Proteste im Iran: Sie haben die Mullahs satt
Teheran, ein Wohnzimmer: „Ich fühle mich wie ein 17-Jähriger“, sagt Resa und lacht, weil er bereits über 70 Jahre alt ist, ein älterer Herr im weißen Gewand und mit dichtem schwarzen Schnauzbart. Der Grund für seine gute Laune ist die Protestwelle, die seit Wochen durch sein Land rollt. Sie haucht ihm und seiner Frau Fereshteh, 58, neues Leben ein.
Resa und Fereshteh sitzen in ihrem Wohnzimmer in der iranischen Hauptstadt Teheran. Sie sprechen abwechselnd in die wackelige Smartphone-Kamera. Eine Dolmetscherin ist zugeschaltet. Die Angst, dass das Internet – wie derzeit so oft im Iran – ausfällt, erweist sich als unbegründet. Die Verbindung hält.
Die beiden heißen eigentlich anders. Aus Sicherheitsgründen nennt profil weder die Namen noch den beruflichen Werdegang der Eheleute. Resa demonstrierte schon zur Zeit der Monarchie. Auch das Nachfolgeregime, die 1979 entstandene Islamische Republik unter Ajatollah Chomeini, ließ ihn ins Gefängnis werfen, weil er unliebsame Dokumente veröffentlichte. Er wurde gefoltert, lag tagelang im Koma.
Iran schafft die Sittenpolizei ab – ein demokratischer Erfolg oder ein Ablenkungsmanöver?
Offenbar um weitere Proteste zu vermeiden, wurde die Sittenpolizei mittlerweile nach Angaben der Justiz aufgelöst. Generalstaatsanwalt Mohammed Jafar Montazeri wurde von einer halbamtlichen iranischen Nachrichtenagentur mit den Worten zitiert: "Dieselbe Behörde, die diese Polizei eingerichtet hat, hat sie aufgelöst." Was wie ein erster Erfolg der Proteste klingt, bedeutet zunächst noch nicht das Ende der Menschenrechtsverletzungen der Theokratie im Iran. Denn die Regeln, deren Durchsetzung Aufgabe der Sittenpolizei war, wurden nicht aufgehoben. Nach jetzigem Stand bleiben die strengen Kleidungsvorschriften noch in Kraft. Zuständig für die Sittenpolizei ist das Innenministerium, von dem es zunächst keine Stellungnahme gab. „Die Justizbehörde wird sich weiterhin mit dieser gesellschaftlichen Aufgabe auseinandersetzen“, sagte Irans Generalstaatsanwalt Mohammed Dschafar Montaseri bei einer Pressekonferenz in der Antwort auf eine Reporter-Frage. (APA)
Brechen konnte das Regime Resa nicht. 30 Jahre später protestiert er immer noch – Seite an Seite mit Menschen, die seine Enkelkinder sein könnten. Seine Frau und er gehen getrennt voneinander auf die Straße, für den Fall, dass die Sicherheitskräfte sie festnehmen. „Jeder hat Angst. Aber wir müssen einen Beitrag leisten, damit sich etwas ändert“, glauben sie.
Zwölf Wochen halten die Proteste im Iran nun schon an. Wohin sie führen, ist unklar. Sicher ist: Sie haben revolutionäres Potenzial – und bringen das Regime ins Wanken. Seit 1979 ist der Iran ein zwischen autoritären und demokratischen Facetten changierender Gottesstaat. Gesetze folgen der Auslegung des Koran. Anders als bei Massenprotesten in den vergangenen Jahren wird der Widerstand dieses Mal nicht von wirtschaftlichen Nöten befeuert, sondern von dem Wunsch nach einem echten Systemwechsel.
Für die europäische Außenpolitik gleicht der Iran einer tickenden Bombe. Der hochgerüstete Gottesstaat liefert Russland Drohnen und Raketen für seinen Angriffskrieg auf die Ukraine. Und die zähen Verhandlungen, mit dem Ziel, die nukleare Bewaffnung Irans zu verhindern, stehen an der Kippe. Noch versucht die demokratische Welt – allen Sympathiebekundungen für die iranischen Proteste zum Trotz – die Gesprächsbasis zu den Mullahs nicht völlig zu verlieren. Doch die Kritik, dass sie vor dem mörderischen Regime kuscht, wird lauter.
