren kommt auf den Balkon eines Stadtpalais, schaut einmal links, einmal rechts und schlurft dann zurück ins Wohnzimmer. Unter dem Balkon fährt ein gelber Touristenbus vorbei.
Übermalte Touristenkarte
Unkenntlich gemachte Stadtkarte in Odessa. Man will um jeden Preis verhindern, dass russische Soldaten eine Orientierungshilfe haben.
Nach ein paar Minuten verstummt die Sirene, Fehlalarm. Zwei Tage zuvor hat eine von der russischen Armee gesteuerte iranische Drohne eine Bombe abgeworfen, zwei Menschen kamen ums Leben. Die dröhnenden Fluggeräte, deren Rotorblätter eine Spannweite von mehr als drei Metern haben, sollen nicht nur töten und Schaden anrichten. Auch die Furcht, die sie in der Bevölkerung verursachen, gehört zum Kalkül, wie Putins Drohung mit der Atombombe: Die Menschen sollen gebrochen werden. Gerade auch in Odessa, dieser diversen Stadt, in der sich Männer am Gehsteig auf den Mund küssen können, wo man in der Öffentlichkeit über die Obrigkeit lästert und die Menschen auf die Straße gehen, wenn ihnen eine Entscheidung der Regierung gegen den Strich geht. Für den Diktator im Kreml verkörpert Odessa alles, was er am Westen verachtet. Er möchte die „Russen“ dort befreien. Diese Vorstellung bereitet den meisten russischsprachigen Odessiten Albträume. „Es gibt fast niemanden hier, der noch zu Putin hält“, sagt Beiglzimer.
Odessas Merkmal war immer die Leichtigkeit.
Odessa ist nicht vergleichbar mit Luhansk, Donezk oder Cherson – jenen besetzten Gebieten, in denen nun über den Anschluss an Russland abgestimmt wurde. Auch wenn die Referenden manipuliert wurden, gibt es dort Bevölkerungsteile, die Putin als Befreier sehen. Und andere, die um ihr Leben fliehen müssen. Für viele Binnenvertriebene aus der Ostukraine ist Odessa ein Zufluchtsort. Einige von ihnen sind zeitweilig im größten Kinderspital der Stadt untergekommen. Etwa Bogdana B., eine schwer traumatisierte Mutter aus Cherson. Sie sah zu, wie ihre Tochter ein vermeintliches Spielzeug vom Boden aufhob. Es war eine von russischen Soldaten am Spielplatz platzierte Sprengfalle. „Booby Trap“ lautet der unsäglich verharmlosende Fachbegriff für solche Bomben. Das Mädchen wurde buchstäblich zerfetzt. Bogdana B. konnte fliehen und sich nach Odessa durchschlagen. Dort wurden sie von polnischen Nonnen des Salesianer-Ordens betreut, die das Krankenhaus in Zusammenarbeit mit „Jugend eine Welt“ personell, finanziell und mit medizinischen Hilfsgütern unterstützt. Es mangelt an allem: Spritzen, Antibiotika, Beatmungsgeräte.
Die junge Ärztin Anna Bantowskaja führt durch die Intensivstation des Spitals. Ein Frühchen liegt in einem winzigen Bett, das Sauerstoffgerät unter der Nase. Alle zehn Sekunden verkrampft sich der Bauch des Babys. Die Eltern haben es rechtzeitig aus dem Kriegsgebiet nach Odessa geschafft, sonst hätte das Kleine wohl kaum Überlebenschancen gehabt. „Viele Kinder kommen aus den besetzten Gebieten. Wir sind das einzige Kinderkrankenhaus in der Region“, erzählt Bantowskaja. Die Medizinerin hat sich die Wimpern in den ukrainischen Nationalfarben geschminkt, sie redet schnell und fröhlich. Werden auch Kinder mit Kriegsverletzungen behandelt? Immer wieder. Besonders schlimm seien Phosphorbomben. Die Chemikalie ätzt sich durch Haut und Fleisch bis auf die Knochen. „Zum Glück hatte ich damit noch nicht zu tun“, sagt Bantowskaja. Sie würde lieber über etwas anderes reden.
Zum Beispiel über die Unterstützung aus Wien. Kurz zuvor ist ein von Wedan nach Odessa gelotster Kleinlastwagen mit medizinischen Hilfsgütern angekommen. Man macht Gruppenfotos vor dem Logo von „Jugend eine Welt“, blödelt herum, schimpft über das für die Jahreszeit ungewöhnlich kalte Wetter. Ein wenig odessitische Leichtigkeit, dann löst sich die Runde auf. Es gibt zu wenig Personal und das Spital ist voll. Zwei Stunden später heulen erneut die Sirenen. Diesmal ist es kein Fehlalarm, die Drohne zerstört ein Munitionslager. Immerhin kommt niemand ums Leben.
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