Ausland

Politik gegenüber China: Abhängig und abgehängt

Die EU ringt um eine neue China-Politik. Die Abhängigkeit bei wichtigen Zukunftstechnologien ist enorm. Das ist gefährlich, auch für Österreich. Gleichzeitig kokettiert die Volksrepublik mit Russland und tritt Menschenrechte mit Füßen. Ein Dilemma ohne einfache Lösungen.

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Von Emilia Garbsch

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Ein „guter alter Freund“ – als Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping vergangene Woche in Moskau den russischen Präsidenten Wladimir Putin traf, sparte Letzterer nicht mit Sympathiebekundungen. Aus gutem Grund: Mit Freunden macht man Deals, und Putin hat im Moment nicht allzu viele. Während die westliche Welt seit mehr als einem Jahr fassungslos auf die russischen Grausamkeiten im Angriffskrieg gegen die Ukraine blickt, schlossen die beiden Autokraten munter neue Wirtschaftsabkommen.

Doch von Freunden lässt sich viel lernen – und das gibt Anlass zur Sorge: Wladimir Putin weiß nur zu gut, wie er Europas Abhängigkeit vom russischen Erdgas zu seinen Gunsten nutzen kann. Hat China eine ähnliche Strategie? Fest steht: Gerade in Schlüsseltechnologien ist die Abhängigkeit vom Reich der Mitte enorm. Und das kann nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch schnell zum Problem werden.

Noch 2018 stuften Xi Jinping und Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei einem Besuch österreichischer Politiker in China die diplomatischen Beziehungen zur „freundlichen strategischen Partnerschaft“ herauf. 2020, nach Beginn der Corona-Pandemie, bezeichnete die damalige Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck Lieferengpässe bei medizinischen Gütern – allen voran aus China – hingegen als „Weckruf“ in Abhängigkeitsfragen. Und 2022 sagte Umweltministerin Leonore Gewessler im Interview mit dem„Kurier“ mit Blick auf den Umstieg auf erneuerbare Energien: „Natürlich müssen wir gut aufpassen, dass wir uns nicht von einer Abhängigkeit in die nächste begeben.“

Erkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Aber wie realistisch ist ein rascher Kurswechsel? Immerhin ist die Volksrepublik mittlerweile jenes Land, aus dem Österreich die zweitmeisten Importe bezieht. Dennoch verortet Michael Berger, Delegierter der Wirtschaftskammer Österreich in Peking, keine direkte kritische Abhängigkeit zu China. „Diese ist vielmehr indirekt über die Verflechtung der österreichischen mit der deutschen Wirtschaft gegeben“, sagt er. Denn: China war 2022 mit einem Handelsvolumen von rund 300 Milliarden Euro zum sieb-ten Mal in Folge wichtigster Wirtschaftspartner Deutschlands. Und das Nachbarland ist wiederum Top-Handelspartner Österreichs. Einbrüche der Beziehungen zwischen China und Deutschland hätten somit unausweichlich Folgen für Österreich, so Berger.

Besagte indirekte Abhängigkeit ist in einem Bereich besonders hoch: Seltene Erden, die es auch für die Energiewende braucht. Rund 90 Prozent des Abbaus kommen aus China – dabei lagern dort nur 30 Prozent der weltweiten Vorkommen. „Da haben wir eine extrem hohe Abhängigkeit, die wir frühestens bis 2050 einigermaßen auflösen können. Und um eine wichtige Alternativquelle, den Donbass in der Ostukraine, der neben Seltenen Erden auch reichlich Titan und Lithium besitzt, wird gerade gekämpft“, sagt Peter Buchas, Experte für chinesische Wirtschaftspolitik.

Zusätzlich steigt der Bedarf an Seltenen Erden in der EU kontinuierlich. Eine weitgehende Unabhängigkeit Europas bis Mitte des Jahrhunderts ist dennoch theoretisch möglich, wie der europäische Verband der Metallindustrie „Eurometaux“ in einer Studie errechnete. Dafür müsse aber eigener Abbau gefördert und eine Kreislaufwirtschaft etabliert werden. Bis dahin sei die Energiewende in der EU von potenziellen Versorgungsschwierigkeiten bedroht, warnten die Studienverfasser.