Entfacht hat den nicht mehr abebbenden Widerstand der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini. Sie wurde von der Sittenpolizei wegen eines verrutschten Kopftuchs verhaftet und starb wenige Tage später im Krankenhaus. Seitdem brodelt es in der Islamischen Republik, einem der unterdrückerischsten Regime der Welt. „Nach dem Tod von Mahsa Amini wollten viele Frauen die Schikanen durch die Sittenpolizei nicht mehr dulden“, weiß Fereshteh. „Die junge Generation ist gut informiert. Sie wissen, wie junge Frauen im Westen leben, welche Rechte sie haben und welche Entscheidungen sie für ihr Leben treffen können.“
Der Protest erfasst immer weitere Kreise: Irans Fußballer verweigerten auf der großen Bühne der Weltmeisterschaft das Singen der Hymne. Rapper, Schauspielerinnen und Filmemacher solidarisieren sich öffentlich. Ölfirmen und Autofabriken streiken, Geschäfte sperren zu, um ein Zeichen zu setzen. Frauen zeigen sich unverschleiert auf der Straße, Studenten reißen Sittenwächtern den Turban vom Kopf. Und quer durch Europa demonstriert die iranische Diaspora für einen Wandel.
Hoffnung und Angst. So lässt sich die Stimmung innerhalb der Bewegung zusammenfassen. Hoffnung, weil die Wahrscheinlichkeit eines Umsturzes seit Jahren nicht mehr so groß war. Angst, weil die im Westen bejubelte „Generation Z“, also die nach 1995 Geborenen, alles riskiert, wenn sie auf die Straße geht. Teenager und Jugendliche sterben auf den Straßen des Iran. Sie recken die Fäuste, verbrennen ihre Schleier, reißen Geistlichen den Turban vom Kopf und bezahlen dafür mit dem Leben. Am Anfang übten die Sicherheitskräfte Gewalt noch vor aller Augen auf der Straße aus. Jetzt foltern sie hinter verschlossenen Türen, verschleppen massenhaft Menschen.
„Mittlerweile werden sogar Schulen umgebaut, weil die Gefängnisse voll sind“, sagt Fereshteh. Sie versteht die Sorgen der Eltern im Iran: „Wir brauchen diese Generation für unsere Zukunft. Sie darf nicht eliminiert oder psychisch zerstört werden.“ Doch genau darauf zielt das Mullah-Regime ab.
Mindestens 450 Menschen sollen bei den Protesten bereits ums Leben gekommen sein. Manche ihrer Gesichter und Geschichten kursieren seit Wochen in den sozialen Medien. Erschreckend viele von ihnen sind Minderjährige.
Da ist Nika Shakarami, 16 Jahre alt, die auf eine Mülltonne kletterte und ihren Schleier verbrannte.
Da ist Hadis Najafi, 20 Jahre alt, eine bekannte Tik-Tok-Influencerin, auf die Sicherheitskräfte sechs Kugeln abfeuerten.
Da ist Mehdi Mousavi, 16 Jahre alt, der auf offener Straße erschossen wurde.
Da ist Sarina Esmailzadeh, 16 Jahre alt, eine YouTube-Sängerin, die bei den Protesten mit Schlagstöcken zu Tode geprügelt wurde.
Der Tod dieser jungen Menschen schüchtert viele ein. Gleichzeitig facht das, was man ihnen angetan hat, die Wut auf das Regime weiter an. Nicht allen geht es um das Kopftuch oder feministische Ideale. Unumstritten ist aber, dass Frauen die Speerspitze dieser Proteste sind. Das zeigt schon der Slogan der Bewegung: „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit).
„Die Bewegung hat eine klare politische Botschaft“, sagt Katajun Amirpur, Islamwissenschafterin an der Universität Köln, „nämlich dass ohne die Frauen keine Freiheit möglich ist.“ Gleichzeitig hält sie fest: „Von einer Revolution kann man im wissenschaftlichen Sinn immer nur in der Retrospektive sprechen. Was aus den Protesten wird, kann derzeit niemand mit Sicherheit sagen.“ Amirpur hält drei Szenarien für möglich. „Das eine ist, dass gar nichts passiert und der Protest, wie auch in den Jahrzehnten zuvor, niedergeknüppelt wird. Das zweite ist, dass es tatsächlich funktioniert und es einen demokratischen, einen besseren Iran gibt. Eine dritte Option wäre, dass die Revolutionsgarden als stärkste Kraft im Land das Regime stürzen.“ Dann, so Amirpur, könnte sich der Iran in eine Militärdiktatur verwandeln.
Die junge Generation weiß, wie Frauen im Westen leben und welche Rechte sie dort haben.
Der Geist ist aus der Flasche. Das Regime tut sich sichtlich schwer damit, ihn wieder einzufangen. Anders als in den Jahren zuvor gehen Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Schichten auf die Straße, nicht nur die säkulare Mittelschicht in Teheran, sondern auch konservative Bevölkerungskreise in den Provinzen. Es gibt keine Leitfigur, die Befehle erteilt, was die Sicherheitsbehörden vor Herausforderungen stellt. Bei den Protesten im Jahr 2009 forderte die städtische Mittelklasse faire Wahlen. Jetzt glaubt niemand mehr an Reformen. Der Bewegung geht es um etwas viel Größeres: die Systemfrage. Die junge Generation ist nicht mehr bereit, in einer religiösen Diktatur zu leben.
