Der Tag nach dem Tag danach
Gestern Nachmittag, kurz vor fünf Uhr (MEZ), gaben die Taliban in Kabul ihre erste Pressekonferenz. Einer der Männer am Podium war Zabihullah Mujahid, ihr Sprecher. Er verlautbart die Positionen der radikal-islamistischen Gruppierung seit langem auf Twitter. Ich folge seinen Nachrichten dort regelmäßig. „Das ist ein stolzer Moment für die ganze Nation“, sagte Mujahid. Und er fügte hinzu: „Wir haben allen vergeben, die gegen uns gekämpft haben.“ Es wäre purer Leichtsinn, diesem Mann Glauben zu schenken.
Wenn sich Geschichte ereignet, dauert es einige Zeit, bis sich der Staub gelegt hat; bis die Verwirrung und die Aufregung, das Wunschdenken und das Schwarzsehen nachlassen und die bare Wirklichkeit vor uns liegt. Noch herrscht überall Chaos. Am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul und im ganzen Land; in den westlichen Regierungskanzleien, die ihre Leute aus der Gefahrenzone holen wollen; in den Köpfen aller Beobachter, die einzuordnen versuchen, was längst noch nicht klar ist.
Thomas L. Friedman, einer der großen weltpolitischen Kolumnisten der „New York Times“, zitiert in seinem aktuellen Kommentar seinen Leitspruch, den er eisern befolgt, wann immer es um den Nahen Osten geht. Er lautet so: „Wenn etwas Großes passiert, unterscheide immer zwischen dem Tag danach und dem Tag nach dem Tag danach. Alles, was wirklich bedeutsam ist, passiert am Morgen nach dem Morgen danach – wenn sich das volle Gewicht der Geschichte und die gnadenlosen Kräfteverhältnisse Geltung verschaffen.“
Jetzt, wenige Tage nachdem die Taliban die afghanische Regierung und mit ihr den Westen, dessen Werte und Einfluss hinweggefegt haben, ist es vielleicht am besten, Fragen zu formulieren, ohne vorschnelle Antworten folgen zu lassen.
Etwa diese:
- Warum waren die Soldaten der afghanischen Regierungsarmee nicht bereit, gegen die vorrückenden Taliban zu kämpfen?
- Wieviel Rückhalt haben die Taliban in der afghanischen Bevölkerung?
- Verfolgen die Taliban des Jahres 2021 dieselben Ziele wie die Taliban in den Jahren 1996 bis 2001?
- Werden sie von manchen strikten Verboten abgehen und ein Stückchen Normalität und ein klein wenig modernes Leben bestehen lassen?
- Sind sie in der Lage, ein Land zu regieren?
- Wird es ihnen gelingen, internationale Verbündete zu finden und etwa von China anerkannt werden?
- Werden sie terroristische Gruppierungen, die ihnen ideologisch nahestehen, in ihrem Land beherbergen?
- Ist die Terror-Gefahr, deretwegen 2001 die USA und ihre Verbündeten das Taliban-Regime stürzten, nicht mehr gegeben? Oder kann sie anders besser bekämpft werden?
- Wird US-Präsident Joe Biden in diesem Punkt Recht behalten?
- Wird der August 2021 als bedeutender Moment des Niedergangs des Westens in die Geschichte eingehen?
- Ist „Nation-building“, also der Aufbau eines demokratischen Staates in einem befreiten Land, endgültig Geschichte?
- Ist es das, was die Friedensbewegung wollte, als sie „USA, raus aus Afghanistan!“ forderte?
Die Liste der Fragen kann endlos fortgesetzt werden. In der kommenden Ausgabe des profil werden wir einige davon bereits präziser formulieren können und – vielleicht – Antwortmöglichkeiten anbieten. Manche werden wohl noch einige Zeit unbeantwortet bleiben. Noch ist der Tag nach dem Tag danach nicht gekommen.
Robert Treichler
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