Auch Valentin Wedl bereitet das Sorgen. Er leitet die Abteilung EU und Internationales der Arbeiterkammer Wien. Die Abhängigkeit von China sei „an Gefährlichkeit kaum zu überbieten“, meint Wedl. Denn: „Die Waren und Dienstleistungen der Zukunft werden in großem Maß in China hergestellt. Es verschiebt sich zunehmend, wer den Ton angibt.“ Das Credo „Wandel durch Handel“ sei gescheitert; es habe Chinas autoritäres System gefestigt, statt zur Demokratisierung zu führen, so Wedl: „Die EU beginnt zwar umzudenken, aber ich verorte keine richtige Trendwende.“

Wohl auch, weil der EU ein neuer Ansatz für ihre Chinapolitik fehlt, außer eben Handel auch ohne Wandel. Das Ringen um einen gemeinsamen Kurs ist aktuell voll im Gange. Immerhin: 2019 definierten die EU-Mitgliedstaaten in ihrem „Strategic Outlook“ ihre neue Haltung zu China: Erstmals sollte das Land als systematischer Rivale betrachtet werden – und zusätzlich weiterhin als Kooperations- und Verhandlungspartner wie auch wirtschaftlicher Wettbewerber.

Ein ziemlicher Spagat, bei dem Österreich sich vorrangig mit der Rolle des Kooperationspartners wohlfühlt, analysiert Waltraut Urban, viele Jahre Industriereferentin und Chinaspezialistin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. „Generell sind die politischen Beziehungen zwischen China und Österreich sehr gut und von wirtschaftlichen Interessen dominiert. Bei sonstigen Fragen hängt man sich eher an die EU-Linie dran, ohne sie selbst besonders aktiv mitzugestalten“, sagt Urban. Gleichzeitig versuche Österreich, in konkreten Fällen seine Interessen zu wahren.

Zu diesen gehöre sehr wohl der Abbau von Abhängigkeiten, betont das Außenministerium:

„Österreich unterstützt die Bemühungen der EU, Kapazitätenaufbau in Schlüsselindustrien wie Halbleiter, Batterien, Wasserstoff und auch Teilen der Pharma- und Gesundheitsindustrie in beziehungsweise Rückverlagerungen nach Europa zu erzielen, um die Sicherheit der Lieferketten zu erhöhen.“

„Der Bezug einer Ware von mehreren autokratischen Regimen ist noch immer besser als die Abhängigkeit von einem einzelnen.“

Mittlerweile sei das Bewusstsein der potenziellen Gefahren einer zu großen Abhängigkeit von China in Österreichs Wirtschaft und Politik stärker ausgeprägt, denkt Günther Oswald. Er beschäftigte sich als wirtschaftspolitischer Berater des pinken Thinktanks „Neos Lab“ intensiv mit Österreichs Abhängigkeiten von Autokratien und Diktaturen wie China. Sie sind überdurchschnittlich hoch. Diversifizierung, wie sie bei der Suche nach Alternativen zu russischem Erdgas stattfindet, sei deshalb zum Abbau kritischer Abhängigkeit entscheidend, so Oswald. Die harte Lehre: „Der Bezug einer Ware von mehreren autokratischen Regimen ist noch immer besser als die Abhängigkeit von einem einzelnen.“ Doch über Jahrzehnte aufgebaute Handelsbeziehungen lassen sich nicht übers Wochenende ändern.

Ein Dilemma, das bei China besonders stark ausgeprägt ist: Die Volksrepublik ist Heimat für fast jeden sechsten Menschen weltweit. China, das ist die Erfolgsgeschichte eines rasanten Aufstiegs, der Millionen von Menschen aus der Armut befreite. China, das ist schon lange nicht mehr nur Auslagerung von billiger Produktion, sondern auch Hightech-Innovator und Digitalmacht. Aber eben auch: ein Regime, das diese Technologie für Überwachung nutzt. Eine Diktatur mit Zensur und Behördenwillkür, die etwa mit den Zwangsinternierungslagern der muslimischen Minderheit der Uiguren eines von vielen Menschenrechtsverbrechen zu verantworten hat. Nur wie damit umgehen?