Ist das der Anfang vom Ende des Mullah-Regimes in Teheran?
Die digitale Sphäre
Ja, glaubt Shoura Hashemi, und der Weg in die Freiheit hänge stark mit dem Internet zusammen. Das Regime, so ihre Prognose, werde mittelfristig in sich zusammenfallen.
Hashemi, 1982 im Iran geboren, floh als kleines Mädchen mit ihrer Familie nach Wien und arbeitet heute als Diplomatin im Außenministerium. Sie wurde in den Untergrund hineingeboren. Ihre Eltern waren Regimegegner und wechselten immer wieder die Adresse, um der Verhaftung zu entgehen. Als Studenten hofften sie noch auf einen säkularen, demokratischen Iran und wurden dann bitter enttäuscht. Ihre Tochter Shoura verspürt 40 Jahre später erstmals wieder Hoffnung. Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt leistet sie Widerstand im Internet. Auch das ist neu an den Protesten: Sie gehen viral.
Seit dem Tod von Mahsa Amini steht Hashemi jeden Tag um sechs Uhr auf. Sie scrollt sich durch Telegram-Kanäle und private Chatgruppen, sortiert Videos und teilt sie mit Hunderttausenden Menschen auf Twitter.
„Diese Videos werden gesammelt und über kurdische Server in die ganze Welt verbreitet, vor allem über den Messenger-Dienst Telegram“, sagt Hashemi. Und: „Ich fühle mich verpflichtet, diese Bilder weiterzuverbreiten, weil ich einer Generation angehöre, die den Iran rechtzeitig verlassen und in Freiheit aufwachsen konnte.“
Das Regime versucht, die Datenflut einzudämmen. Am Abend, erzählt Hashemi, werde in Teheran das Internet gedrosselt. Immer mehr Aktivisten lassen ihr Smartphone zu Hause, aus Angst, gefilzt zu werden. Irgendwie schaffen es die Videos aber hinaus in die Welt. Die Kurden, sagt Hashemi, spielen dabei eine wichtige Rolle. „Sie können die Internetsperre umgehen, weil sie Anbieter im Nordirak nutzen“, sagt sie. Mit dem Tod von Mahsa Amini, einer Kurdin, brach Mitte September der Aufstand los. Zwar flammen die Proteste im ganzen Iran auf, aber in den kurdischen Gebieten im Westen sind sie besonders zahlreich. Auch deswegen nimmt die Revolutionsgarde die Kurden jetzt militärisch ins Visier und bombardiert Ziele im Nordirak.
Wien: Campen vor der UNO
Die Hoffnungen des iranischen Widerstands ruhen nun auch auf der EU. Zwar hat Brüssel bereits Sanktionen verhängt – gegen Mitglieder der Sittenpolizei sowie Propaganda- und IT-Unternehmen –, aber bei den Strafmaßnahmen gibt es Luft nach oben, urteilt Niema Movassat, ein Deutscher mit iranischen Wurzeln, der bis 2021 für die Partei „Die Linke“ im Bundestag saß. Die Sittenpolizisten verdienen ohnehin viel zu wenig Geld, um nach Europa zu reisen. Movassat fordert stattdessen, die iranische Führung gezielt zu sanktionieren, wenn nötig auch auszuweisen und das Vermögen iranischer Oligarchen einzufrieren, ähnlich wie das seit dem Krieg in der Ukraine mit Russen der Fall ist. Kanada etwa hat Sanktionen gegen 10.000 Mitglieder der Revolutionsgarde, der wichtigsten Stütze des Regimes, erlassen. In der europäischen Diaspora wird der Ruf laut, eben diese Revolutionsgarde auf die Terrorliste zu setzen. Niema Movassat hält das für sinnvoll: „Wir sollten nicht mit Mördern an einem Tisch sitzen.“
Aus der EU-Kommission ist zu erfahren, dass für die sogenannte „EU-Terrorliste“ ein Beschluss des Rates und eine von allen Mitgliedstaaten einstimmig angenommene Verordnung erforderlich ist. Voraussetzung dafür ist ein nationaler Gerichtsbeschluss oder eine Verbotsverfügung einer Verwaltungsbehörde. Sprich: Brüssel kann nicht allein tätig werden.
