Proteste in Serbien: "Die Leute fühlen sich im Stich gelassen"
profil: Warum haben sich die Proteste in Serbien in der vergangenen Woche zugespitzt?
Sesar: In den letzten Jahren kam es in Serbien immer wieder zu Protesten. Die Menschen haben sich spontan organisiert, meistens gegen das ihrer Meinung nach autokratische Regime des Präsidenten Aleksander Vučićs. Vor den Wahlen im Juni und auch vor den ersten Corona-Beschränkungen im März waren die Proteste und die Opposition in Serbien nicht gut organisiert. Es gab keine klare Führung und die Proteste verliefen schließlich im Sand. Im Juni gewann die serbische Fortschrittspartei, der auch Vučić angehört, die absolute Mehrheit. Der Grund, warum dieses Mal demonstriert wird, ist die überwältigende Unzufriedenheit damit, wie die Regierung auf das Coronavirus reagiert hat.
profil: Wie ist die serbische Regierung mit dem Coronavirus umgegangen?
Sesar: Serbien hat früh Maßnahmen gesetzt und einen der strengsten Lockdowns in der Region ausgerufen, wenn nicht in Europa. Es gab Ausgangssperren, die ganze Wochenenden anhielten, einige Male hintereinander. Kurz vor den Wahlen wurde dieser strenge Lockdown einfach beendet. Serbien hat nicht begonnen, langsam Regelungen zu lockern, wie viele andere europäische Länder. Stattdessen war es, als hätte man einen Schalter umgelegt: Vom wirklich strengen Lockdown zum entspannten, fast wieder normalen Leben. Bars und Cafés hatten offen, man konnte wieder zur Arbeit gehen, Schulen kehrten zurück zur Normalität.
profil: Woher kommt die Unzufriedenheit der Bevölkerung?
Sesar: Die Menschen sind der Meinung, dass Präsident Vučić den Lockdown nur aufgehoben hat, um die Wahlen abzuhalten. Gleichzeitig fanden große Sportveranstaltungen statt wie Fußballspiele und ein prominentes Tennisturnier. Eine Woche nach den Wahlen entschied sich Präsident Vučić dafür, den strengen Kurs wiederaufzunehmen, da die Corona-Zahlen wieder anstiegen. Für Belgrad waren Ausgangsbeschränkungen für ein ganzes Wochenede vorgesehen.
Die Wut der Menschen kommt aber vor allem daher, dass sie sich belogen und vom politischen System ausgetrickst fühlen.
profil: Auslöser der Proteste waren also die Ausgangsbeschränkungen?
Sesar: Sie haben die Leute in Serbien jedenfalls dazu bewogen, sich sehr spontan zu organisieren und auf die Straße zu gehen. Die Wut der Menschen kommt aber vor allem daher, dass sie sich belogen und vom politischen System ausgetrickst fühlen. Die größte politische Partei und der Präsident haben die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel gesetzt, um ihre eigenen politischen Ziele zu erreichen.
profil: Können Sie das genauer erklären?
Sesar: Im Moment hat Serbien eine hohe Anzahl an Covid-19-Fällen. Tatsächlich weisen einige unabhängig recherchierte Medienberichte darauf hin, dass die aktuellen Infektionszahlen eigentlich viel höher sind, als die Behörden behaupten. Die Art und Weise, wie mit der Krise umgegangen wurde und wird, sehen viele Menschen als absolut unverantwortlich.
profil: Wie verliefen die Proteste bisher?
Sesar: Sie begannen Dienstagabend und wurden relativ schnell gewaltsam. Zweifellos gab es auch Gewalt, die von Demonstrierenden ausging. Filmaufnahmen in den Sozialen Medien zeigen aber, dass die Polizei Tränengas eingesetzt hat - und zwar willkürlich. Und Tränengas ist immer problematisch, weil zwangsläufig immer mehr Menschen darunter leiden, als nur jene, die tatsächlich Unruhe stiften. Deshalb ist es kein passendes Mittel, um die öffentliche Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten. Außerdem hat die Polizei gegen bereits niedergezwungene Demonstrierende Gewalt angewandt. Medienberichten nach wurden auch dutzende akkreditierte JournalistInnen, angegriffen und verletzt – sowohl von der Polizei, als auch von den Protestierenden.
profil: Sie sehen das Verhalten der serbischen Polizei also kritisch?
Sesar: Solche Proteste zu verwalten, ist, besonders bei spontanen Massenprotesten wie diesen, unglaublich schwierig und herausfordernd. Zweifellos hat die Polizei den Auftrag, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Das bedeutet auch, dass Exekutivorgane das Recht haben, auf Gewalttätige zuzugehen. Wenn solche Gruppen klar identifiziert sind, ist es wichtig, diese Ausschreitungen zu unterbinden. Die Szenen, die sich Dienstagabend vor dem Parlament in Belgrad abgespielt haben, zeigen aber, dass dies nicht so passiert ist, und dass die Polizei Gewalt unverhältnismäßig und willkürlich angewandt hat.
Dieser übermäßige Einsatz von Gewalt ist ein ernsthaftes Problem, weil diese Maßnahmen immer eine abschreckende Wirkung haben. Sie hemmen Demonstrierende wieder auf die Straße zu gehen, um ihre Unzufriedenheit und Meinung auszudrücken. Das ist aber ein grundlegendes Recht in einer Demokratie.
Es wurde nicht nur Tränengas eingesetzt, es wurden auch unbewaffnete, bereits niedergezwungene Protestierende und friedliche ZuseherInnen angegriffen.
profil: Sehen Sie die Menschenrechte bei den Demonstrationen in Serbien also momentan nicht sichergestellt?
Sesar: Videoaufnahmen zeigen, dass die Polizei vor allem Dienstag- und Mittwochabend das angemessene Level an Gewalt überschritten hat. Es wurde nicht nur Tränengas eingesetzt, es wurden auch unbewaffnete, bereits niedergezwungene Protestierende und friedliche ZuseherInnen angegriffen. Es ist sehr schwierig einzuschätzen, wie viele Fälle dieser Art dokumentiert wurden. Jetzt geht es darum, dass die aufgezeichneten Fälle von den Behörden vefolgt und die verantwortlichen Polizisten zur Rechenschaft gezogen werden.
profil: Wird momentan schon auf diese Gewaltausbrüche reagiert? Was tun die Behörden? Was tun die Medien?
Sesar: Präsident und Innenminister bestreiten, dass die Polizei ihre Macht überspannt hat und unrechtmäßig Gewalt gegen Protestierende angewandt wurde. Die staatlichen Medien in Serbien, die unter der Kontrolle Vučićs und seiner Partei stehen, blenden die Vorfälle einfach aus. Soziale und unabhängigen Medien in Serbien zeigen aber durchaus, dass es zu Zwischenfällen kam.
profil: Im Lichte des Coronavirus: Gibt es Grenzen des politischen Protests?
Sesar: Die Autoritäten aller Länder sollten sicherstellen, dass die notwendigen Maßnahmen gegen das Virus das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht unzulässig einschränken. Dieses Recht darf nur dann begrenzt werden, wenn es unbedingt notwendig ist und vor allem in ausgewogenem Verhältnis umgesetzt wird.
Jelena Sesar ist Balkan-Researcherin bei Amnesty International.