Pakistans Regierungschef: „Verschleierungsverbot bestraft Frauen“
Die Auszählung der Stimmzettel war noch längst nicht abgeschlossen, da erklärte er sich bereits zum Sieger: „Dank sei Gott, wir haben gewonnen“, jubelte Imran Khan, Chef der Partei Pakistan Tehreek-i-Insaf (PTI) in der Nacht zum vergangenen Donnerstag. Es dauerte einen weiteren Tag, bis das Ergebnis auch offiziell feststand – aber dann war klar: Khan hatte die Parlamentswahl in dem südasiatischen Land, das mit 200 Millionen Einwohnern und eigenen Atomwaffen ein Machtfaktor über die Region hinaus ist, für sich entschieden. Die absolute Mehrheit schaffte seine Partei zwar nicht. Es dürfte jedoch kein Problem sein, diese mithilfe unabhängiger Kandidaten zu erreichen, die nur darauf warten, sich der stärksten politischen Kraft anzuschließen.
Khan ist das, was man gemeinhin eine schillernde Figur nennt: Seine Bekanntheit gründet auf einer Sportlerkarriere, die ihn zu einem der populärsten Bürger Pakistans gemacht hat. Immerhin war er es, der seinem Land 1992 zum ersten und einzigen Weltmeistertitel im Nationalsport Kricket verhalf – noch dazu durch einen Sieg über die frühere Kolonialmacht England. Nicht nur als Sportler machte der heute 65-Jährige Schlagzeilen, auch mit zahlreichen Frauengeschichten, Hochzeiten und Scheidungen.
Unklar, wofür Khan politisch steht
Politisch ist aber nicht wirklich klar, wofür er steht. Nachdem er im Jahr 1996 die PTI gegründet und vorerst eher erfolglos geführt hatte, legte Khan mehrere Kurswechsel hin. Unter anderem unterstützte er 1999 einen Militärputsch von General Pervez Musharraf, um sich wenig später vehement davon zu distanzieren. Er zeigte aber auch wenige Vorbehalte dagegen, bei Bedarf mit radikalen Islamisten zu kooperieren.
Im aktuellen Wahlkampf wurde Khan vor allem als Kandidat der Armee wahrgenommen, die in Pakistan eine Art Staat im Staat bildet. Er selbst streitet das ab: „Das ist Unsinn. Wir werden von unseren Wählern unterstützt. Im Wahlkampf haben bei einer Veranstaltung in der Stadt Lahore eine halbe Million Menschen teilgenommen. Das beweist, dass wir keine andere Unterstützung brauchen“, sagt er im Interview mit profil.
Historischer Wahlerfolg
Historisch ist die Wahl von Khan, auch wenn sie von Manipulationsvorwürfen überschattet ist, in einer Hinsicht auf jeden Fall: Zum ersten Mal wird Pakistan von einem Premierminister regiert, der keiner der bislang bestimmenden Parteien angehört. In der Vergangenheit hatten sich die Muslim-Liga und die Volkspartei das Land aufgeteilt und ein alles durchdringendes System der Korruption entwickelt, das unantastbar zu sein schien.
In jüngster Zeit hat sich das aber geändert. Im Herbst 2017 wurde der frühere Premierminister Nawaz Sharif von der Muslim-Liga wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche des Amtes enthoben und unter Anklage gestellt. Anfang Juli wurde er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt und verhaftet. Dass es so weit kommen konnte, ist nicht zuletzt dem Betreiben von Imran Khan zu verdanken, der seinen Status als Außenseiter dazu benutzte, sich als Saubermann zu positionieren.
Korruption und Streit mit den Nachbarn
Ob er sein Versprechen, mit der Korruption aufzuräumen, umsetzen kann, ist fraglich – zumal das bei Weitem nicht die einzige Herkulesaufgabe ist, vor der ein neuer pakistanischer Regierungschef steht. Auch wirtschafts- und außenpolitisch hat das Land schwere Probleme. Es ist dramatisch verschuldet und mit seinen wichtigsten Nachbarn im Dauerclinch. Mit Indien steht ihm östlich eine weitere Atommacht gegenüber, die Ansprüche auf die Kaschmir-Region im Norden des Landes erhebt; mit Afghanistan im Westen ein schier unregierbarer Staat, dessen Sicherheitsprobleme zu einem guten Teil auch jene Pakistans sind, weil Taliban und andere Extremisten grenzübergreifend agieren.