Hassan Nayeb-Hashem, ein wichtiges Sprachrohr der iranischen Diaspora in Wien, will die internationale Gemeinschaft wachrütteln und hat in einer U-Bahn-Unterführung neben den Vereinten Nationen einen Stand aufgebaut. Darauf prangt ein rotes Transparent: „Nieder mit der Islamischen Republik!“
Ich fühle mich verpflichtet, diese Bilder weiterzuverbreiten.
Seit drei Wochen schlafen Nayeb-Hashem und seine Mitstreiter im Freien – trotz Minusgraden und Wind. Er fordert, dass der Iran aus der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen ausgeschlossen wird. In die Wiese vor dem UNO-Gebäude hat er dünne Holzstäbe gesteckt und auf einer Schnur Bilder von den getöteten Demonstranten aufgespannt. Es sind Hunderte.
Einen symbolischen ersten Schritt hat die UNO schon gesetzt. Auf Initiative von Deutschland und Island wurde vergangene Woche eine Resolution verabschiedet. Eine unabhängige internationale Untersuchungsmission soll Menschenrechtsverletzungen im Iran dokumentieren und Beweise für eine mögliche Strafverfolgung der Verantwortlichen sammeln. Teheran reagierte prompt, sprach von einer Anti-Iran-Initiative und erklärte, die Resolution basiere auf Lügen. Genau das ist das Problem: Die UN-Mission hätte wohl kaum eine Chance, in den Iran zu reisen, geschweige denn dort unabhängig zu arbeiten.
Spuren der Gewalt
Dabei wäre genau das jetzt so wichtig. Das weiß Siroos Mirzaei. Der 59-Jährige ist Vorstand des Instituts für Nuklearmedizin am Wiener Wilhelminenspital. Vor mehr als 25 Jahren begründete der Arzt den Verein Hemayat mit, der sich der Aufgabe verschrieben hat, durch Krieg, Folter und Flucht traumatisierten Menschen zu helfen.
Der Nuklearmediziner machte sich international einen Namen damit, Spuren von Schlägen oder Elektroschocks mithilfe der sogenannten Knochenszintigraphie sichtbar zu machen. Dabei sind die Folgen der Misshandlungen auch noch nach vielen Monaten, wenn die äußeren Wunden bereits verheilt sind, nachweisbar. Mirzaei gilt als ein Knotenpunkt der Diaspora. Über ihn laufen Informationen, die Licht in die dunkelsten Ecken des Mullah-Regimes bringen. „Es kommen immer mehr Berichte, dass sowohl Frauen als auch Männer vergewaltigt werden“, sagt Mirzaei.
Da ist zum Beispiel der Fall von Armita Abbasi, einer 20-Jährigen, die sich singend und mit blond gefärbten Haaren auf Instagram gezeigt hatte. Vor drei Wochen verschwand sie. Kurz tauchte sie in einem Spital auf. Ihr Kopf war kahlgeschoren, sie zitterte am ganzen Körper, blutete rektal und vaginal. Die Ärzte stellten einen Darmriss fest. Spitalsmitarbeiter alarmierten die Familie, doch wurde sie nicht zu Abbasi gelassen. Nach zwei Stunden war die junge Frau erneut verschwunden.
Diese Fälle extremer Gewalt schockieren. Sogar die iranische Nationalmannschaft, die von vielen Landsleuten als zu regimetreu kritisiert wird, schickte eine stumme Botschaft der Solidarität nach Hause. Beim WM-Auftakt gegen England schwiegen die Spieler bei der Hymne demonstrativ, später gaben sie klein bei. Der Druck war einfach zu groß. Grund dafür war auch die Inhaftierung der Fußball-Legende Voja Ghafouri. Dieser hatte sich vor dem WM-Start auf die Seite der Demonstrationen gestellt und wurde kurzzeitig inhaftiert.
Bei vielen ist die eigene Nationalmannschaft dennoch als „Team Mullah“ verschrien. Auch im Wohnzimmer von Resa, jenem 71-Jährigen, den profil zum Videochat erreicht. Als Iran am vergangenen Dienstag gegen den Erzfeind USA spielte, stand Resa erstmals auf der Seite der Amerikaner.
„Alle saßen vor dem Fernseher, und alle wollten, dass der Iran verliert“, sagt Resa. „Und als die USA dann tatsächlich gewonnen haben, war ich die ganze Nacht auf.“
Das Feiern der sportlichen Niederlage ist eine klare politische Botschaft an das Regime: Wir wollen euch nicht mehr.
Lesen Sie jetzt weiter:
Über die Entschlossenheit dissidenter Kunstschaffender und ihre Verfolgung im Iran. Plus: Eine kurze Geschichte des Iran. Mehr dazu finden Sie in der profil-Ausgabe 49/2022 - hier als E-Paper.
Sie haben noch kein Abo? Testen Sie profil 4 Wochen kostenlos.