In Serbien finden die größten Proteste seit dem Ende von Slobodan Milošević statt. Aber diesmal wollen die Studenten keinen Umsturz, sondern etwas sehr Banales: Einen Staat mit Gewaltenteilung.
Zum fünften Mal versammeln sich die Demonstrierenden in diesem Winter vor der serbischen Botschaft in Wien. Gemeinsam wird an diesem ersten Februartag um 11:52 Uhr geschwiegen, gefordert und gehofft. Wie immer ist auch die 27-jährige Katarina M. dabei. Die Mitorganisatorin von „Blokada Beč“ (wortwörtlich: Blockade Wien) gehört als eine von rund 100.000 Menschen serbischer Herkunft zur größten ausländischen Diaspora Wiens. Wie so viele ihrer Landsleute ist die freischaffende Künstlerin für ihr Studium im Hauptfach Geige von Belgrad nach Wien gezogen. Aber ihre Gedanken sind derzeit in ihrer alten Heimat.
Katarina, 27, aus Wien unterstützt die aktuellen Massenproteste in ihrer Heimat Serbien.
Seit dem Einsturz eines Bahnhofsvordachs mit 15 Toten wird Serbien von Massenprotesten erschüttert. Sie haben eine Dimension erreicht, die das Balkanland zuletzt vor einem Vierteljahrhundert gesehen hat. Und das ist, wenn man die jüngere Geschichte Serbiens kennt, ein beeindruckender Richtwert. Denn damals, im Oktober 2000, wurde der vom UN-Kriegsverbrechertribunal angeklagte Langzeitautokrat Slobodan Milošević gestürzt.
Die Proteste seien eine Chance für Serbien, meint Katarina M. Sie erhoffe sich nicht nur, dass die Verantwortlichen für das Bahnhofs-Unglück zur Rechenschaft gezogen werden. In Folge der Proteste sollen auch funktionierende Institutionen und so die Voraussetzungen für eine, wie sie mehrmals wiederholt, „gesunde Gesellschaft“ in Serbien geschaffen werden. Katarina M. hat nicht vor, zurück nach Serbien zu gehen. Unabhängig davon, wie die Proteste dort ausgehen. Trotzdem möchte sie ein Zeichen der Solidarität setzen. Das Herz, das sie bei der Demonstration Anfang Februar in ihrer rechten Hand gehalten hat, soll „Unterstützung, Liebe und Dankbarkeit“ für die Demonstrierenden flussabwärts der Donau symbolisieren.
In Serbien wird seit Jahren demonstriert
Die Proteste haben eine Kraft entwickelt, die überrascht. Ende Jänner dieses Jahres trat aufgrund des Drucks Serbiens Ministerpräsident Miloš Vučević zurück, nachdem zuvor bereits Infrastrukturminister Goran Vesić sowie Handelsminister Tomislav Momirović ihre Posten abgegeben hatten. Davon zeigen sich die Studierenden in Serbien unbeeindruckt. Die Macht im serbischen Staat liegt nicht bei der Regierung, sondern bei einem Mann, der laut Verfassung eigentlich ein repräsentatives Amt innehat: Präsident Aleksandar Vučić, dem starken Mann Serbiens, bei dem alle Fäden im Staat zusammenlaufen.
Vučić, der in den Neunzigerjahren Informationsminister von Milošević war, hat es in den vergangenen zehn Jahren geschafft, die Medien auf Linie zu bringen. Laut der serbischen Nichtregierungsorganisation „CRTA“ wandte er sich 2023 durchschnittlich einmal pro Tag mit einer Rede an die Nation. Diese Mediendominanz ist mit ein Grund, warum Vučić Proteste bisher nicht gefährlich werden konnten. Seit sieben Jahren gehen in Serbien Menschen auf die Straße. Mal ging es um den Bau einer Lithium-Mine, zuletzt um Tricksereien bei den Parlamentswahlen im Dezember 2023.
