Österreich will keine Asylanträge in „Anlandeplattformen“ zulassen

Österreich will keine Asylanträge in "Anlandeplattformen" zulassen

Österreich will keine Asylanträge in „Anlandeplattformen“ zulassen

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Österreich will das Asylrecht in Europa abschaffen: Auf das und nichts weniger läuft eine Forderung in der Schlusserklärung des EU-Gipfels hinaus, die bislang wenig Beachtung gefunden hat. Die entsprechende Passage im Text klingt harmlos, sie umfasst nur wenige Worte, und sie steht im Zusammenhang mit dem Vorhaben, Sammellager für Asylwerber in Nordafrika zu schaffen.

Von derartigen Einrichtungen erhofft sich Europa bekanntlich die Lösung der Flüchtlingskrise und eine Minderung des Migrationsdrucks: Darauf haben sich die Staats- und Regierungschefs in Brüssel vergangene Woche erstmals schriftlich verständigt – sehr zur Freude von Sebastian Kurz (ÖVP), der sich als Urheber dieser Idee gefällt. „Wir haben uns immer für sichere Schutzzonen ausgesprochen. Im Text heißt das jetzt Anlandeplattformen. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt“, erklärte der Bundeskanzler bei seiner Rückkehr nach Wien.

Die Anlandeplattformen („regional disembarkation platforms“) sollten die individuelle Situation von Asylsuchenden berücksichtigen und internationalem Recht entsprechen, heißt es unter Punkt 5 der „Conclusions“ der Gipfel-Erklärung. Allerdings dürften sie – und das ist die für Österreich entscheidende Formulierung – „keinen Pull-Faktor“ bilden, also keinen Anziehungspunkt für Flüchtlinge und Migranten darstellen. Das Bundeskanzleramt interpretiert diese zweieinhalb Worte auf eine Art und Weise, die weit über die bislang bekannten Hardliner-Positionen innerhalb der EU hinausgeht. „Aus unserer Sicht sollten dort keine Asylanträge gestellt werden können“, so Regierungssprecher Peter Launsky-Tieffenthal gegenüber profil.

Setzt sich die Regierung Kurz mit dieser Forderung durch, wäre das mehr als eine Trendwende in der europäischen Flüchtlingspolitik. Der Wunsch nach einer Grenze, die alle draußen hält, egal ob sie nun Asylgründe haben sollten oder nicht, würde die historische Verantwortung zunichte machen, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention wahrgenommen hat.

Damit war trotz aller dramatischen Zuspitzungen vor dem EU-Gipfel nicht zu rechnen. Was bislang über die Anlandeplattformen bekannt geworden war, ließ erwarten, dass dort zumindest in einem vorläufigen Schnellverfahren Migranten von Asylberechtigten unterschieden werden sollten. Davon gehen zumindest einige der EU-Regierungschefs weiterhin aus.

Bootsflüchtlinge, die in internationalen Gewässern oder auf Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedsstaats Schiffbruch erleiden, würden demnach nicht mehr auf das europäische Festland gebracht, sondern stattdessen in nordafrikanische Staaten, die sich dazu bereit erklärt hätten, Sammellager zu beherbergen. Dort würde das UN-Flüchtlingshochkommissariat (Unhcr) mit finanzieller Unterstützung aus Brüssel für Unterbringung und Versorgung der Geretteten sorgen, während ein Schnellverfahren feststellte, ob ihnen der Flüchtlingsstatus zustünde; ob sie subsidiären – also zeitlich begrenzten, von der aktuellen Situation abhängigen – Schutz bekämen; oder ob sie keinen Asylanspruch hätten.

Anerkannte Flüchtlinge würden anschließend nach Europa gebracht und dort verteilt. Nicht anerkannte könnten die Hilfe der Internationalen Organisation für Migration in Anspruch nehmen, um in ihre Heimatländer zurückzukehren.

Die vielen Konjunktive sind ein Hinweis darauf, dass der Plan zwar gut klingt, aber alles andere als ausgegoren ist. Zunächst stellt sich die Frage, wo die Anlandeplattformen eigentlich errichtet werden können. Laut EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos steht Brüssel mit den fraglichen Ländern in Nordafrika in Kontakt. Allerdings hat bislang noch kein Staat zugesagt, Europa bei seinem Vorhaben zu unterstützen.

Die Regierungen von Ägypten, Algerien, Tunesien und Marokko verspüren offenbar kein Bedürfnis, auf unabsehbare Zeit eine ebenso unabsehbare Zahl von Flüchtlingen und Migranten zu beherbergen, die Europa nicht haben will. „Das Königreich lehnt es ab, die Rolle der Polizei für Europa zu spielen“, hieß es aus dem Palast in der marokkanischen Hauptstadt Rabat kühl. Ähnlich Tunesien: „Wir tragen nicht die Verantwortung für den Strom illegaler Flüchtlinge an den Küsten Südeuropas“, ließ Außenminister Khemaies Jhinaoui der EU über die Tageszeitung „Al-Arab“ ausrichten.

