Proteste in Serbien: Aleksandar, der allzu Mächtige
Die Blumen sind verschwunden, nur ein mit kyrillischen Lettern beschriebener Zettel ist an der Trauerstätte zurückgeblieben. Das weiße Din-A4-Blatt ist an die Mauer der Vladislav-Ribnikar-Schule im Zentrum von Belgrad geheftet. Vračar, das Viertel, in dem sie liegt, gilt als gut situiert, erzählt Milica Zivić, 30 Jahre, die hier aufgewachsen ist: Ausländische Botschaften befinden sich hier, die Nationalbibliothek, Villen mit Vorgarten, das Museum des Physikers Nikola Tesla.
Hier, in der einkommensstärksten Ecke Belgrads, ereignete sich die Katastrophe.
Es ist Anfang Juli, ein lauer Abend, als Milica im Sommerkleid vor dem Tor steht und liest, was auf dem Zettel steht: „Unsere Engel, ruhet in Frieden. Danke für euer Lachen und Danke für Alles, dass ihr für unsere Schule getan habt. Danke, dass ihr da wart.“
Vor zwei Monaten, am Morgen des 3. Mai, lief hier ein 13-Jähriger mit zwei Waffen seines Vaters Amok. Danach ging er in den Schulhof, rief die Polizei an und stellte sich. Die Namen seiner Opfer hatte er sich im Vorfeld auf einer Liste notiert. Ihre Initialen stehen, mit dem Geburtsdatum in Klammer, auf dem Brief an der Mauer. Sieben Mädchen und ein Junge, alle zwischen 12 und 14 Jahre alt.
Milica wohnt zehn Minuten von der Schule entfernt, aber sie ist zum ersten Mal an der Trauerstätte. Sie hatte Anfang Mai ihre eigene Tragödie zu verarbeiten, den plötzlichen Tod ihrer Mutter. „Ich konnte nicht noch mehr Leid ertragen. Ich hätte auch niemanden trösten können“, sagt sie. Einen Tag, nachdem sie ihre Mutter beerdigte, wurde Serbien von einem weiteren Amoklauf erschüttert. Ein 21-Jähriger, der Sohn eines Militärs, schoss in einem Dorf südlich von Belgrad auf Passanten, acht Menschen starben. Auch dieser Schütze benutzte die Schusswaffe seines Vaters.
Größten Proteste seit über zwanzig Jahren
Zwei Blutbäder in 48 Stunden. Diese Tragödie hat Serbien verändert und Zehntausende auf die Straße getrieben. Beobachter sind sich einig: Serbien erlebt die größten Proteste seit dem Sturz des Machthabers Slobodan Milosević im Oktober 2000. Der Vergleich mit dem historischen Datum, das eine Art Mauerfall in der jüngeren, serbischen Geschichte darstellt, mag verwundern. Ist ein Amoklauf – so erschütternd er auch sein mag– nicht ein singuläres Ereignis, gegen das eine politische Führung wenig tun kann? Gehen die USA, die solche Massenmorde routinemäßig erleben, nicht auch schnell zur Tagesordnung über?
Laut dem Genfer Forschungsinstitut „Small Arms Survey“ liegt Serbien beim Pro-Kopf-Besitz illegaler und legaler Waffen auf Platz Drei weltweit
Laut dem Genfer Forschungsinstitut „Small Arms Survey“ liegt Serbien beim Pro-Kopf-Besitz illegaler und legaler Waffen auf Platz Drei – hinter den USA und dem Jemen. Die Regierung hat die Ausgabe neuer Waffenscheine für zwei Jahre ausgesetzt und eine landesweite Entwaffnungskampagne eingeleitet, bei der Menschen ihre illegalen Bestände straffrei an die Polizei abgeben können. So gingen immerhin 100.000 Waffen retour an den Staat. Aber damit gibt sich die Bürgerbewegung nicht zufrieden. Sie spricht von einer „Kultur der Gewalt“, mit der Politiker und Medien ihrer Ansicht nach seit Jahren den öffentlichen Diskurs vergiften. Sie erzählen von Reality-TV-Shows, in denen ehemalige Häftlinge auftreten und über Gewaltfantasien und Vergewaltigungen sprechen. Hinzu kommt eine ausgeprägte Hooligan-Kultur, die bis in den Kosovo reicht und dort für Krawall sorgt, wenn es politisch opportun ist. Schuld an diesem aufgeheizten Klima trägt laut der Protestbewegung auch die Rhetorik der Regierung, die Oppositionspolitiker diffamiert und Andersdenkende zu Feindbildern erklärt.
