Polen: Die Selbstverbrennung eines Oppositionellen und die Folgen
Einen Augenblick, bevor Piotr Szczęsny am Nachmittag des 19. Oktober 2017 ein Feuerzeug an seine mit Lösungsmittel getränkte Kleidung hält, muss es still gewesen auf dem Platz vor dem Warschauer Kulturpalast. Szczęsny spielt eine Aufnahme seines Lieblingsliedes "Kocham Wolność" ("Ich liebe die Freiheit") ab: "Ich kann so wenig machen / Ich liebe und verstehe die Freiheit / Ich kann sie nicht aufgeben", hallt es über den Platz. Als der antikommunistische Protestsong verstummt, greift Szczęsny zu dem Behälter neben sich. Dann plätschert Brandbeschleuniger auf Haut, Haare und Kleidung. Ein Feuerzeug klickt.
Die Passanten, die zu Augenzeugen werden, sagen später, sie hätten in der herbstlichen Dämmerung erst gar nicht wahrgenommen, was da passierte. Sie hätten nur das Lied gehört und dann den Schrei.
Piotr Szczęsnys Kinder Sophia und Krzysztof sind sicher, dass nichts, was an jenem Oktobertag geschah, Zufall war. Sein Vater hatte "Kocham Wolność" in den 1980er-Jahren als Chemiestudent gehört. Damals kämpfte er im Untergrund gegen die Kommunisten. Nach der Wende engagierte er sich bei Initiativen, die sich für lokale Mitbestimmung einsetzten. "Der Song war so etwas wie sein Lebensmotto", erzählt Krzysztof, 25 Jahre alt, Softwareingenieur.
Manifest mit 19 Forderungen
Nach dem Tod ihres Vaters fanden die Szczęsnys in dessen Haus in der Kleinstadt Niepolomice bei Krakau ein politisches Manifest mit 19 Forderungen. Jede einzelne beginnt mit dem Satz: "Ich protestiere " Dann geht Szczęsny auf einen Missstand ein, mit dem er seine Tat begründet: Aufhebung der Gewaltenteilung, Knebelung der Medien, Hetze gegen Minderheiten.
Sein Manifest beschreibt ein verfinstertes Land, das auf einem anderen Planeten zu liegen scheint als jenes Polen, das sich im Zentrum von Krakau - wo die beiden Szczęsnys in einer Starbucks-Filiale sitzen - weltoffen zeigt. Von ihrem Tisch aus können sie Einheimischen und Touristen beim Einkaufsbummel zuschauen. Sie blicken auf volle Einkaufstüten und satte Freude an schönen, käuflichen Dingen. Sophia und Krzysztof Szczęsny verraten nicht, was ihnen angesichts der Zufriedenheit um sie herum durch den Kopf geht. Krzysztof knetet seine Finger, Sophia schweigt.
In ausländischen Medien wird ihr Vater mit Jan Palach verglichen, dem tschechischen Studenten, der sich 1968 in Prag verbrannt hatte. Palach war zum Symbol des Protests gegen die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei 1968 geworden. Szczęsny gilt als Symbol des Protestes gegen den Autoritarismus des 21. Jahrhunderts in Mitteleuropa, namentlich die nationalkonservative Regierung in Polen, die von der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) geführt wird.
Nach dem Selbstmord ihres Vaters erhält die Familie Szczęsny Kondolenzbriefe aus dem ganzen Land. Im Internet hingegen wird Piotr verunglimpft. Der Mann, der an Depressionen litt, sei irre gewesen, heißt es. Die Regierung beschuldigt die Opposition, labile Menschen durch ihre Hysterie von einer drohenden Diktatur in den Tod zu treiben.
Suche nach dem Warum
Währenddessen suchen Szczęsnys Kinder noch immer eine Antwort auf die Frage nach dem Warum. "Mein Vater hat in diesem Jahr keine Kürbisssamen ausgesät", sagt Sophia. Der studierte Chemiker habe nie gern etwas angefangen, was er nicht beenden konnte, erzählt die Künstlerin. "Und er wusste, er würde die Kürbisse in diesem Jahr nicht ernten können", sagt sie.