Und auch Libyen winkte ab: „Solche Aufnahmelager verstoßen gegen die Gesetze des Landes“, erklärte Ahmed Maitik, Vize-Chef des libyschen Präsidentschaftsrates, gegenüber dem italienischen Innenminister Matteo Salvini von der Rechtsaußen-Partei Lega, der ihn in Tripolis aufgesucht hatte. Das Land empfiehlt sich aber ohnehin generell nicht als sicherer Hafen: Die international anerkannte Regierung kontrolliert im Wesentlichen bloß die Hauptstadt Tripolis, der Rest des Landes steht unter der Fuchtel diverser Warlords und Milizen, die Flüchtlinge versklaven, foltern und einkerkern.

Salvini ließ sich davon nicht verdrießen. Er kündigte an, Alternativstandorte für Lager „südlich von Libyen“ auskundschaften zu wollen: „Denken wir an Niger, Mali, Tschad und den Sudan“, so seine Vorschläge.

Die genannten Länder sind allerdings extrem schwieriges Terrain. Sie liegen in der Sahel-Zone, einer der unwirtlichsten Gegenden der Welt – es gibt praktisch kein Wasser, die Temperaturen liegen oft bei 40 Grad und darüber. Der finanzielle und logistische Aufwand, dort die menschenwürdige Unterbringung und Versorgung von Zehntausenden, möglicherweise Hunderttausenden Asylwerbern zu gewährleisten, wäre riesig; die Kosten für den Schutz der Camps ebenso: In der Region treiben nämlich bewaffnete Gruppen, die der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) oder der Al-Kaida die Treue geschworen haben, ihr Unwesen. Sie könnten nicht nur Anschläge verüben, sondern die Camps auch als Betätigungsfeld für Rekrutierungen benutzen.

Aber all das lässt sich mit entsprechendem Einsatz von Geld und Mitteln möglicherweise noch bewältigen. Viel schwerer ist ein innereuropäisches Problem zu lösen. Um die Anlandeplattformen betreiben zu können, müsste sich die EU auf ein einheitliches Asylverfahren einigen.

Derzeit unterscheiden sich die Bestimmungen in den Mitgliedsländern nämlich eklatant. In Ungarn gelten etwa deutlich restriktivere Regeln mit beispielsweise kürzeren Einspruchsfristen als in Deutschland. Dass es nicht überall gleich zugeht, spiegeln auch die Anerkennungsquoten wider. In Österreich muss etwa ein Nigerianer statistisch gesehen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 90 Prozent damit rechnen, abgelehnt zu werden. In den Niederlanden wurde in den vergangenen 15 Jahren hingegen durchschnittlich ein Viertel der Anträge von Staatsbürgern des westafrikanischen Landes positiv erledigt.

Die EU müsste also einen gemeinsamer Nenner finden, dem so unterschiedliche Akteure wie der Rechtsnationalist Viktor Orbán (Ungarn) und der Sozialdemokrat Pedro Sánchez (Spanien) zustimmen können. Das versucht Europa aber bereits seit 1999, ohne substanziell weiterzukommen.

Sollte sich die Position Österreichs durchsetzen, dass in den Camps überhaupt keine Asylanträge angenommen werden, stellt sich dieses Problem aber ohnehin nicht mehr. Damit würde Europa vollinhaltlich ein Modell übernehmen, für das Kurz bereits seit Langem schwärmt – jenes von Australien. Dort ist es de facto überhaupt nicht mehr möglich, als Flüchtling unterzukommen. Wer es versucht, wird auf abgelegene exterritoriale Inseln deportiert und bleibt dort auf unabsehbare Zeit. Aber: Wird Europa Kurz auf diesem Weg folgen?

Die EU-Kommission stellt in dem Papier „Managing Migration“ fest, dass es illegal wäre, aufgegriffene Migranten ohne vorherige Prüfung in ein Drittland zu verfrachten. Weiters sei es illegal, abgewiesene Migranten in ein Land zu bringen, durch das sie nicht gekommen sind oder zu dem sie keine Verbindung haben. Die Möglichkeit, ihnen überhaupt zu verwehren, Asylanträge zu stellen, zieht die Kommission nicht einmal in Betracht.

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat sich bereits mit einem vergleichbaren Fall einer Zurückweisung von Migranten im Mittelmeer beschäftigt. In dem Fall „Jamaa Hirsi und andere gegen Italien“ ging es um 24 Migranten aus Somalia und Eritrea, die vom italienischen Zoll und der Küstenwache südlich von Lampedusa aufgegriffen und nach Tripolis zurückgebracht worden waren.

Der EGMR urteilte, dass sich Italien damit der Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention schuldig gemacht habe. Gemäß Artikel 3 darf niemand in einen Staat gebracht werden, in dem er Folter oder unmenschlicher Strafe ausgesetzt sei; Weiters habe Italien das Verbot der Kollektivausweisung missachtet. Es musste neben den Prozesskosten auch 330.000 Euro Schadenersatz zahlen.

