Haben die Mullahs gesiegt?
Rund 40 Sekunden dauert das Video von den fünf Frauen, die vor dem Hintergrund einer Hochhaussiedlung tanzen. Sie tragen legere Kleidung und wirbeln ihre Haare durch die Luft, bewegen sich im Takt, wackeln mit den Hüften. Es ist einer dieser Clips, wie sie jeden Tag tausendfach in den Sozialen Medien geteilt werden, dennoch hat er für Aufregung gesorgt. „Calm Down“ heißt das Lied des nigerianischen Sängers Rema, zu dem die jungen Frauen tanzen, und der Titel passt gut, denn gedreht wurde das Video im Viertel Ekbatan im Westen Teherans, der Hauptstadt des Iran, wo Frauen, die tanzen, noch dazu ohne Kopftuch, viel riskieren. Frauen ist das Tanzen in der Öffentlichkeit verboten.
Das Video war nicht weniger als ein Akt des zivilen Ungehorsams, um gegen das theokratische Regime zu demonstrieren. Es reiht sich in die Proteste ein, die den Iran vor einem halben Jahr erfasst haben, und die das Land seither nicht mehr loslassen.
Begonnen haben sie nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini am 16. September vergangenen Jahres. Die sogenannte Sittenpolizei hatte Amini wegen angeblicher Verstöße gegen die Kleidervorschriften festgenommen und offenbar so schwer misshandelt, dass sie kurze Zeit später im Krankenhaus starb. Ihr Tod trieb massenhaft Frauen und junge Leute auf die Straße, doch bald formierte sich eine breitere Bewegung. Unter dem Leitmotiv„Frau, Leben, Freiheit“ riskierten Hunderttausende Haft, Folter und Tod.
Das Regime hat mit aller Härte versucht, die Proteste niederzuschlagen. Mehr als 500 Menschen wurden bisher getötet, rund 20.000 inhaftiert. Laut „Amnesty International“ werden selbst Jugendliche und Kinder, etliche davon nicht älter als 12 Jahre, in Haftanstalten gefoltert.
Regimekritische Parolen und heidnische Feste
Seit 44 Jahren regiert im Iran ein theokratisches Regime, in der letztlich die Mullahs das Sagen haben. „Oberster Führer“ ist Ali Chamenei, ihm untersteht auch die berüchtigte Revolutionsgarde, die „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“, die Ende der 1970er Jahre ihren Anfang nahm und in den Augen der Kleriker noch nicht zu Ende ist. Die Revolutionsgarde ist Teil der iranischen Streitkräfte und hat das Land, inklusive seiner Wirtschaft, weitgehend im Griff. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahrzehnten Aufstände, alle wurden sie blutig niedergeschlagen. Das theokratische Regime des Iran hat sich als resistent gegen echte Reformen erwiesen.
Auch diesmal hat es sich keinen Zentimeter bewegt. Anders als angekündigt wurden die Bekleidungsvorschriften für die weibliche Bevölkerung nicht gelockert, im Gegenteil. Am Ende haben sich die Hardliner durchgesetzt und noch strengere Kontrollen verkündet. Frauen, die ohne Hijab Auto fahren und dabei von Überwachungskameras gefilmt werden, bekommen eine Verwarnung per SMS. Nach einer geplanten Strafreform könnten bei Verstößen gegen die Bekleidungsvorschriften bald auch Umerziehungskurse, Geldstrafen und Ausreiseverbote verhängt werden.
Haben die Mullahs einmal mehr gesiegt?
„Nein“, sagt die iranisch-österreichische Diplomatin Shoura Hashemi, „denn die Menschen demonstrieren weiter, auch, wenn die Proteste weniger geworden sind“. Sie werfen Molotow-Cocktails auf die Einsatz-Zentralen der Schlägertruppen der Basij-Miliz und schlagen den Mullahs auf offener Straße den Turban vom Kopf. Sie versammeln sich zur Feier heidnischer Feste oder protestieren auf subtilere Weise. Im Schutz der Dunkelheit malen sie regimekritische Parolen auf Hauswände. Frauen und Mädchen gehen ohne Hijab auf die Straße; an den Schulen und Universitäten werden die Konterfeis Chameneis entfernt. Selbst Volksschulkinder protestieren gegen das Regime.
