Proteste im Iran: Die Revolution ist weiblich
Solche Bilder hat man aus dem Iran noch nicht gesehen.
Frauen verbrennen auf offener Straße ihre Kopftücher, schneiden ihre Haare ab, während die Menge „Tod dem Diktator“ ruft. Ein Demonstrant hält ein Plakat in die Kamera. Es ruft dazu auf, Ali Chamenei, den obersten geistlichen und politischen Führer des Landes, im „Mülleimer der Geschichte“ zu entsorgen.
Seit dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini ist im Iran nichts wie zuvor. „Der Geist ist aus der Flasche“, sagt die deutsch-iranische Journalistin Golineh Atai. „Dieser zivile Ungehorsam lässt sich nur schwer wieder einfangen.“ Atai, geboren 1974 in Teheran, kam als Fünfjährige mit ihrer Familie nach Deutschland. Vergangenes Jahr ist ihr Buch über ihr Heimatland erschienen: „Iran – Die Freiheit ist weiblich“. Der Titel liest sich wie eine Prophezeiung. Mit einer solchen „Explosion“, wie sie seit zwei Wochen zu beobachten ist, habe sie nicht gerechnet. „Die Frauen nehmen zweifellos eine Führungsrolle in diesen Protesten ein“, sagt Atai und erzählt, was auf der Social-Media-Plattform Instagram gepostet wird.
Sie rufen: „Frau. Leben. Freiheit.“
Da ist Mahdieh Mohammadkhani, eine bekannte Sängerin mit mehr als 290.000 Followern. Auf Instagram rügt sie die Sittenpolizei: „Meine Gesangsschülerin ist seit einer Woche im Frauengefängnis, weil sie aus dem Taxi die Proteste fotografiert hat. Schämen Sie sich!“
Da ist die Filmemacherin Mojgan Ilanlu, die zuvor in der Kritik stand, von Fördergeldern des Regimes zu profitieren. Am Mittwoch vergangener Woche stellte sie sich ohne Kopftuch vor ein Kino und lud ein Bild davon auf Instagram hoch.
Da ist eine unter dem Künstlernamen „Madmazel“ auftretende Sängerin, die vergangene Woche auf Instagram schrieb: „Meine liebe Familie! Danke, dass ihr euch um mich sorgt. Aber euer Schweigen hat uns in diese Lage gebracht!“
Und da ist das Video, das iranische Schulmädchen in einer Klasse aufgenommen haben. Man sieht sie das Bild des 1989 verstorbenen Revolutionsführers Ayatollah Chomeini von der Wand nehmen und durch den Slogan der Protestbewegung ersetzen: „Frau. Leben. Freiheit.“
Wie starb Mahsa Amini?
Mahsa Amini war mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus dem westiranischen Kurdengebiet nach Teheran gereist. Am 13. September wurde sie von der Sittenpolizei festgenommen, weil sie ihr Kopftuch nicht den Regeln entsprechend getragen hatte.
Kurz nach ihrer Verhaftung wird Mahsa Amini in ein Krankenhaus gebracht. Sie liegt im Koma. Blut rinnt aus ihrem Ohr. Die Behörden behaupten, sie habe an Vorerkrankungen gelitten und einen Herzinfarkt gehabt. Doch das glaubt niemand. Ein Foto von der schwer verletzten Frau geht in den sozialen Medien viral. Alle wollen wissen, was mit Mahsa Amini geschehen ist. Als sie wenige Tage später stirbt, kommt es in den Kurdengebieten zu Protesten, die sich bald über das ganze Land ausbreiten. Seither entlädt sich der Zorn der Frauen auf das Regime in den Straßen und an den Universitäten.
„Wir sehen hier eine Revolution der Frauen“, sagt der US-iranische Historiker Abbas Milani von der Universität Stanford in Kalifornien. Auch die Journalistin Golineh Atai verspürt eine nie da gewesene Hoffnung. Gleichzeitig weiß sie von dem Risiko, das die Frauen eingehen: „Demonstrierende haben Angst, im Gefängnis gefoltert oder erschossen zu werden.“ Bei einem sind sich fast alle Beobachter einig: Es geht längst nicht mehr nur um das Kopftuch. „Diese Frauen stellen die Systemfrage“, so Atai, „Sie fordern den Sturz des
Regimes.“
Könnten Irans Frauen tatsächlich schaffen, was in den vergangenen Jahren immer wieder scheiterte, weil die Proteste brutal niedergeschlagen wurden?
Vielleicht nicht unmittelbar, sagt Milani. Doch die Proteste seien der erste Schritt in einem Prozess, der am Ende zum Sturz eines frauenfeindlichen, theokratischen und brutalen Regimes führen werde.
„Dieser zivile Ungehorsam lässt sich nur schwer wieder einfangen.“
Die Journalistin Golineh Atai kam als Fünfjährige nach Deutschland.
In den 43 Jahren seit der Islamischen Revolution von 1979 hat es zahlreiche Massenproteste gegeben. Im Jahr 1999 gingen Studenten wegen der Schließung einer Zeitung auf die Straße, 2009 protestierte die Mittelschicht gegen Wahlbetrug, 2019 waren es vor allem arme Menschen, die ihrem Unmut über hohe Benzinpreise Luft machten. Sämtliche Bewegungen wurden niedergeschlagen, die Brutalität der Streitkräfte nahm von Mal zu Mal zu. Das Regime zeigte, dass es stärker war.
