Proteste in China: Mit weißen Blättern gegen Xi Jinping
Es ist für internationale Medien schwierig, Augenzeugenberichte von den Protesten aus China zu bekommen. profil hat über einen freien Journalisten aus Deutschland Kontakt zu einer 22 Jahre alten Chinesin aufgenommen, die seit Kurzem im Ausland lebt und enge Kontakte zu ihren Freunden und zu ihrer Familie in der Provinz Xinjiang hält. Ihr Name kann aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht werden.
Niemand konnte von hier entkommen. Eine simple Konstruktion – ein Draht, der von außen um die Klinke gedreht und an der Wand befestigt ist – hat letzte Woche in Urumtschi, der Hauptstadt der nordwestlichen Provinz Xinjiang, mindestens zehn Menschen das Leben gekostet. In sozialen Medien wird die Opferzahl mit 44 angegeben.
In einem Hochhaus war ein Feuer ausgebrochen – und die Feuerwehr kam nicht durch. Das Viertel war abgeriegelt, eine Folge der strengen Corona-Maßnamen, und die Löschfahrzeuge mussten einen Umweg fahren, bis sie endlich einen Checkpoint fanden, der breit genug für die Kolonne war. Die Straßen in dem Viertel, in dem vor allem Angehörige der muslimischen Minderheit der Uiguren wohnen, sind eng und verwinkelt, nur eine Handvoll Wege führt hinein. Man munkelt, dass so gebaut wurde, damit die Bewohner nicht ohne Weiteres fliehen können.
Tod hinter verschlossenen Türen
Menschen starben im Feuer, weil die Behörden sie im Lockdown zu Hause eingesperrt hatten.
Als die Feuerwehrmänner am brennenden Wohnkomplex ankommen, sind die Bewohner bereits tot. Sie konnten nicht aus ihren Wohnungen, weil die Behörden die Häuser im Lockdown von außen verschlossen hatten. Im Feuer starben auch drei junge Geschwister, die allein zu Hause waren, nachdem ihre Eltern außerhalb der Stadt in eine Quarantäneeinrichtung gebracht worden waren. Drei Monate lang war Urumtschi im Lockdown. Nach der Tragödie befand die Regierung plötzlich, dass die Covid-Gefahr vorüber sei.
Doch das Feuer der Proteste hatte sich entflammt – und breitete sich rasch auf andere Städte aus. Es tobte in Wuhan, wo die Pandemie ihren Anfang genommen hatte, in Shanghai, wo monatelange Lockdowns Bewohner Hunger leiden ließen, es entzündete sich in der Hauptstadt Peking, in Xi’an und Nanjing, in Chengdu, Guangzhou, Lanzhou und Kaschgar im Uigurengebiet. Tausende, vor allem junge Leute, darunter viele Frauen, gingen auf die Straßen. Sie hielten weiße Blätter in die Luft. Das Papier bleibt unbeschrieben, um die Zensur zu umgehen. Etwas draufzuschreiben, ist aber ohnehin nicht notwendig. Jeder weiß, was gemeint ist.
Die Menschen singen die Internationale, skandieren gar: „Schluss mit dem Lockdown!“ und „Nieder mit Xi Jinping!“, „Nieder mit der Kommunistischen Partei!“
Der Flammentod der Menschen in Urumtschi hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Es war nicht die erste Tragödie. Im Frühling sperrte die Regierung rund 25 Millionen Menschen in Shanghai in ihren Wohnungen ein, ohne sie mit Lebensmitteln zu versorgen. Verzweifelte sprangen von den Balkonen in den Tod, danach mussten Anwohner orwellianische Erklärungen unterschreiben, dass sie nichts gesehen hätten. Selbst Schwerkranke wurden gezwungen, vor ihrer Behandlung PCR-Tests zu machen, unter anderem kam so für einen Säugling jede Hilfe zu spät. Zum ersten Mal gab es Proteste, die Leute klopften auf ihren Balkonen mit Holzlöffeln auf Töpfe.
Die Menschen singen die Internationale, skandieren gar: „Nieder mit Xi Jinping!“
Überall im Land wurden Menschen in ferne Quarantäne-Zentren gefahren, von ihren Kindern getrennt, die Haustiere erschossen. Nach dem Ende des Lockdowns im südchinesischen Foshan rannten so viele Hungrige zu den obligatorischen PCR-Tests, dass eine Massenpanik ausbrach.
„Freedom is just another word for nothing left to lose“, heißt es in den sozialen Medien. Die Proteste zeigen, wie verzweifelt die Lage geworden ist. In Shanghai und Peking kam die Polizei mit den Verhaftungen nicht hinterher, nur vereinzelt wurden Menschen von zivilen Polizisten abgeführt. Darunter war auch der Korrespondent der britischen BBC, der festgenommen und geschlagen wurde.
Während kritische Postings auf Weibo, dem populärsten sozialen Netzwerk in China, binnen weniger Minuten zensiert werden und nur ein paar Künstler mit symbolischen Botschaften durchkommen, finden sich auf Twitter Hunderte Videos von Protesten und Polizeigewalt.
Die Kommunikation mit Leuten in China ist schwierig geworden. In Shanghai kontrolliert die Polizei die Handys von Verdächtigen, schaut nach, was sie auf Telegram schreiben. Doch es gibt Mittel und Wege. Jemand schickt etwa ein Foto von einem Plakat, auf dem Xis Gesicht mit einem weißen Blatt Papier verklebt ist, und schreibt: „Das ist sehr unhöflich!“ So lassen sich Informationen verbreiten, ohne sich angreifbar zu machen. Was gemeint ist, weiß ohnehin jeder.