So wurde unlängst bekannt, dass die serbische Regierung bei einem israelischen Unternehmen eine Schmutzkübelkampagne gegen den Oppositionellen und Geschäftsmann Dragan Djilas bestellte – inklusive gefälschter Dokumente über geheime Konten in Mauritius und der Schweiz. Nichts davon entsprach der Wahrheit.
Im Gespräch mit profil (Das Interview demnächst auf profil.at ) sagt Djilas: „Wenn du so oft am Cover der Boulevardmedien bist, ist es schwierig den Menschen zu erklären, dass nichts daran stimmt.“
Selbst, wenn die Proteste über den Sommer abflauen oder gar verebben sollten, drängt sich doch eine Frage auf: Wie konnte es in Serbien so weit kommen, ein Staat, der seit 2013 Beitrittsgespräche mit der EU führt und formal als das am weitesten fortgeschrittene Land auf dem Balkan gilt, wenn es um die Erweiterung geht?
Politik mit Feindbildern
Die Antwort ist komplex. Sie hat mit Serbiens strategischer Lage zwischen Ost und West zu tun und mit der Angst der Europäer, auf dem Balkan könnte ein neuer Krieg ausbrechen. Vučić hat das früh erkannt. Selbst seine größten Kritiker bezeichnen ihn als einen gewieften Strategen, der geschickt die öffentliche Meinung formt. PR-Kampagnen waren sein Einstieg in die Politik. 1998, als der Kosovokrieg begann, war Vučić Informationsminister im Kabinett von Slobodan Milosević, der ein Großserbien anstrebte und sich dabei ethnischer Säuberungen und Vertreibungen schuldig machte. Vučić führte damals Strafgelder für regierungskritische Journalisten ein und verbot ausländische Fernsehsender. Mittlerweile hat er sich vom Ultranationalisten zu einem Politiker gewandelt, der im Westen trotz seiner Nähe zu Russland als Pragmatiker gesehen wird. In Brüssel hoffen viele, mit ihm als starken Mann den Kosovo-Konflikt beenden zu können. Seit 2017 ist Vučić Präsident, davor war er Ministerpräsident des Landes. Er hat ein System errichtet, das jenem von Viktor Orbán in Ungarn ähnelt: gleichgeschaltete Medien, Kampagnen gegen politische Gegner und eine große Portion EU-Skepsis. Der Opposition fällt es zunehmend schwer, sich bei Wahlen Gehör zu verschaffen.
Gegen seinen autoritären Kurs gehen in Serbien seit Jahren Menschen auf die Straße: 2017 im Rahmen von Studentenprotesten, zwei Jahre später auf den sogenannten Sonntagsdemos. Bereits damals prangerten viele die „verbale Gewalt“ der Regierung an, die Oppositionelle und Andersdenkende als Diebe, Kriminelle oder Landesverräter diffamierte. Wer in Serbien demonstriert, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein vom Ausland finanzierter Agent zu sein.
„Würde das stimmen, wäre ich reich“, lacht Milica. Sie habe die ständigen Feindbilder und Verschwörungstheorien satt, erzählt sie, aber das Attentat habe das Fass zum Überlaufen gebracht. Denn die Art und Weise, wie die serbische Regierung mit dem Tod der Kinder umgegangen ist, lässt Milica fassungslos zurück.
So machte Bildungsminister Branko Ružić „westliche Werte“ für das Drama verantwortlich. Mittlerweile ist er zurückgetreten. Milica findet das unbegreiflich: „Die Menschen hier schauen kein CNN, sie schauen serbische Medien.“ Und im TV läuft überwiegend: Aleksandar Vučić.
Durchschnittlich eine Rede pro Tag
Es gibt ein Bild, das auf den Punkt bringt, was Milica meint.