Diesmal ist es anders. Die Proteste breiten sich mit ungesehener Geschwindigkeit aus. Selbst in religiösen Hochburgen wie der schiitischen Pilgerstadt Ghom gehen Menschen auf die Straße.
Der Fall Amini mobilisiert über soziale und ethnische Grenzen hinweg. Viele identifizierten sich mit Amini, sagt Atai. Ihr sinnloser Tod vereine die Menschen, weil fast jede Familie im Iran Gewalterfahrungen mit den Sittenwächtern machen musste. Deren grüne Minibusse sind im ganzen Land gefürchtet. Wo sie auftauchen, herrschen Willkür und Terror. Ursprünglich waren die Proteste vor allem ein Aufbegehren gegen diese Schikanen. Doch bald wurde mehr daraus.
Der Iran verfügt über wertvolle natürliche Ressourcen, doch die Wirtschaft ist am Ende. Die Sanktionen des Westens haben dem Land zugesetzt, Korruption und Missmanagement tragen zur Armut der Menschen bei. Viele können sich das Leben nicht mehr leisten.
Der Zorn über den Tod Mahsa Aminis trifft auf den Frust der verarmten, perspektivlosen Bevölkerung, die keinen Einfluss auf die Politik des Landes nehmen kann. Es ist eine explosive Gemengelage.
Das Fass läuft über
Seit der Islamischen Revolution von 1979 sind Frauen im Iran Menschen zweiter Klasse. Das Land verlassen oder arbeiten dürfen sie nur mit der Zustimmung eines männlichen Familienmitglieds. Das Mindestheiratsalter für Mädchen beträgt gerade einmal 13 Jahre. Männer können bis zu vier Ehefrauen haben – und diese jederzeit verstoßen. Frauen dürfen sich hingegen nur mit Einverständnis des Ehemannes scheiden lassen. Andererseits besetzen Frauen im Iran auch hohe Positionen. Rund 70 Prozent der Hochschulabsolventinnen sind weiblich. Zwar brauchen sie zum Studieren die Zustimmung ihrer Väter. Doch ist mit den gut gebildeten Frauen eine kritische Masse entstanden, die das alte, frauenfeindliche System ablehnt – und für die der Tod Aminis das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Seit mehr als 40 Jahren patrouillieren die Wächter der Sittenpolizei auf Irans Straßen. Zwischendurch hatte sich die Lage etwas entspannt, viele Frauen haben den Hidschab gelockert. Doch heute sind die Revolutionsgarden, die seit 1979 für die Aufrechterhaltung des politischen Systems sorgen, mächtig wie nie zuvor.
Das liegt auch daran, dass ein Kampf um die Nachfolge des geistlichen Führers tobt. Ali Chamenei ist 83 Jahre alt und gesundheitlich angeschlagen – und Ebrahim Raisi, 61, seit einem Jahr Präsident des Iran, will ihn beerben.
Unter dem Hardliner Raisi werden die Regeln der Religionspolizei noch strikter kontrolliert. Frauen dürfen das Haus nur verlassen, wenn Arme, Beine und Haare vollständig bedeckt sind. Wer dagegen verstößt, riskiert, von der Sittenpolizei auf offener Straße gedemütigt, geschlagen oder verhaftet zu werden.
Bis Freitag vergangener Woche wurden laut Iran Human Rights (IHR), einer in Oslo ansässigen NGO, mehr als 1200 Menschen festgenommen und mindestens 83 Menschen getötet. Unter den Toten waren weitere junge Frauen. Ihre Schwestern, Mütter und Freundinnen verliehen ihrem Zorn und ihrer Trauer in Videos Ausdruck und trieben damit weitere Menschen auf die Straße.
„Ich habe keinen Zweifel, dass das Regime nicht überleben kann.“
Stimmen aus der Diaspora: Stanford-Historiker Abbas Milani lebt seit 1986 in den USA.
Mahsa Aminis Tod müsste, wie auch die zahlreichen Todesopfer unter den Demonstrierenden, „in einer unabhängigen und transparenten Untersuchung aufgeklärt werden“, heißt es von Außenminister Schallenberg auf Anfrage von profil. Schallenberg hatte vorvergangene Woche seinen iranischen Amtskollegen Hossein Amir-Abdollahian in New York getroffen. Dabei habe er auch den Tod der 22-Jährigen zur Sprache gebracht, heißt es aus seinem Büro. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.
Soziale Medien als Gefahr für das Regime
Geht es nach dem Regime, dann soll sich das Konterfei Mahsa Aminis nicht weiter verbreiten. Eine Internetsperre soll verhindern, dass die Bilder der Proteste im Westen ankommen. Das Regime setzt darauf, dass ohne die Flut an Bildern das Interesse der westlichen Medien an den Protesten bald schwindet.
Selbst wenn die Proteste niedergeprügelt werden, wie Experten prophezeien: Die Menschen und ihr Zorn werden bleiben. „Es ist ein historischer Moment“, sagt Historiker Milani. „Ich habe keinen Zweifel, dass das Regime nicht überleben kann.“