„Eine eigenständige Strategie der EU gegenüber China, aber auch den USA wäre langfristig im Interesse Europas.“

Irene Giner-Reichl, ehemalige österreichische Botschafterin in China
 

Das Credo der EU-Politik: Diese Ambivalenz müsse man aushalten. Was aber fehlt, ist eine klare und vorausschauend gedachte Linie, analysieren China-Experten unisono gegenüber profil. „Eine eigenständige und langfristige Strategie der EU gegenüber China, aber auch den USA würde langfristig im Interesse Europas liegen“, sagt Irene Giner-Reichl, die von 2012 bis 2017 österreichische Botschafterin in China war. Zu wenig proaktiv sei die Reaktion auf sich verändernde globale Machtverhältnisse. „Gleichzeitig ist es in einer globalisierten Welt nicht weiterführend, wenn Europa viel von dem, was China tut, einfach nur kritisiert oder ablehnt“, meint die Diplomatin.

China liegt mittlerweile auf Platz zwei im globalen Ranking der Forschungsausgaben. Ohne China ist kein Umstieg auf Erneuerbare Energien im adäquaten Tempo möglich – und China selbst muss für die Einhaltung der Klimaziele freilich auch umsteigen.

Zurückhaltende bis vernachlässigte heimische Industriepolitik verstärkte diese Abhängigkeit: Photovoltaik wurde etwa einst federführend in der EU entwickelt. Heute ist die Fertigung von Solarpaneelen zu über 80 Prozent in China konzentriert. Das Land investierte zehnmal so viel wie Europa in die Produktion. Auch hier ein ambivalentes Bild:

Solarstrom wurde durch Chinas Großinvestments erst leistbar. Doch jetzt geht es nicht mehr ohne China. Während der Industriellen Revolution lag China noch zurück. Jetzt ist es der Westen, der bei Erneuerbaren Energien und künstlicher Intelligenz von China abgehängt wurde.

Die EU hält nicht mit, verharrt bisher in einer reaktiven Rolle: Als chinesische Investoren sich vermehrt in kritische Infrastruktur, wie etwa den griechischen Hafen von Piräus, einkauften, führte die EU 2019 strengere Unbedenklichkeitsprüfungen bei Investitionen aus Drittstaaten ein. Nach Lieferengpässen bei Computerchips und Mikroprozessoren entschied die EU-Kommission im Februar 2022, die Produktion verstärkt nach Europa zu holen. Und in Brüssel laufen gerade die Verhandlungen über ein EU-Lieferkettengesetz. Es könnte auch den Handel mit Produkten aus den Uiguren-Lagern verhindern. Maßnahmen, die durchaus helfen, gegenzusteuern – aber eben erst, wenn das Problem spürbar wird.

China hingegen hat einen langfristigen Plan. Bis 2049, dem 100-jährigen Jubiläum der Volksrepublik, will das Land die größte militärische und wirtschaftliche Weltmacht werden. Fünf-Jahres-Pläne, die minutiös eingehalten werden, sollen dorthin führen. Der aktuelle steht vorrangig unter einem Prinzip: Dual Circulation. Für den eigenen Markt soll selbst produziert und Autonomie – vor allem in Zukunftssektoren – gesichert werden. Gleichzeitig will China den Außenhandel als wichtigen Wirtschaftszweig erhalten. So soll die Wertschöpfung im Land bleiben; die Folgen von Handelskriegen reduziert werden.

Zwar setzt China seine langfristigen Ziele strikt durch, die konkreten Maßnahmen sind aber unvorhersehbar. Die Zero-Covid-Politik etwa passte perfekt zur Abschottung. Geschäftsreisen wurden quasi zur Unmöglichkeit, viele entsandte Fachkräfte verließen das Land. Ende 2022 änderte China seinen Kurs in der Covid-Politik erneut abrupt mit umfassenden Lockerungen.