Vojislav Mihailović hat es auf seinem Smartphone gespeichert, das er wortlos über den Tisch schiebt. Es zeigt eine Rede von Vučić vom vergangenen Donnerstag, einen Tag, bevor er zum Migrationsgipfel nach Wien reiste. Die Rede wurde zeitgleich auf allen reichweitenstarken Kanälen gesendet: 16 Mal dasselbe Standbild. Vučić spricht rund dreißig Minuten lang und verbreitet unter anderem die Unwahrheit, dass die internationale Gemeinschaft ethnische Säuberungen an Serben im Kosovo „plane, organisiere und unterstütze“. Ausländische Medien unterstützen dies, behauptet er weiter und schlägt Alarm: „Die Dinge sind außer Kontrolle.“ Mit Vučić ist Serbien im Dauerausnahmezustand, während sich viele, die auf die Straße gehen, nach Normalität und Versöhnung sehnen.
Der Job von Mihailović ist es, den Puls dieses gespaltenen Landes in Umfragen zu messen. Er arbeitet für „CRTA“, ein Institut, das sich mit Wahlbeobachtungen und Medienanalysen einen Namen gemacht hat. Die Forschungsstelle hat unter anderem die Mediendominanz von Vučić gemessen. Das Ergebnis: In den vergangenen zwölf Monaten wandte er sich durchschnittlich einmal pro Tag mit einer Rede an die Nation. „70 Prozent der Menschen in Serbien haben nur Zugang zu diesen regierungsnahen Medien. Sie sind Vučićs wichtigste Maschine, und genau deswegen richtet sich der Protest auch gegen sie“, sagt Mihailović.
Die Medien sind Vučićs wichtigste Maschine
Derzeit untersucht „CRTA“ die Auswirkungen der Proteste mittels Telefonumfragen. Das erste Ergebnis: 35 Prozent der Befragten waren bereits selbst auf der Straße, die Hälfte sympathisiert mit den Zielen der Bewegung, und 93 Prozent haben von den Protesten zumindest gehört. Und noch etwas ist interessant. Zwar ordnen sich mehr als 80 Prozent der Demonstranten der Opposition zu. Doch 64 Prozent jener, die mit den Protesten sympathisieren, sagen, dass sie unentschlossen sind, wen sie wählen sollen. Mihailović sagt: „Ich glaube, dass sich die Dinge bewegen. Menschen, die vorher nicht die Opposition gewählt haben, können sich das plötzlich vorstellen.“
Opposition: Fragmentiert und zerstritten
Für Djordje Miketić sind das gute Nachrichten. Der groß gewachsene Mann im Anzug steht im Eingang des serbischen Parlaments – seit zehn Monaten sein Arbeitsplatz. Nach den letzten Wahlen zog der studierte Zahnmediziner und Umweltaktivist im August 2022 mit der links-grünen Koalition „Moramo“ (Wir müssen!) ins Parlament ein. 4,5 Prozent fuhr diese bei der letzten Wahl ein, was sich im Vergleich zu den Regierungsparteien, die über 50 Prozent erhielten, eher bescheiden ausnimmt.
Miketić spricht aber auch nicht von der Regierung, sondern immer nur von „dem Regime“. Beamte, die im öffentlichen Dienst arbeiten, müssten bei der Wahl für Vučićs rechts-konservative Fortschrittspartei (SNS) stimmen, wenn sie ihren Job behalten wollen. Das zeigte sich sehr deutlich am 26. Mai, erzählt Miketić. In einer Art Kräftemessen mit den Anti-Regierungsprotesten kündigte Vučić die „größte Kundgebung in der serbischen Geschichte“ an. Regierungsnahe Medien spulten einen Countdown bis zum großen Tag ab. Lokale Parteifunktionäre und Direktoren öffentlicher Betrieben wurden angewiesen, Busse voller Unterstützer nach Belgrad zu karren. Es war ein kalkulierter Aufmarsch nach Quote.
Wie kann jemand, der nicht über solche staatlichen Ressourcen verfügt, da mithalten?
Es ist das Dilemma jeder illiberalen Demokratie. Wie wählt man einen demokratisch gewählten Politiker, der in seiner Amtszeit die Demokratie eingeschränkt hat, wieder ab?