Es gab seit dem Jahr 2000 keine Proteste mehr, die sich so weit über das Land verteilt haben
Florian Bieber, Südosteuropa Experte an der Universität Graz
Warum dieser Protest anders ist
Die aktuellen Proteste sind anders, sagt der Balkan-Experte Florian Bieber von der Universität Graz. Denn nicht nur Studierende protestieren, sondern auch Milieus, die von der Regierung abhängig sind: Lehrerinnen, Pensionisten, Veteranen und auch Bauern, die sich mit ihren Traktoren schützend vor die Studierenden stellen. „Die Proteste der vergangenen drei Monate übersteigen all das, was wir in Serbien in den letzten 25 Jahren gesehen haben“, sagt Bieber, „Es gab seit dem Jahr 2000 keine Proteste mehr, die sich so weit über das Land verteilt haben. Auch die Protestformen sind neu, weil sie viel weiter in das alltägliche Leben hineinreichen, etwa durch die Streiks von Universitäten und Schulen, aber auch durch Straßenblockaden.“
Jüngste Umfragen zeigen: Immer weniger glauben der Regierungspropaganda, wonach die Proteste von der Opposition sowie von ausländischen Geheimdiensten losgetreten wurden.
Laut einer jüngsten Umfrage der NGO „CRTA“ unterstützt 60 Prozent der serbischen Bevölkerung die Proteste, die an über 240 Orten im ganzen Land stattfanden. 87 Prozent haben zumindest von ihnen gehört. Die Hälfte der Befragten glaubt nicht an die von Vučić verbreitete Geschichte, wonach die Opposition hinter den Protesten steckt. Kurzum: Die Regierungspropaganda hat Risse bekommen. Vojislav Mihailović, ein Mitarbeiter von „CRTA“, erklärt sich das so: „Die altbewährten Narrative der Regierung haften nicht mehr, weil die Studierenden nach Hause gehen und mit ihren Eltern und Großeltern diskutieren. Jede Familie kennt jemanden, der oder die an einer Universität studiert.“
Demografisch gesehen sind die Jungen aber in der Defensive. Serbien ist, wie auch die restlichen Länder des Balkans, massiv von Abwanderung betroffen. Unter der Bevölkerung im Alter von über 60 Jahren genießt Vučić Umfragen zufolge das größte Vertrauen.
Wird er den kollektiven Ärger der Jungen aussitzen? Oder werden diese Proteste die politischen Verhältnisse im Land für immer verändern?
Sicher ist jetzt schon: Ein Ereignis vor drei Monaten hat das Machtsystem des Präsidenten in seinen Grundfesten erschüttert. Es hat auch Katarina M. in der Diaspora in Wien schwer getroffen.
Ein Ingenieur als Whistleblower
Am 1. November 2024 kollabiert in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, das Vordach des Hauptbahnhofs. 15 Personen kommen ums Leben. Der Bau stammt aus der Zeit Jugoslawiens und war, nach jahrelangen Renovierungsarbeiten, gerade neu eröffnet worden. Er ist Teil einer durch chinesische Kredite finanzierten Schnellverbindung zwischen Belgrad und Budapest.
Nach dem Unglück weist die Regierung jede Verantwortung von sich und behauptet, das Dach sei nicht Teil der Renovierung gewesen. Dies stellte sich als Lüge heraus. Zoran Djajić, ein serbischer Ingenieur, der als Berater auf der Baustelle in Novi Sad tätig war, ging an die Öffentlichkeit. So wurde publik, dass Djajić die Behörden wiederholt auf Schlampereien aufmerksam gemacht hatte. Er fotografierte Mängel und schickte diese an mehrere Stellen. Anstatt die Sorgen ernst zu nehmen, wurde sein Arbeitsvertrag nicht verlängert. Die Bauarbeiten wurden hastig abgeschlossen, damit der Bahnhof noch vor den Wahlen eröffnet werden konnte. „Ich finde das problematisch. Sie wussten, dass es Mängel gab und haben den Bahnhof trotzdem eröffnet“, sagt eine 21-jährige Studentin, die anonym bleiben möchte, gegenüber profil. Sie beteiligt sich seit drei Monaten an der Besetzung ihrer Fakultät in Belgrad. Derzeit finden weder Prüfungen noch Vorlesungen statt, erzählt sie am Telefon. Zum Teil hätten sich auch Professoren mit den Studierenden solidarisiert.