Eine Unvorhersehbarkeit, die auch Auswirkungen auf österreichische Unternehmen mit Standort in China hat: „Jene Firmen, die in China für China produzieren, machen im Allgemeinen gute Geschäfte und denken auch daran, in Zukunft weitere Investitionen zu tätigen“, sagt WKO-Wirtschaftsdelegierter Michael Berger: „Jene, die hauptsächlich im Vertrieb hier tätig sind, sehen die Lage weniger rosig.“ Außerdem haben vor allem aufgrund der Covid-bedingten Restriktionen in letzter Zeit kaum neue österreichische Firmen auf den chinesischen Markt expandiert, so Berger. Aber auch beim Import aus China seien Energiemangel, Transportschwierigkeiten, Lieferverzögerungen und Preissteigerungen mittlerweile ein zusätzliches unternehmerisches Risiko, das es früher im Chinageschäft kaum gegeben habe.

Ähnliches bestätigt Franz S., ein ranghoher Mitarbeiter eines österreichischen Unternehmens, das auch in China für den chinesischen Markt produziert: „In China passiert nichts aus Zufall“, sagt S.

Aus Sorge, dass lokale Behörden womöglich bei kritischen Äußerungen Lizenzrechte entziehen, will er anonym bleiben. Vorsichtsmaßnahmen gehören bei der Expansion nach China dazu, berichtet S.: Sein Unternehmen verzichte bewusst auf chinesische Importe für die Fertigung von Produkten für den westlichen Markt, um unabhängig zu bleiben.

„Es wird für westliche Unternehmen schwerer, aber das Potenzial ist weiterhin da.“

Auch welche Technologien ins Land gebracht werden, überlege die Firma zweimal. Denn China sei bekannt dafür, sie ungefragt zu kopieren.

Der Einfluss der kommunistischen Partei auf Privatunternehmen sei in den letzten Jahren dank Überwachung und Einschleusung von regimetreuem Personal massiv gestiegen. Das Fazit von S.: „Es wird für westliche Unternehmen schwerer, aber das Potenzial ist weiterhin da.“

Die Handelsbilanz Österreichs mit China ist jedenfalls tiefrot. Das Defizit liegt bei mittlerweile rund zwölf Milliarden Euro; Tendenz stark steigend. „In 103 Produktkategorien – darunter Elektronik, Chemie, Minerale/Metalle und Arzneimittel/Medizin – besteht eine kritische Abhängigkeit von Importen aus China“, heißt es in einer Studie des „Mercator Institute for China Studies“ von Ende 2020 mit Blick auf Europa. Das führende Institut für Chinafragen steht übrigens auf der Sanktionsliste der Volksrepublik China – eine Reaktion auf Sanktionen der EU gegen die Uiguren-Lager.

Aber lässt sich Chinas Führung überhaupt noch zu einem Kurswechsel hin zur Einhaltung der Menschenrechte und Demokratisierung bewegen? „Die EU muss es auf jeden Fall weiter versuchen, um glaubhaft zu bleiben“, sagt China-Experte Buchas. Nur wie? „Europa hat in den letzten Jahren durch seine Energie- und Produktionsschwäche seinen globalpolitischen Stellenwert verloren und ist nicht mehr die wirtschaftliche Macht, die Ansagen machen kann. Uns fehlt die Position, effektiv auf Menschenrechte zu pochen.“ Zwar würden Politiker sich bei Reisen nach China damit schmücken, auch über Menschenrechte zu sprechen, doch die chinesische Führung sei davon unbeeindruckt. Stattdessen brauche es die Intensivierung diplomatischer Beziehungen – auch mit Blick auf Chinas Rolle im russischen Angriffskrieg, so Buchas.

Auch angesichts der Spannungen zwischen Taiwan und China ist und bleibt die Haltung Europas zu China eine drängende Frage. „Die gestiegenen Spannungen rund um Taiwan sind in der Tat sehr besorgniserregend. Der Indo-Pazifik ist zur geopolitischen Drehscheibe geworden“, räumt das österreichische Außenministerium auf Anfrage ein: „Was auf jeden Fall vermieden werden muss, ist eine Eskalation, nicht zuletzt auch, um die für den Welthandel essenziellen Seewege offenzuhalten.“

Einfach wird China-Politik nie werden. Aber ein stärkeres Augenmerk wäre dringend notwendig.