Geopolitik

Politologe Münkler: „Das ist eine zweite Zeitenwende“

Mit Donald Trump droht das Ende des Westens, wie wir ihn kennen, warnt der deutsche Politologe Herfried Münkler. Im Interview erklärt er, warum Österreich seine Neutralität überdenken muss.

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Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie das Video vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei Donald Trump im Weißen Haus gesehen haben?

Herfried Münkler 

Selenskyj wurde vor den Augen der Weltöffentlichkeit vor ein Tribunal gestellt. Das war kein emotionaler Akt oder ein Gespräch, das aus dem Ruder gelaufen ist. Das war eine Inszenierung, die von langer Hand geplant war. Sonst wären nicht Vizepräsident J.D. Vance und das halbe Kabinett dabei gewesen. Für die Unterzeichnung eines Rahmenabkommens genügt es eigentlich, wenn die beiden Präsidenten sich vorher kurz der Presse zeigen, Hände schütteln, ein freundliches Gesicht machen und dann wieder gehen. Stattdessen hat Trump im imperialistischen Gestus Druck auf ein Land ausgeübt, das von Russland überfallen wurde und das militärisch mit dem Rücken zur Wand steht.

Selenskyj ist de facto aus dem Weißen Haus rausgeflogen. Gilt das im Umkehrschluss auch für die Europäer und das transatlantische Bündnis? Stehen wir „allein gegen Russland", wie es in unserer aktuellen Cover-Story heißt? 

Münkler 

Ja, das war auch eine Demütigung der Europäer und eine Drohung an sie: Wenn ihr nicht nach unserer, der Washingtoner Pfeife tanzt, dann könnte es euch ebenso ergehen. Das Signal lautet: Glaubt ja nicht, dass ihr eine Position der Eigenständigkeit durchhalten könnt, und schon gar nicht, dass ihr an Gesprächen über die Zukunft der Ukraine beteiligt sein werdet. Und das – wohlbemerkt –, obwohl es sich um die Ostgrenze Europas handelt.

Zur Person

Herfried Münkler, geboren 1951, ist Politologe und einer der wichtigsten geopolitischen Denker Deutschlands. Vor seiner Emeritierung war er Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. 

Das Buch

Am 11. März erscheint Münklers neues Buch „Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ im Rowohlt-Verlag.  

Das ist eine zweite Zeitenwende. Eine, die größer und folgenreicher sein wird als jene vom Februar 2022.

Wie wird diese Szene einmal in die Geschichtsbücher eingehen?

Münkler

Als die ikonische Verdichtung vom Ende des transatlantischen Westens.

Das klingt nach einer noch radikaleren Zeitenwende, als wir sie 2022 erlebt haben.

Münkler

So ist es. Das ist eine zweite Zeitenwende. Eine, die größer und folgenreicher sein wird als jene vom Februar 2022. Die Zeitenwende der Ukraine war ein regional begrenzter Vorgang. Jetzt erleben wir die Auflösung des wichtigsten Pfeilers der bisherigen geopolitischen Ordnung.

Das Ende des Westens?

Münkler

Der Pfeiler ist noch nicht völlig zerstört, aber jeder kann sehen, wo bereits Risse verlaufen. Trumps Administration arbeitet daran, den Pfeiler weiter kaputtzumachen. Das ist wohl das definitive Ende jener Weltordnung, in der wir groß geworden und in die wir hineinsozialisiert worden sind. Eine Ordnung, die gut 80 Jahre lang Frieden und Wohlstand generiert hat. Wer jetzt noch glaubt, er könne mit Trump langfristig Politik machen oder sich auch nur kurzfristig auf ihn verlassen, ist entweder ein Traumtänzer oder ein Einflussagent Russlands.

Führen Sie uns noch einmal in Erinnerung, was da gerade verloren geht. Was hat den Westen so stark gemacht? 

Münkler

 Der transatlantische Westen beruhte auf drei Voraussetzungen. Erstens auf einem gemeinsamen Werteverständnis von Demokratie und Rechtsstaat. Zweitens auf einer geopolitischen Einheit mit dem Atlantik im Mittelpunkt. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg sind die Amerikaner nach 1945 in Europa geblieben. Was den Westen drittens ausmacht ist der atlantische Wirtschaftskreislauf, also die Entstehung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums, zu dem auch Kanada gehört. Zum Westen gehörte vor allem auch der nukleare Schutzschirm, den die USA über Europa gespannt hatten, beziehungsweise die atomare Teilhabe Deutschlands. Im Vergleich zum 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das für Europa eine Zeit des Friedens und des Wohlstands. 