Bereits vor einem Jahr habe ihr Vater den Entschluss zur Selbstverbrennung gefasst, sind sich die Kinder einig. Je mehr die Regierung seiner Meinung nach die Aushöhlung des Rechtsstaats vorantrieb, desto schlechter sei es ihm psychisch gegangen. In den Monaten vor seinem Tod brachte die PiS drei Justizreformen auf den Weg, die das Verfassungsgericht entmachten und die Kontrolle über jedes einzelne Gericht politisieren sollten - ein Vorhaben, das Polen das Stimmrecht im Europäischen Rat kosten könnte.
"Wenn ich mit meiner Mutter telefoniert und sie gefragt habe, wie es Papa geht, meinte sie: ,Er hat mal wieder PiS'", erinnert sich Sophia - als hätte die Regierungspartei bei Szczęsny eine mentale Grippe ausgelöst, gegen die seine Abwehrkräfte im Lauf der Zeit immer mehr schwanden.
Am 19. Oktober 2017 fährt Szczęsny nach Warschau. Seiner Frau sagt er, dass er befreundete Aktivisten treffe. Am Abend erhalten Sophia und Krzysztof Szczęsny eine SMS. Er habe in einer Schublade zu Hause etwas Wichtiges deponiert, schreibt ihr Vater. Piotr habe Dinge normalerweise direkt ausgesprochen, sagt sein Sohn. "Als er uns eine so rätselhafte SMS geschrieben hat, war uns klar, dass wir uns Sorgen machen müssen."
Können sie ihm nach so kurzer Zeit die Tat verzeihen? Sophia und Krzysztof schauen einander an, als müssten sie mit Blicken eine Antwort abstimmen. Sie scheinen das Bild, das sie sich von ihrem Vater bewahren wollen, mit aller Macht im Rahmen halten zu wollen. Es sei jedenfalls kein Suizid wie jeder andere gewesen. "Mein Vater hatte verschreibungspflichtige Medikamente zu Hause. Warum sollte er in eine andere Stadt fahren, um so schmerzhaft zu sterben? Weil er ein Zeichen setzen wollte", sagt Sophia schließlich.
Suche nach Märtyrern
Wojciech Karpieszuk kann sich gut an die Interviews erinnern, die er nach der Tat mit den Kindern von Piotr Szczęsny führte. Der Journalist der liberalen Zeitung "Gazeta Wyborcza" genehmigt sich an der Bar des Kulturzentrums Resort Komedii in Warschau ein Bier. Gerade hat er bei der ersten Hate-Poetry-Veranstaltung polnischer Journalisten Auszüge aus den Hunderten Drohungen vorgelesen, die er als offen Homosexueller bekommt.
Polen sei immer auf der Suche nach Märtyrern, sagt er. Szczęsny nennt sich in seinem Manifest "grauer Mann". Das heißt in Polen Otto Normalverbraucher. Der einfache Mann, der ein sentimentales polnisches Lied wie "Kocham Wolność" liebte, biete sich jenem Teil der Gesellschaft als Held an, der gegen die PiS eingestellt ist, sagt Karpieszuk: "Wir lieben Menschen, die sich aufopfern oder für eine Sache sterben."
Szczęsny sei der Held einer bestimmten Generation. Es seien diejenigen, die sich in der Zeit der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność und des Kriegsrechts von 1981 den Panzern des Generals Jaruzelski entgegenstellten und "Nieder mit der Diktatur!" geschrien hatten. Sie hätten das Gefühl, mit der PiS kehre der Kommunismus nun im Gewand des Antikommunismus nach Polen zurück. In Szczęsnys Tat spiegle sich die Tragödie dieser einst rebellischen und stolzen Generation wider. Er sehe ältere, müde Menschen, die immer einsamer auf armselig besuchten Demonstrationen ihren Zorn auf die Regierung artikulieren, sagt der Journalist: "Sie schauen dann den Jungen zu, die gleichgültig an ihnen vorbei in die Shoppingmalls ziehen und sie höchstens mitleidig mustern."
Polen, die in den 1980er-Jahren auf die Straßen gingen, hätten viel riskiert, damit die Jungen heute so frei leben können. "Jetzt werden sie alt, ihr Lebenswerk liegt vor ihnen in Trümmern, und wenn die Jugend die Hoffnung ist, dann sieht es düster aus", sagt der Reporter. Er verweist auf die jüngsten Umfragen. Der Streit mit Israel um das Verbot, von "polnischen" Konzentrationslagern zu sprechen, nutzt der PiS. Sie nähert sich zum ersten Mal überhaupt der 50-Prozent-Hürde; 2019 finden Parlamentswahlen statt. Besonderen Zuspruch erfährt sie wie üblich bei den jüngsten Wählern.