Am Anfang steht der Zorn
Die Gewalt hat die Menschen offenbar nicht eingeschüchtert. Der Zorn über den Tod Jina Mahsa Aminis hat sie auf die Straße getrieben. Als das Regime mit Gewalt reagierte, wurden die Menschen noch zorniger.
Das trifft auch auf Pouran Nazemi zu. Anders als die allermeisten Iranerinnen hat die 52-Jährige nichts dagegen, mit richtigem Namen und Foto in westlichen Medien aufzutreten, im Gegenteil. Pouran Nazemi will sich nicht mehr verstecken.
In den vergangenen 40 Jahren wurde die Menschenrechtsaktivistin aus der Stadt Kerman unzählige Male inhaftiert, für Stunden oder auch für mehrere Tage. Das erste Mal war Nazemi gerade einmal 14 Jahre alt; Zuletzt wurde sie im Februar von der Polizei abgeführt, als sie ihren kranken Vater im Spital besuchte. „Zusammengenommen“, sagt sie im Video-Gespräch mit profil, „war ich rund drei Jahre im Gefängnis“.
Hat sie keine Angst davor, irgendwann nicht mehr freigelassen zu werden?
„Natürlich habe ich Angst, wir alle haben Angst“, sagt sie. „Aber wir müssen unsere Angst überwinden, damit wir weitermachen können.“
Pouran Nazemi will etwas sagen, sie hat der internationalen Gemeinschaft etwas mitzuteilen. „Stehen Sie aufseiten des iranischen Volkes und nicht auf jener des Regimes“, sagt sie. Jeder könne Druck auf seine eigene Regierung ausüben, damit die Geschäfte mit den Mullahs ein Ende finden. Das Regime solle isoliert werden, es dürfe kein Geld mehr aus dem Ausland kommen.
Aktionen westlicher Diplomatinnen wie der Schweizer Botschafterin, die Ende Februar im Ganzkörperschleier die schiitische Pilgerstadt Ghom besuchte, bezeichnet Nazemi als „Affront gegen iranische Frauen“.
In der iranischen Bevölkerung herrsche Konsens darüber, dass es kein Zurück zum Status quo vor den Protesten geben könne, analysiert der Thinktank „Crisis Group“. Dem stimmt auch Shoura Hashemi zu. „Dieser Konsens ist tatsächlich neu“, sagt die 40-Jährige, „bei den Protesten von 2009 ging es um die gestohlene Wahl, 2019 um die hohen Benzinpreise. Jetzt steht der Systemwandel im Vordergrund“.
Es geht nicht mehr um Reformen oder eine Lockerung der Gesetze, die Zeit der Kompromisse ist vorbei.
Gefordert wird nicht weniger als das Ende der Islamischen Republik.
Machtkampf der Eliten
Im Iran ist ein neues Gemeinschaftsgefühl entstanden. „Die Proteste werden erstmals von allen Bevölkerungsgruppen getragen“, sagt Hashemi.
Geboren wurde Shoura Hashemi 1982 in Maschhad im Nordosten des Iran. Drei Jahre zuvor hatten die Mullahs Schah Mohammad Reza Pahlavi gestürzt und die Macht übernommen, Hashemi verbrachte die ersten Jahre ihres Lebens mit ihren politisch aktiven Eltern in wechselnden Verstecken. 1987 floh die Familie nach Österreich, Hashemi wuchs in Wien auf, studierte Jus und absolvierte die Diplomatische Akademie. Seit 2008 arbeitet sie im diplomatischen Dienst des österreichischen Außenministeriums. Als die Proteste im Iran losgingen, informierte Hashemi auf Twitter über die Ereignisse. Bis heute postet sie täglich über den zivilen Ungehorsam im Iran.