Im Vergleich zum 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das für Europa eine Zeit des Friedens und des Wohlstands

Setzt Trump schlicht um, was die Demokraten schon lange fordern? Nämlich dass Europa mehr für Verteidigung ausgeben muss?

Münkler

Schon Barack Obama hat gesagt, dass die USA sich entscheiden müssen, wo sie präsent sind: im pazifischen oder im atlantischen Raum. Klar war, dass sich der Fokus im 21. Jahrhundert auf den Indopazifik richten wird und die Europäer auf eigene Füße kommen müssen. Das war bei Obama aber nicht hinreichend dramatisch, sondern eine freundliche Beschreibung eines auf lange Zeit angelegten Übergangs. Für Europa war der Status quo eine bequeme und kostengünstige Lösung. Als Trump der 45. Präsident der USA wurde, gab es bereits ernsthafte Drohungen. Etwa die Infragestellung des Artikels 5 der NATO, der besagt, dass alle Mitglieder angegriffenen Verbündeten beistehen müssen. Aber die Europäer, insbesondere Deutschland, haben sich gedacht: Trump ist irgendwann auch wieder weg. Sie haben auf die Herausforderungen mit einer gewissen Bräsigkeit reagiert. Möglicherweise hilft der Druck, den Trump in seiner zweiten Amtszeit ausübt, den Europäern über eine Hürde zu springen, über die sie sonst nicht gekommen wären.

Trump geht jetzt in eine machtbasierte Ordnung über. Hier spielen nur Macht sowie wirtschaftliche, technologische und militärische Fähigkeiten eine Rolle.

Das klingt fast, als müsse man Trump dankbar sein. Hat er das Lager gewechselt und sich zum Handlanger Putins gemacht?

Münkler

Die Europäer können aus dem Worst Case auch einen Nutzen ziehen. „Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch“, heißt es bei Hölderlin. Doch es stimmt: Trump hat die russischen Narrative übernommen. Plötzlich ist die Ukraine genauso schuld an diesem Krieg wie Russland. Die regelbasierte Ordnung sieht eigentlich vor, dass ein Angriffskrieg nicht zu tolerieren ist und sich das überfallene Land verteidigen darf beziehungsweise man ihm beisteht. Trump geht jetzt in eine machtbasierte Ordnung über. Hier spielen nur Macht sowie wirtschaftliche, technologische und militärische Fähigkeiten eine Rolle. Ich habe schon länger das Ende der regelbasierten Ordnung heraufkommen sehen. Aber dass die Amerikaner das in einer so hämischen Weise abziehen, habe ich nicht erwartet. Im Gestus der Konferenz von Jalta im Februar 1945 will Trump die Grenzen zusammen mit Putin neu ziehen.

Seit 1991 ist Neutralität eine kostenlose Teilhabe an Sicherheitsleistungen, die andere erbringen

Was bedeutet der Bruch mit der regelbasierten Ordnung für Österreichs Neutralität?

Münkler

Der alte Westen hatte einen Korridor von neutralen Pufferstaaten. Er begann in Finnland und Schweden, ging weiter über die Schweiz und Österreich bis nach Jugoslawien. Im Kalten Krieg hatte Neutralität einen hohen Stellenwert. Seit 1991 ist Neutralität eine kostenlose Teilhabe an Sicherheitsleistungen, die andere erbringen.

Was sollte Wien also tun?

Münkler

Ein US-amerikanischer Diplomat hat einmal über die Schweiz gesagt, dass sie sicherheitspolitisch das Loch im Donut sei. Dasselbe gilt wohl für Österreich. Der Druck auf beide Länder wird steigen. Wenn die Europäer ihre Rüstungsausgaben anheben, dann wird ihnen auffallen, dass es da zwei Länder gibt, die nichts tun oder wenig. Man wäre in Bern und Wien gut beraten, wenn man proaktiv sagt: Wir werden zusehen, dass wir kampffähige Einheiten auf die Beine stellen, damit wir in der Lage sind, einen Beitrag zur Abschreckung zu leisten. Denn Neutralität ist ein Signal an den Kreml: Wenn du kommst, dann kapitulieren wir auf der Stelle.

Wie sieht ein Europa nach den Vorstellungen von Putin aus?

Münkler

 Die baltischen und osteuropäischen Staaten wieder unter russische Kontrolle bringen. Der Rest ist wirtschaftlich von Russland abhängig. Die NATO gibt es nicht mehr, weil die USA sich aus Europa zurückgezogen haben. Und die EU wäre stark reduziert. Es geht Putin nicht nur um die Ukraine, sondern um den ganzen europäischen Raum.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.