Novi Sad hat das Sicherheitsgefühl einer ganzen Nation erschüttert
Aleksandra Tomanić
Mit dem Unglück verbindet die Studentin eine persönliche Geschichte. Eine Absolventin ihrer Fakultät war eine der 15 Toten von Novi Sad. „Wir sprechen oft über sie und versuchen sie nicht zu vergessen“, sagt sie. Dazu kommen konkrete Forderungen an die Regierung. Die Studierenden wollen, dass sämtliche Dokumente zu den Arbeiten am Bahnhof öffentlich gemacht werden. Dem ist die Regierung bisher nicht vollumfänglich nachgekommen.
Und so wurde der Bahnhof zu einem Symbol staatlicher Korruption. „Novi Sad hat das Sicherheitsgefühl einer ganzen Nation erschüttert. Kaum auszumalen, was passiert wäre, wenn es an dem Tag geregnet hätte. Dann stehen noch mehr Menschen unter dem Dach und warten auf die Busse“, sagt Aleksandra Tomanić. Sie ist Mitglied des Vorstandes der deutschen Südosteuropa Gesellschaft und lebt selbst in Belgrad. Plötzlich, sagt Tomanić, wird den Menschen bewusst, was es bedeutet, wenn korrupte oder nicht qualifizierte Bauunternehmen „mehr klauen als bauen“. Anstatt die Ängste ernst zu nehmen, ging die Regierung in die Offensive.
Die Studierenden als Kollektiv
Vučić nannte den Ingenieur, der den Skandal ans Licht gebracht hatte, einen „Dieb und Lügner“. Der Ministerpräsident Serbiens Miloš Vučević spekulierte, ob die Proteste im Ausland losgetreten worden seien. Regierungsnahe Medien vermuteten den kroatischen Geheimdienst hinter den Blockaden. Bisher prallt all das an den Studierenden ab, was an der Art und Weise liegt, wie sie sich organisieren. Sie treten überparteilich auf und halten bewusst Distanz zur Opposition. Sie haben auch keinen Anführer, der oder die sich an die Spitze stellt. Sie treffen basisdemokratische Entscheidungen in täglichen Plenumssitzungen. Immer neue Gesichter tauchen in den Medien auf. Damit bieten sie den Boulevardmedien keinerlei Angriffsfläche. In der Vergangenheit war es häufig so gewesen, dass politische Rivalen, die Vučić gefährlich werden konnten, diffamiert wurden.
Die bisher spektakulärste Aktion der Studierenden war die Blockade der „Autokomanda“, einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte in Belgrad. Davon existiert ein ikonisches Foto, eine Luftaufnahme, auf der zehntausende Demonstranten zu sehen sind, deren Smartphone-Lichter wie Glühwürmchen strahlen.
Wir sind alle überrascht von dieser jungen Generation, die das Regime komplett vorführt
Am darauffolgenden Wochenende marschierten hunderte Studierende von Belgrad zu Fuß nach Novi Sad und blockierten drei Donaubrücken. Taxifahrer boten ihnen aus Solidarität eine gratis Rückfahrt nach Belgrad an. Die serbische Anwaltskammer trat in einen dreißig Tage langen Streik.