Vermutlich würde auch ein Partner, auf den die EU bei der Einrichtung von Sammellagern substanziell angewiesen ist, seine Unterstützung bei der Umsetzung der österreichischen Pläne verweigern: Das Unhcr dürfte sich seinem Selbstverständnis nach kaum dafür hergeben, eine Praxis zu forcieren, welche an ein Grundprinzip der Genfer Flüchtlingskonvention rührt, die auch in der Richtlinie der EU für Asylverfahren festgeschrieben ist: Niemand, der an der Grenze eines sicheren Staates um Schutz – also Asyl – bittet, darf abgewiesen werden. Dies gilt auch für Migranten, die in internationalen Gewässern auf Beamte der EU-Grenzschutz-Agentur Frontex treffen.

Diesen Grundsatz zu verwerfen und das Asylrecht de facto obsolet zu machen, wie die Regierung Kurz es anstrebt, wäre eine radikale Maßnahme, für die es zumindest derzeit keinen unmittelbaren Anlass gibt. Knapp mehr als 44.000 Migranten kamen in diesem Jahr bisher über das Mittelmeer in die Europäische Union. So wenige waren es lange nicht. In den drei Jahren vor der großen Flüchtlingswelle von 2015 registrierten allein Frankreich und Deutschland zusammen jährlich zwischen 130.000 und 260.000 Anträge. Hochgerechnet auf das ganze Jahr sind für 2018 bei gleichbleibenden Verhältnissen um die 90.000 zu erwarten. Jedes der 28 EU-Mitgliedsländer müsste im Schnitt 3000 davon übernehmen.

Das kann sich bei einer größeren Krise in der Region allerdings rasch wieder ändern, argumentieren Befürworter einer restriktiven Flüchtlingspolitik. Europa bereitet sich darauf vor, bei der nächsten Katastrophe in seiner Nachbarschaft alle Luken dicht zu machen.

Sich schon jetzt darauf festzulegen, Flüchtlinge in diesem Fall zu einer Anlandeplattform zu bringen und ihnen keine Asylanträge zu ermöglichen, würde allerdings auch die Schwierigkeit, ein nordafrikanisches Land als Standort zu gewinnen, nochmals vergrößern. Denn Camps, aus denen niemand abgeholt wird, wachsen naturgemäß immer weiter an.

Eine Vorstellung, wohin das führen kann, bietet das Flüchtlingslager Dadaab in Kenia, das vom Unhcr betreut wird, seit 1991 besteht und für 90.000 Menschen ausgerichtet war. Gegenwärtig leben dort, wie das Flüchtlingshochkommissariat am 20. Juni meldete, 231.000 Kriegsvertriebene aus Somalia. Es war übrigens eine Erfolgsmeldung: 2012 waren es mehr als 450.000 gewesen. Manche Lagerbewohner harren seit 27 Jahren dort aus. Viele wurden dort geboren. Warum sollte sich ein Staat das freiwillig antun – selbst gegen stattliche Geldzuwendungen?

Andererseits: Sebastian Kurz wird nicht müde, darauf hinzuweisen, er sei in den vergangenen Jahren schon mehrfach für Vorschläge und Forderungen belächelt worden, die sich danach angesichts der normativen Kraft des Faktischen allgemein durchgesetzt hätten. Da hat er recht. Noch weiß niemand, an welchem Punkt es der Öffentlichkeit der Abschottung und Kaltherzigkeit dann doch zu viel wird. Kurz möchte es offenbar herausfinden. Um dieses Bild etwas abzumildern, verweist Regierungssprecher Launsky-Tieffenthal auf finanzielle Hilfe für Afrika: „Der Africa Trust Fund soll um 500 Millionen aufgestockt werden.“

Für rechte Hardliner wie Orbán, Salvini und andere ist Österreichs Vorstoß ein Segen. Aber nicht nur für sie. Immerhin bräuchte die EU aktuell nicht weiter über ein einheitliches Asylverfahren nachdenken – auch die leidige Streiterei um Verteilungsquoten hätte ein Ende, weil es ohnehin bald keine Flüchtlinge mehr zu verteilen gäbe.

Nach dem Gipfel von vergangener Woche stehen die Rechtspopulisten offenbar unter einigem Rechtfertigungsdruck. Das Treffen brachte zwar eine grundsätzliche Einigung auf mehr Außengrenzschutz und die genannten Anlandeplattformen, aber keine plakativen, öffentlichkeitswirksamen Ergebnisse.

Der Italiener Salvini sah sich anschließend genötigt, eine spektakuläre Ankündigung zu machen. Er werde den ganzen Sommer über die italienischen Häfen für Rettungsschiffe mit Bootsflüchtlingen an Bord sperren und ihnen auch keinen Treibstoff verkaufen, erklärte der italienische Innenminister.

Möglicherweise fällt die österreichische Forderung nach dem Ende des Asylrechts, wie wir es kennen, in eine ähnliche Kategorie.