Auffällig ist, dass sich Oppositionelle wie Miketić derzeit nicht in die erste Reihe drängen. Niemand will sich den Vorwurf gefallen lassen, aus einem Massenmord an Schülern politisches Kapital zu schlagen. Das ist aber nicht der einzige Grund, sagt Vedran Džihić vom österreichischen Institut für internationale Politik (oiip): „Die Opposition in Serbien steht schlecht da und das schon sehr lange. Sie ist zerstritten und fragmentiert. Die Gräben und ideologischen Spannbreiten sind sogar noch größer als beim Sturz von Milosević. Eine große Galionsfigur sehe ich derzeit nicht.“ Das macht die Proteste aber nicht weniger beachtlich, glaubt Džihić , denn auch ohne charismatische Führungsfigur gehen weiterhin Zehntausende auf die Straße.
Die EU spricht mit Vučić, als wäre er ein Demokrat. Aber er täuscht sie. Innenpolitisch agiert er ganz anders als im Ausland.
Miketić glaubt zu wissen, warum: „Diese Proteste sind der Verstärker für alle Ungerechtigkeiten und Erniedrigungen, die wir erlebt haben. Alles, was die Regierung im Anschluss der Attentate tat, hat noch mehr Öl ins Feuer gegossen.“ Nach dem Amoklauf an der Schule hielt Vučić eine fast einstündige Rede an die Nation, wobei er auch diesmal nicht besonders feinfühlig vorging. Er bezeichnete den 13-jährigen Schützen als „kleines Monster“, das „nie mehr das Sonnenlicht sehen werde“. Am Ende sagte er noch: „Ich war dafür, die Todesstrafe wieder einzuführen. Aber Ana war dagegen.“
Ana Brnabić ist die Premierministerin Serbiens. Obwohl das Präsidentenamt ein rein Repräsentatives ist, hat sie deutlich weniger zu sagen als der „Chef“. Das wäre in etwa so, als würde in Österreich Bundespräsident Alexander Van der Bellen den Ton angeben und Karl Nehammer bereitwillig mitmachen.
Apropos Nehammer.
Eine "starke Achse" gegen illegale Migration
Österreichs Bundeskanzler lud den serbischen Präsidenten gemeinsam mit Ungarns Premier Viktor Orbán vergangenen Freitag zum Migrationsgipfel nach Wien. Es war bereits das dritte Treffen dieser Art. Nehammer will mit den Autokraten aus Ost,- und Südosteuropa eine „starke Achse gegen illegale Migration“ bilden. Vučić mag innenpolitisch so stark unter Druck stehen, wie seit Beginn seiner Laufbahn nicht mehr, doch außenpolitisch läuft es richtig gut. Das liegt am Krieg in der Ukraine. Zwar hat Serbien formal keine Sanktionen gegen seinen traditionellen Alliierten Russland verhängt, doch hat Vučić auf Druck der Amerikaner einem Waffendeal zugestimmt. Denn er verfügt über etwas, das kein westliches Land in dieser Form liefern kann: Munition sowjetischen Kalibers, die in Kiew dringend gebraucht wird. Vučić, monatelang der Buhmann in Europa, wird seitdem wieder als zuverlässiger Partner gehandelt, mit dem man trotz der pro-russischen Stimmung in Serbien vernünftig reden könne. „Der Westen will Stabilität und er ist der Einzige, mit dem man zusammenarbeiten kann“, sagt jemand, der das politische Parkett in Belgrad und Brüssel gut kennt. In Zeiten des Ukrainekrieges könne man sich keine „neue Flanke“ auf dem Balkan leisten. All das klingt, als habe der Westen derzeit mehr Angst vor Vučić als umgekehrt. Und noch ein Wunsch steckt hinter der Anbiederung: Der Westen hat die Hoffnung, Vučić in den transatlantischen Orbit zu locken, noch nicht ganz aufgegeben.
Miketić ärgert sich darüber: „Die EU spricht mit Vučić, als wäre er ein Demokrat. Aber er täuscht sie. Innenpolitisch agiert er ganz anders als im Ausland. Ich wundere mich manchmal, dass die EU dieses Spiel nicht längst durchschaut hat.“
Während Vučić in Wien mit Karl Nehammer eine gemeinsame Pressekonferenz gibt, ziehen in Belgrad Demonstranten vor das Büro des öffentlich-rechtlichen Senders „RTS“. Dieser soll endlich wieder allen gehören, und nicht nur einem Mann allein.