Eines ist von Khan jedenfalls kaum zu erwarten: Jeglicher Ansatz, das streng religiöse Pakistan zu säkularisieren. Dass seine aktuelle (dritte) Frau, eine Sufi-Mystikerin, in der Öffentlichkeit tief verschleiert auftritt, weist darauf hin, dass er den Wandel vom Lebemann zum konservativen Gläubigen vollzogen hat. Das wird auch in seinen Antworten beim Interview mit profil klar. Das Gespräch fand vor der Wahl in Khans Anwesen statt, das wenige Kilometer von Islamabad entfernt auf einem Hügel liegt.
profil: Haben Sie einen Masterplan für Pakistan und seine vielfältigen Probleme? Khan: Pakistan soll nach der Vision von Jinnah (Muhammad Ali Jinnah, der als Staatsgründer gilt, Anm.) ein Wohlfahrtsstaat werden: ein Rechtsstaat mit humanitären Werten, der auf islamischen Idealen wie der Gleichheit basiert. Diese Vorstellung geht bis zur Gründung des ersten Staates von Medina durch unseren Propheten Mohammed zurück – bis heute das Modell aller islamischen Staaten. profil: Eine Staatsordnung aus dem 7. Jahrhundert ist Ihr Vorbild für das moderne Pakistan? Khan: Ja, denn der Staat von Medina übernahm zum ersten Mal in der Geschichte Verantwortung für die sozial Schwachen. Die skandinavischen Staaten sind für mich das beste Beispiel für die Umsetzung der Ideale des Medina-Staats. profil: In früheren Interviews haben Sie in diesem Zusammenhang von der Scharia gesprochen. Werden Sie die Scharia in Pakistan einführen? Khan: Seit Ayatollah Khomeini hält der Westen an der Horrorvorstellung fest, dass die islamische Welt eine Revolution anstreben und die Scharia einfühhren wolle. Und der Westen hat die absurde Idee, dass Scharia bedeutet, Hände abzuhacken, zu enthaupten und alle Frauen einzusperren. Aber Scharia ist der Weg des Propheten. Und der Weg des Propheten basierte vor allem auf einer gerechten, humanitären Gesellschaft.
In Pakistan gibt es zweierlei Rechtssysteme – eines für die Reichen und eines für die Armen.
profil: Dass im Namen der Scharia Körperstrafen vollzogen und Exekutionen durchgeführt werden, ist aber unbestritten. Khan: Scharia ist auch eine Interpretationsfrage. Wir können lange darüber diskutieren, aber ich verstehe unter Scharia den Wohlfahrtsstaat, wie er in Skandinavien umgesetzt wird. profil: Wie wollen Sie das in Pakistan verwirklichen? Khan: Der Staat Pakistan muss für die Schwachen in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Vor dem Gesetz müssen alle gleich sein, egal welcher Religion sie angehören. Bisher zahlen die Armen für die Reichen. Daher ist eine Steuerreform dringend erforderlich, ebenso eine Reform des Justizsystems. In Pakistan gibt es zweierlei Rechtssysteme – eines für die Reichen und eines für die Armen. Die Reichen wie Nawaz Sharif (der ehemalige Premierminister, Anm.) kommen mit der Unterschlagung von Milliardensummen davon. In skandinavischen Ländern wäre jemand wie er schon längst hinter Gittern. Das verstehe ich unter Gleichheit vor dem Gesetz. profil: Sie waren die treibende Kraft, als Sharif vor Kurzem wegen des Vorwurfs der Korruption abgesetzt wurde. Aber damit ist die Korruption in Pakistan noch lange nicht überwunden. Khan: Pakistan steckt in einer schlimmen Krise. Um sich zu bereichern, hat die regierende Elite, darunter Sharif, alle staatlichen Institutionen zerstört. Jetzt sitzt dort die Mafia an der Spitze. Wir müssen die Institutionen wieder stärken. Bedingung dafür ist, dass sich die politischen Kräfte nicht in staatliche Institutionen einmischen.