Ihre Quellen sind hauptsächlich junge Frauen. Die „Generation Z“, die Jahrgänge von etwa 1995 bis 2010, ist mit den Sozialen Medien aufgewachsen und sieht, welche Freiheiten jungen Leute in anderen Ländern genießen. „Früher haben Frauen protestiert, indem sie mit Nagellack in die Schule gingen oder den Hijab etwas zurückschoben“, sagt Hashemi. „Heute tanzen sie im Minirock und riskieren ihr Leben auf der Straße“.
Zwar hat die Frauenbewegung im Iran eine lange Tradition. Neu ist aber, dass sie sich die Sozialen Medien zunutze macht. Hashemi glaubt, dass die aktuelle Protestwelle ohne das Internet bereits im Oktober versandet wäre. Eine der Lehren aus den Massenprotesten von 2019 sei gewesen, alles sofort an die Öffentlichkeit zu tragen, Videos und Fotos mit der Welt zu teilen. Als die Menschen damals wegen der hohen Benzinpreise auf die Straße drängten, kappte das Regime die Internetverbindung und nutzte das Informationsvakuum, um Zehntausende zu ermorden und zu inhaftieren. „Diesmal aber wurde die Weltöffentlichkeit sofort miteinbezogen.“
Im Iran baut ein Massenprotest auf dem nächsten auf, für das Regime wird die Luft dünner. Eine weitere Lehre aus den Protesten von 2009 und 2019 ist, dass es diesmal keine Führung gibt. „So fällt es dem Regime schwerer, die Bewegung zu zerschlagen“, sagt Hashemi.
Wie kann es weitergehen? Was braucht es, damit eine Revolution im Iran gelingt? Sicher ist: Solange das Gewaltregime der Mullahs an der Macht ist, ist ein Wiederaufflammen der Massendemonstrationen nur eine Frage der Zeit. „Spätestens, wenn Chamenei stirbt, werden die Karten neu gemischt“, sagt Hashemi. Dann entstünde ein Machtvakuum, das die Bewegung nutzen könnte.
Die religiöse und politische Führung im Iran ist alles andere als geeint. Da gibt es den „Obersten Führer“ Chamenei, mit 84 Jahren nicht gerade der Jüngste, und dessen Sohn, der ihm nachfolgen könnte. Das will allerdings auch Präsident Ebrahim Raisi, der als besonders radikal gilt.
Experten sehen die aktuellen Giftgas-Angriffe auf Schulmädchen im Iran als Beweis für einen Machtkampf der iranischen Eliten. Chamenei weist die Verantwortung für die Attacken von sich, doch sie sind offenbar gut geplant. Stecken besonders radikale Kräfte innerhalb des Regimes dahinter? „Die Angelegenheit ist jedenfalls ein Zeichen für interne Spannungen zwischen Radikalen und Reformern“, sagt Hashemi.
Der Machtkampf innerhalb der Staatsführung ist nichts Neues. In der iranischen Diaspora kursiert das Gerücht, dass Chamenei aus Teheran weggebracht wurde, weil man sich um sein Leben sorge. Viele Exil-Iraner und Experten befürchten, dass am Ende die Revolutionsgarde putschen könnte. Der Iran könnte dann, ähnlich wie Ägypten, zur Militärdiktatur ohne religiöse Komponente werden.
Phönix aus der Asche
Doch die Frauen, die selbst über ihre Kleidung bestimmen wollen und darüber, wen sie heiraten und wie sie leben, werden nicht verschwinden. Auch die fünf Frauen aus dem Video sind noch da.
Der Clip ging am Weltfrauentag, dem 8. März, schnell viral. Laut Medienberichten wurden die Fünf verhaftet und zu einem „Geständnis“ gezwungen, mittlerweile sollen sie wieder auf freiem Fuß sein.
Die fünf Frauen mag das vorerst eingeschüchtert haben. Doch es gibt andere, die weitermachen. Wie Pouran Nazemi. „Es ist nicht das erste Mal, dass das iranische Volk aufsteht“, sagt sie, „am Ende werden wir den Weg in die Freiheit finden“. Auch, wenn vergangene Protestwellen niedergeschlagen wurden, so seien sie doch nicht umsonst gewesen. „Es ist wie beim legendären Vogel Phönix“, sagt die Menschenrechtsaktivistin, „Aus der Asche entsteht etwas Neues.“