Der Platz der Märtyrer
Als Amirali das Handy weglegt, kann er nicht wissen, dass er Khodadat nie wieder hören oder sehen wird. Seinen besten Freund, seit er denken kann. Aufgewachsen in einem afghanischen Dorf, so klein, dass Google es nicht auf seinen Karten eingezeichnet hat. Wie Brüder lieben sie sich, reden Tag um Tag, schreiben sich auf Smartphones, wollen zusammen eine Firma gründen. „Wenn ich nicht zurückkomme, dann machst du alleine weiter. Versprich mir das“, sagt Khodadat, bevor er an jenem Samstag aufsteht, sich ein Hemd anzieht und auf die Straße geht. Amirali verspricht es.
Ein paar Stunden später, kurz nach Mittag, 23. Juli. Die BBC berichtet bereits, CNN auch. In Kabul sind Bomben explodiert. Erst werden rund 60 Tote gemeldet, bald sind es mehr als 80. Ein paar Tausend Kilometer im Westen sitzt Amirali kerzengerade im Zimmer seines Wiener Flüchtlingsheims, zehn Minuten von der U-Bahnstation Ottakring. Mehr als 50 Mal ruft er an, keiner hebt ab. Mehr als 20 SMS, niemand schreibt zurück. Melde dich doch, Khodadat.
Amirali Khalili müht sich ab, das alles zu erzählen. Sein bester Freund ist erst seit zwei Tagen tot. Er hat seinen Namen auf Facebook gelesen. In eine Liste geschrieben von jenen, die sich in die Krankenhäuser wagten, die Säcke aufmachten, in denen lag, was von den mehr als 90 Menschen übrig blieb, die an jenem Samstag auf den Straßen der Hauptstadt Kabul ermordet wurden. Es ist der verheerendste Anschlag, der in den vergangenen 15 Jahren in Afghanistan verübt wurde. Seit den 1980er-Jahren wird im zentralasiatischen Land ununterbrochen gekämpft. Allein nach Österreich seien in eineinhalb Jahrzehnten rund 80.000 Menschen geflohen, schätzen afghanische Vertreter in Wien.
Viele schickten ihre Kinder an die Uni, ein paar Dorfbewohner ernannten sogar weibliche Bürgermeister, andere dolmetschten für die Soldaten.
Es ist Montag, Amirali sitzt auf einem Klappstuhl am Balkon des Flüchtlingsheims und fragt sich, warum das alles hier niemanden zu interessieren scheint. Warum färben sie den Eiffelturm nicht aus Trauer im Schwarz-Rot-Grün der afghanischen Flagge? Warum schreiben die Zeitungen lang und ausführlich über den 18-Jährigen, der am Freitag in München neun Menschen erschoss, oder den 27-Jährigen, der sich am Sonntag in Ansbach in die Luft sprengte, während sie über Kabul nur ein paar Zeilen verlieren, die Tat routiniert vermelden? Was ist mit Afghanistan? Was mit Khodadat?
Rund 100.000 Menschen standen rund um dem Deh-Mazang-Platz in Kabul, als die Bomben explodierten. Es war kurz nach Mittag, die Älteren hatten sich in den Schatten gesetzt und sich etwas zum Essen geholt. Doch die Jungen harrten in der Sonne aus. Sie hatten Angst, dass die Polizei ihre Demonstration auflösen könnte, sobald sie eine Pause machen. So gut wie alle der Toten sollen Studenten sein, die Bildungselite, keine 25 Jahre alt, so wie Amirali und auch Khodadat.
Er war am Samstag auf die Straße gegangen, weil er Strom haben wollte. Die Regierung lässt gerade neue Leitungen bauen, will aber einige Gegenden im Hochgebirge umgehen. Dort wohnt eine afghanische Minderheit, die Hazara – schiitische Muslime, die asiatische Gesichtszüge haben und sich als Nachkommen des Mongolenführers Dschingis Khan sehen. In der Geschichte Afghanistans mangelt es nicht an Massakern gegen diese rund zehn Millionen Menschen zählende Volksgruppe. Zuletzt waren es die Taliban, die Leichen von Tausenden auf die Straßen legten, damit die Hunde sie fressen konnten. Im Jahr 2001 stürzte die von den USA angeführte Nato-Allianz (auch Österreich beteiligte sich) die fundamentalistischen Sunniten, die Hazara atmeten auf: Viele schickten ihre Kinder an die Uni, ein paar Dorfbewohner ernannten sogar weibliche Bürgermeister, andere dolmetschten für die Soldaten.
Es sei Khodadat nicht nur um den Strom gegangen. Er habe für Gerechtigkeit demonstriert, gegen die Diskriminierung, die sich langsam wieder in Afghanistan einschleiche, seit die internationalen Truppen abziehen. Der Hazara war ein Teenager, als die Nato-Soldaten das Land zum Teil kontrollierten. Seine Eltern waren vor den Taliban in die Berge geflohen, der Vater war ein Bauer. Der Sohn brachte die Schule hinter sich und studierte Medizin in Kabul. Weil das Geld knapp war, musste er aber abbrechen, begann mit Computern zu arbeiten. Das Geschäft lief gut, man kannte ihn, sagt Amirali.
Das Leben als Außenseiter in der Fremde ist so etwas wie das Leiden der Hazara.