profil: Ihre Kritiker behaupten, Ihr Erfolg sei darauf zurückzuführen, dass Sie vom Militär unterstützt werden. Khan: Das ist Unsinn. Wir werden von unseren Wählern unterstützt. Im Wahlkampf haben bei einer Veranstaltung in der Stadt Lahore eine halbe Million Menschen teilgenommen. Das beweist, dass wir keine andere Unterstützung brauchen. profil: An der Macht der Armee sind vor Ihnen aber schon einige Regierungschefs gescheitert. Wie werden Sie mit dem Militär umgehen, wenn Sie Premierminister sind? Khan: Ich glaube nicht, dass das Militär noch ein großes Problem für Pakistan darstellt. Selbst die Armee hat eingesehen, dass das Kriegsrecht keine Lösung für das Land ist. Was wir in Pakistan jetzt erleben, ist ein Erstarken der Demokratie. Der Rücktritt von Sharif wegen Korruption und Geldwäsche war der Anfang. Bisher hatten wir eine Kleptokratie ohne moralische Kompetenz. Das hat die Demokratie geschwächt. Dieses Vakuum wurde durch das Militär gefüllt. Alles, was wir jetzt brauchen, ist eine starke Regierung. profil: Abgesehen von den innenpolitischen Herausforderungen, die auf Sie zukommen: Außenpolitisch sind die Beziehungen zu Indien schlechter denn je. Khan: Indien unterstützt den grenzüberschreitenden Terror von Afghanistan nach Pakistan. Das bestätigt unser Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence, Anm.). Beweise dafür hat auch ein indischer Spion geliefert, der vor einiger Zeit in der Provinz Baluchistan festgenommen wurde. Am Terrorproblem in Pakistan ist also Indien schuld. Dennoch will Pakistan Frieden und eine gute Beziehung zu seinen Nachbarn. Das gilt für Indien, aber auch den Iran, Afghanistan und China.
Der Vorwurf, dass Pakistan in Kaschmir den Terrorismus unterstützt, stimmt nicht.
profil: Sehen Sie eine Lösung für den Kaschmir-Konflikt, der Pakistan und Indien seit mehr als 70 Jahren entzweit? Khan: Für den Frieden auf dem Subkontinent ist eine Kaschmir-Lösung unumgänglich. Aber Indien unter Premierminister Narendra Damodardas Modi ist nicht an einem Friedensprozess interessiert – im Gegenteil: Er sabotiert ihn. Der Vorwurf, dass Pakistan in Kaschmir den Terrorismus unterstützt, stimmt nicht. Das Problem besteht vielmehr darin, dass Indien die Freiheitsbewegung der Bevölkerung in Kaschmir mit brutaler Gewalt unterdrückt. Ich bin überzeugt davon, dass die einzige Lösung das Recht auf Selbstbestimmung ist. profil: Seit einiger Zeit ist die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) auch in Afghanistan aktiv. Wie wollen Sie verhindern, dass der IS nach Pakistan kommt? Khan: Tatsächlich ist der IS eine große Gefahr – sehr viel mehr als die Taliban. Wir müssen verhindern, dass der IS Terrorzellen in den Stammesgebieten an der pakistanisch-afghanischen Grenze, wo ein rechtloser Zustand herrscht, bilden kann. Durch eine Verfassungsänderung werden die autonomen Stammesgebiete nun an Pakistan angeschlossen. Das ist ein großer Schritt vorwärts. Damit schließt sich ein Regierungs- und Justizvakuum. Natürlich muss die Grenze zu Afghanistan gesichert werden.