„Wir sehen eine noch nie dagewesene Solidarität, die durch die gesamte Gesellschaft geht“, sagt Aleksandra Tomanić von der deutschen Südosteuropa Gesellschaft. Sie selbst gehe seit 1996 in Serbien auf die Straße, erzählt sie: „Aber eine solche Massenbewegung habe ich noch nie gesehen. Wir sind alle überrascht von dieser jungen Generation, die das Regime komplett vorführt.“
Dabei sind die Forderungen der Studierenden alles andere als revolutionär, sondern geradezu konformistisch. Sie wollen keinen Umsturz, sondern etwas sehr Banales: Einen Staat, der seine Aufgaben und Kontrollfunktionen wahrnimmt.
Warum sollten die Demonstranten EU-Flaggen schwenken? Anders als beispielsweise in Georgien, wo auch Proteste stattfinden, unterstützt die EU im Fall Serbiens ganz klar das Regime
Florian Bieber, Universität Graz
Wo bleiben die EU-Flaggen?
Serbiens junge Generation hatte ihren Protest bisher vor allem dadurch gezeigt, dass sie ins Ausland migrierte. Politisches Engagement, so die Auffassung vieler, nütze ohnehin nichts. Es sei denn, man braucht das Parteibuch für einen Job. Auch ein EU-Beitritt Serbiens war in weite Ferne gerückt. Blaue Fahnen mit gelben Sternen sind bei den Protesten keine zu sehen.
Darauf angesprochen fragt der Balkan-Experte Florian Bieber rhetorisch: „Warum sollten die Demonstranten EU-Flaggen schwenken? Anders als beispielsweise in Georgien, wo auch Proteste stattfinden, unterstützt die EU im Fall Serbiens ganz klar das Regime.“
Für die EU ist Vučić – trotz seiner Demokratiedefizite – ein verlässlicher Partner. Bieber nennt dieses Phänomen „Stabilokratie“. Der Westen braucht Vučić, um die seit 1999 schwelende Kosovo-Frage zu lösen, für Waffenlieferungen an die Ukraine und nicht zuletzt bei der Beschaffung von Lithium, ein für die Energiewende kritischer Rohstoff. Im Westen Serbiens lagert das größte Lithium-Vorkommen in Europa und nicht zuletzt die deutsche Autoindustrie hat ein Interesse daran.
Von außen hat Vučić also keinen Druck zu erwarten. Schon gar nicht seit der Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus (Siehe S. 28). Richard Grenell, Trumps ehemaliger Balkan-Gesandter, warf den serbischen Studierenden ohne jeden Beleg vor, Gewaltakte zu begehen. Vonseiten der EU-Kommission hat sich bisher nur die Kommissarin für Erweiterung Marta Kos geäußert. Sie rief zu einem Dialog sämtlicher Akteure auf, um Reformen einzuleiten, die für Serbiens EU-Kurs ohnehin unabdingbar seien. Realpolitisch ist es aber so: Obwohl Serbien seit über zehn Jahren Beitrittsverhandlungen mit der EU führt, ist das Land nicht freier, sondern autoritärer geworden. Vučić, der unaufhörlich vor einem vom Westen orchestrierten Umsturz in seinem Land warnt, wird gleichzeitig vom Westen gestützt.
Der Wandel kommt aus dem Inneren des Landes. „Wir sind fast alle bereit, monatelang so weiterzumachen. Es ist am Ende nur ein Jahr in unserem Leben“, sagt die Studentin, die seit Monaten an der Besetzung ihrer Fakultät beteiligt ist, zu profil. Sie erzählt von zwei Protesten, die an diesem Tag in Belgrad stattfinden. Einer wurde von Professoren organisiert, der andere von Bus- und Straßenbahnfahrern. Jeden Tag kommt es an unterschiedlichen Orten zu spontanen Kundgebungen. Nur die Uhrzeit für die Schweigeminuten ist immer dieselbe: 11:52 Uhr. Egal ob in Belgrad, in Novi Sad, in kleinen serbischen Dörfern oder auch in Beč, also Wien. Um diese Uhrzeit brach an jenem 1. November 2024 das Vordach des Bahnhofes zusammen.