Wie bei so vielen Geschichten, die um die ganze Welt reichen, ist nur schwer zu prüfen, was davon alles stimmt und was eher nicht. Amirali kann nur die Websites herzeigen, die Khodadat gebaut hat, oder die Nachrichten, die sie sich täglich auf Yahoo Messenger, Facebook oder Telegram schickten. Ihre Freundschaft war schon früh auf das Internet angewiesen: Als sie sechs Jahre alt waren, trennten sich ihre Wege. Amiralis Vater sei ein ranghoher Soldat gewesen und vor den Taliban aus dem Bezirk Jaghori in den Iran geflohen. Dort durften er und seine Kinder nur niedrige Arbeiten erledigen, weder studieren noch echte Aufenthaltspapiere beantragen. Für Amiralis Vater wurde es der Steinbruch. Davor floh der Sohn vor mehr als zwei Jahren weiter nach Europa, landete in Wien, wie Tausende vor ihm.
Das Leben als Außenseiter in der Fremde ist so etwas wie das Leiden der Hazara. Bereits vor 100 Jahren retteten sie sich vor Massakern ins benachbarte Pakistan, wo ihre Zahl bis heute auf rund eine Million anwuchs, im Iran wird sie auf eineinhalb Millionen geschätzt. Wie viele der seit den 1990er-Jahren in Österreich ankommenden afghanischen Flüchtlinge zu den Hazara gehören, weiß niemand genau. Die Schätzungen reichen von insgesamt 20.000 bis 40.000 Menschen. Fest steht nur: Die Afghanen gehören seit Jahren zu den größten Flüchtlingsgruppen. Selbst im Jahr 2015 kamen mehr aus dem zentralasiatischen Land als aus Syrien, auch heuer führt der Staat sie in der Statistik der Asylanträge bislang an erster Stelle. Anerkannt werden nur wenige. Seit ein paar Monaten schaltet das Innenministerium eine Kampagne: Sie soll direkt in Afghanistan dafür werben, sich lieber nicht auf die Reise nach Österreich zu machen.
Dienstagabend, Stephansplatz, im Dunkeln brennen Teelichter. Ein paar afghanische Vereine haben eine Mahnwache organisiert, aus dem Lautsprecher hallt Trauermusik an den Touristen vorbei. Mehrere Hundert Hazara und andere Afghanen haben sich im Kreis aufgestellt, links die Frauen mit Kopftüchern und Kinderwägen, rechts die Männer mit rot-weiß-roten Fahnen. „Gemeinsam gegen den Terror“, steht auf einem Schild. Andere halten Fotos von verstorbenen Freunden oder Verwandten in die Nacht. Und auf die Rückseite eines Infoblattes, das Asylwerbern die österreichischen Grundwerte in Zeichnungen zeigen soll, hat ein Junge mit Kugelschreiber geschrieben: „Tod den Verrätern der Hazara“.
Die Hazara halten sich lieber an Handy-Videos im Internet, die Berichte ihrer Verwandten und politischen Führer.
Hier vor dem Stephansdom erzählt man sich viele Gerüchte. Die afghanische Regierung habe das Attentat zugelassen, das sei alles eine Verschwörung gewesen. Zwar bekannte sich die Terrormiliz „Islamischer Staat“ bereits dazu, die ihnen verhassten Schiiten mit zwei Selbstmordattentätern getötet zu haben. Doch Afghanistan ist kompliziert, nur wenige in der Diaspora vertrauen den Staatsberichten, die Medien ordnen sich den starken Männern des Landes zu. Die Hazara halten sich lieber an Handy-Videos im Internet, die Berichte ihrer Verwandten und politischen Führer.
„Terror ist etwas, das man kaufen und verkaufen kann“, sagt der afghanische Parlamentarier Ahmad Behzad, der selbst Hazara ist und bei dem Anschlag am Fuß verletzt wurde. Die Leitung beim Telefonat mit profil knackt, als er erzählt, dass die Polizei noch am Vortag zu ihm nach Hause gekommen sei, um ihn zu warnen, dass die Demonstration nicht sicher sei und abgesagt werden sollte. In den Krankenhäusern würden Menschen liegen, die Kugeln im Körper haben.
Irgendwer habe dort geschossen, vielleicht der IS, vielleicht die Taliban, vielleicht aber auch die Regierung. Kurz bevor die Bomben hochgingen, seien auf einmal die Soldaten von den Straßen verschwunden. „Ich fordere ein internationales Komitee, das lückenlos aufklärt, was geschehen ist“, sagt Behzad. Der afghanische Präsident Aschraf Ghani sagte bislang nur, dass er den Deh-Mazang-Platz so schnell wie möglich in „Platz der Märtyrer“ umbenennen lassen will.
Am Stephansplatz tropft Teelichtwachs auf das Kopfsteinpflaster. Amirali Khalili sitzt vor Kerzen, die das Wort „Kabul“ bilden, über sein Gesicht laufen Tränen. Wenn alles vorbei ist und der Schmerz nachgelassen hat, will er weitermachen, Grafikdesign studieren, eine Firma aufbauen. Das hat er Khodadat versprochen. Ein Büro in Wien wollten sie haben und eines in Afghanistan. Nicht nur dieser Traum starb am Samstag auf dem Deh-Mazang-Platz in Kabul, der schon jetzt für Amirali nur noch jener der Märtyrer ist.
Mitarbeit: Murtaza Tahiri