profil: US-Präsident Donald Trump kritisiert Pakistan scharf und droht mit dem Entzug von Milliarden von Dollar. Wie würden Sie Ihre Beziehung zu den USA beschreiben? Khan: Wir wollen keine schlechten Beziehungen zu einer Supermacht. Pakistan braucht Frieden. Wir können mit den USA zusammenarbeiten, um der Region Stabilität zu bringen. Aber wir werden uns nicht mehr für den sogenannten „Krieg gegen den Terror“ instrumentalisieren lassen. Pakistan hat einen hohen Preis dafür gezahlt – 70.000 Pakistanis sind ums Leben gekommen. Wir lassen uns von den USA nicht mehr zum Sündenbock für ihr eigenes Versagen in Afghanistan machen. profil: Pakistan ist eine Nuklearmacht. Sind die Atomwaffen eigentlich sicher? Khan: Natürlich sind sie sicher. Warum sollten sie in Israel oder Indien sicherer sein? Wir folgen hier einem strengen Regime. Ideal wäre natürlich eine nuklearwaffenfreie Welt.
profil: Sind Sie für Entnuklearisierung? Khan: Ja, aber nicht einseitig – also nicht, wenn ein Nachbarland über Nuklearwaffen verfügt. profil: Die Ratingagentur Moody’s hat Pakistan kürzlich von stabil auf negativ heruntergestuft. Wie wollen Sie den riesigen Schuldenberg des Landes handhaben und einen Staatsbankrott verhindern? Khan: Das ist eine enorme Herausforderung. Wir haben ein Haushaltsdefizit in Rekordhöhe, das wir der desaströsen Wirtschaftspolitik der Regierung unter Nawaz Sharif verdanken. Strukturelle Reformen sind dringend notwendig. Wenn wir an der Regierung sind, wird die massive Wirtschaftskrise zur Priorität. profil: Was Frauenrechte und Gleichberechtigung betrifft, hat Pakistan keinen guten Ruf – Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung, die Ungleichheit ist groß. Was werden Sie dagegen tun? Khan: Der Westen hat ein Problem: Er fokussiert immer nur auf unsere Frauen. Was ist mit den Männern, den Behinderten, den Kindern? Was ich sagen will: Das größte Problem, mit dem Pakistan kämpft, ist sein ungleiches System. Dafür sind Armut und mangelnde Bildung verantwortlich. Wir können das Problem durch Erziehung lösen.
Ich frage mich, warum sogenannte freie Gesellschaften ihre Sicht anderen aufzwingen?
profil: Ihre Ex-Ehefrau Reham Khan, eine Fernsehmoderatorin, droht mit der Veröffentlichung eines Buches mit ihren Lebenserinnerungen. Es soll brisante Details über Sie enthalten. Kann Ihnen das Buch politischen Schaden zufügen? Khan: Das Buch ist nichts weiter als eine Verschwörungskampagne gegen mich. Es wurde von meinen politischen Gegnern in Auftrag gegeben, sein Inhalt ist schwachsinnig. Es laufen bereits mehrere Verleumdungsklagen gegen meine Ex-Frau, darunter auch eine meiner ersten Frau Jemima. Khan: Ihre dritte Frau, Bushra Wattoo, trägt Hijab. In einigen Ländern Europas gibt es Verschleierungsverbote. Was halten Sie davon? Khan: Ich bin perplex. Solche Gesetze sind nicht besonders liberal. Mit Verschleierungsverboten werden doch nur die Frauen bestraft. Ich frage mich, warum sogenannte freie Gesellschaften ihre Sicht anderen aufzwingen? Ich glaube, es ist ein Zeichen zunehmender Islamophobie im Westen.
profil: Sie waren früher ein weltberühmter Kricket-Star. Was hat Sie dazu getrieben, Politiker zu werden? Khan: Leidenschaft. Die meisten Politiker betreiben Politik als Geschäft. Wäre ich aus Karrieregründen in die Politik gegangen, hätte ich wahrscheinlich schon vor zehn Jahren aufgegeben. profil: Gibt es etwas, das Ihrer Meinung nach im Sport genauso gilt wie in der Politik? Khan: Unterschätze nie deinen Gegner, auch nicht den schwächsten. Und gib bis zur letzten Minute alles.
Interview: Dorothea Riecker, Islamabad