Ungewisse Zukunft
Hat Szczęsny dem Land also doch einen Dienst erwiesen oder zumindest ein Fanal gesetzt? Der Journalist schüttelt den Kopf. "Noch gibt es hier andere Möglichkeiten, zu protestieren", sagt er. Karpieszuk hat Angst, dass Szczęsnys Beispiel Schule machen könnte. Es gebe viele Menschen, die das Gefühl hätten, dass die Regierung ihnen ein Leben in Polen unmöglich mache. "Ich bin schwul. Ich weiß nicht, ob ich in einem Jahr noch im Land bin, oder ob es unerträglich sein wird", sagt er.
Einige seiner Bekannten haben bereits die Konsequenzen daraus gezogen. Zum Beispiel der Werbefilm-Producer, der auswandert, weil er - wie er sagt - keine Lust mehr hat, nachts vor einem Schwulenclub zusammengeschlagen zu werden. Oder die Filmregisseurin, die in Neuseeland neu anfangen will, weil sie für ihre "unpatriotischen" Projekte keine öffentlichen Fördergelder mehr bekommt.
Doch was ist mit denen, die das Land nicht verlassen können? Weil sie, anders als die Angehörigen des akademischlinksliberalen Milieus, zu arm sind; oder weil sie kranke Angehörige versorgen müssen; oder weil es Job und Sprachkenntnisse nicht zulassen? "Ich bin zum Beispiel Journalist und an die polnische Sprache gebunden", sagt Karpieszuk.
Noch schlimmer treffe es jene, die wie Szczęsny immer nur einen Sehnsuchtsort hatten: ein freies Polen. Wohin soll er denn nun, der "graue Mann", mit seinen alten Solidarność-Abzeichen, seiner Aufnahme des Liedes "Kocham Wolność" und seiner Verzweiflung?
"Er wollte uns aufrütteln"
Ewa Blaszczyk zieht sich ihre Fellmütze tief ins Gesicht, als sie vor der Gedenkstelle für Piotr Szczęsny vor dem Warschauer Kulturpalast innehält. Vor ihr flackert ein Meer von Kerzen in der Dämmerung. Bis zu 20 Menschen kämen jeden Tag seit dem 19. Oktober, um welken Blumenschmuck zu entfernen und Kerzen wieder anzuzünden, die der Wind ausgeblasen hat, sagt sie. Einige versammelten sich spontan, andere verabredeten sich wie sie selbst über oppositionelle Chatgruppen. "In einer Stadt von zwei Millionen sind 20 Leute nicht viel", sagt Blaszczyk: "Er wollte uns aufrütteln, und das ist ihm nicht gelungen."
Immer weniger Menschen kämen zu den Demonstrationen gegen die Justizreform: Sie hätten Angst, ihre Meinung zu äußern, zögen sich zurück, meint sie. Sie selbst gehe einen anderen Weg: "Ich arbeite weniger, verdiene weniger, bin ständig auf Demonstrationen oder organisiere etwas. Ich kann es nicht ertragen, aus einem Land zu kommen, in dem für viele Menschen nur die Dinge zählen, die man essen und kaufen kann", sagt sie.
Blaszcyks Eltern saßen in den 1980er-Jahren als Solidarność-Aktivisten im Gefängnis. Die PiS wolle den Geist der Solidarność vernichten: "Sie nennen uns Verräter, weil wir 1989 am Runden Tisch mit den Kommunisten über eine friedliche Machtübergabe verhandelt haben", sagt sie. Inzwischen müsse jemand wie sie in Polen wieder mit Gefängnis rechnen. Sie habe zahlreiche Verfahren wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht am Hals.
Vor einigen Wochen war eine Gedenkveranstaltung für Piotr Szczęsny beinahe eskaliert. Demonstranten wollten Steine auf das PiS-Hauptquartier in der Nähe werfen. Das sei für sie ein Zeichen, dass Depression bei vielen Oppositionellen in Aggression umschlägt, fürchtet Blaszcyk. Wer sich so klein fühle, reagiere mit Wut. "Die kann sich gegen einen selbst richten, gegen die Regierung, gegen diese ganze gleichgültige Gesellschaft", sagt sie und blickt auf die Kerzen am Boden, die im kalten Wind flackern: "Piotr hatte ein gutes Herz. Es brannte für Polen. Jetzt ist es erloschen."