Das Parlament 2015
Wie ein afghanisches Mädchen der Unterdrückung trotzte und ins Parlament gewählt wurde

Wie ein afghanisches Mädchen der Unterdrückung trotzte und schließlich ins Parlament gewählt wurde

Seit fast 40 Jahren steckt Afghanistan in verschiedenen Kriegen fest. Die Gesellschaft wird bis heute von Männern dominiert. Doch Raihana Azad ließ sich weder von den repressiven Umständen noch von ihrem eigenen Ehemann und dessen Familie aufhalten. Die Geschichte einer starken, unerschrockenen Frau.

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Wäre alles so gelaufen, wie man es erwarten konnte, hätte niemand außerhalb ihres Dorfes je von Raihana Azad gehört. Sie hätte ein Leben in Unscheinbarkeit gefristet, umringt von den für Afghanistan so typischen kahlen, braunen Bergen, verheiratet mit einem Mann, den sie nicht ausgesucht hätte, wenig gebildet, zuständig für die Arbeit im Haushalt und auf den Feldern, abhängig vom Gutdünken der Männer, mit denen sie unter einem Lehmdach wohnte.

Doch es sollte anders kommen.

Raihana Azad wurde 1982 in Sardnai, einem entlegenen Dorf in der damaligen Provinz Uruzgan, heute Daikundi, geboren. Es ist eine selbst für afghanische Verhältnisse ärmliche Region in der Mitte des Landes. Die Menschen sind konservativ, die religiösen Autoritäten werden in der Regel nicht hinterfragt – schon gar nicht von einem Mädchen.

Als sie ein Kind war, fiel nicht so sehr auf, dass sie die Geschlechterrollen ignorierte. Sie war nicht zu bändigen, tobte tagein, tagaus mit gleichaltrigen Jungen auf der Straße herum, schoss mit Steinen auf Ziele oder spielte mit ihnen eine Straßenversion von Cricket. Dann kam jener Tag, an dem sie zum allerersten Mal als Störenfried und Unruhestifterin angeprangert werden sollte. Sie war noch keine zehn Jahre alt, als die Schiiten im Dorf eine Entscheidung trafen: Sie wollten dem iranischen Ayatollah Khomeini folgen. Raihana rebellierte. Sie wollte wissen, weshalb denn ein ausländischer Politiker von nun an ihr religiöser Führer sein sollte.

Sie sagten, ich würde gegen die Religion auftreten

Dutzende Dorfbewohner bestürmten Raihanas Mutter, ihrer aufmüpfigen Tochter Einhalt zu gebieten. "Sie sagten, ich würde gegen die Religion auftreten", erinnert sich Azad heute. Ihr Lehrer verbannte sie vom Unterricht in der Moschee.

Raihana zeichneten schon früh zwei Eigenschaften aus: Sie verschlang Bücher und hinterfragte alles. Entgegen der im Dorf vorherrschenden Meinung, wonach Mädchen kaum Bildung benötigten, las sie die Werke in der Bibliothek ihres Vaters: religiöse Literatur ebenso wie Biografien von Mao Zedong, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela und Benazir Bhutto. Nach und nach bildete sie sich eine eigene Meinung.

Ihre mehr oder weniger unbeschwerte Kindheit endete abrupt, als der Krieg in ihrem Dorf einzog. Die sowjetischen Truppen waren 1989 nach zehn Jahren in Land bereits wieder abgezogen, Warlords und Milizen kämpften fortan um die Vorherrschaft im Land. Mitte der 1990er-Jahre tauchten immer mehr Mudschaheddin verschiedener Fraktionen in der Gegend rund um das Dorf der Familie auf, der Aufstieg der Taliban begann. Aus Angst davor, dass ihre Tochter mit einem der Kämpfer zwangsverheiratet würde, beschloss die Familie im Jahr 1996, sie mit einem ihrer Cousins zu vermählen. Raihana war zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt, ihr Ehemann 38.

Die Heirat war ein richtiger Schock für mich

"Die Heirat war ein richtiger Schock für mich", sagt Raihana Azad heute. Vor ihrem Hochzeitstag hatte sie noch kaum über den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen nachgedacht. Ihre vergleichsweise progressiven Eltern hatten sie in vielen Dingen gewähren lassen, nun aber wurde ihr schlagartig bewusst, wie Frauen in der afghanischen Gesellschaft behandelt wurden.

Sie zog in das Haus ihres Mannes im Nachbardorf und wurde dort in ihren Pflichten unterwiesen. Sie musste für die 34-köpfige Familie Wäsche waschen, Brot backen, Essen kochen, aufräumen und die Felder bewirtschaften. Sie pflückte Mandeln und pflanzte Schlafmohn, dessen Samenkapseln sie Monate später abends anritzte, um am darauffolgenden Morgen den herausgequollenen Saft mit einer Sichel abzuschaben. Das so gewonnene Opium ist der Grundstoff für den afghanischen Exportschlager Heroin.

Raihana Azad verfiel in eine tiefe Depression. Ihr Leben war freudlos und ohne jede Perspektive. Bildung für Frauen wurde in der Familie ihres Ehemanns als etwas Schädliches angesehen; stattdessen mussten sie schwere körperliche Arbeit verrichten. Wie zum Trotz schleifte Azad ihre Bücher mit aufs Feld oder las nachts unter dem schwachen Licht einer Petroleumlampe. Sie war ein Teenager und wusste nicht, ob sie ihrem Schicksal jemals entkommen würde. Mit ihrem Mann hatte sie keine Gesprächsbasis, auch weil er so viel älter war und es keine gemeinsamen Interessen zwischen den beiden gab.

Mit 16 Jahren bekam Azad ihren ersten Sohn. Nach der Geburt bat sie, für eine lokale Nichtregierungsorganisation arbeiten zu dürfen. Erst nachdem sie versprochen hatte, ihre Arbeit im Haushalt und Feld in gleichem Umfang weiterzuführen, erlaubte es ihr die Familie. Fortan traf sich Azad mit Frauen in ihrer Region und teilte ihnen ihre Überzeugung mit: "Wir Frauen sind auch Menschen, wir haben auch Rechte und sind auch Teil dieser Gesellschaft." Tagtäglich wurde ihr von Diskriminierungen und Missbrauch berichtet, die ihre Landsfrauen erdulden mussten. Für Azad waren diese Ungerechtigkeiten mit jedem Tag schwerer zu ertragen. Im Kampf dagegen fand sie ihr Lebensziel.

Ich will eines Tages erleben, dass Männer und Frauen in meinem Land gleich sind

Ein fortschrittlicher Onkel ermutigte sie dazu, sich für eine Stelle bei den Vereinten Nationen zu bewerben. "Ich will eines Tages erleben, dass Männer und Frauen in meinem Land gleich sind", hatte die 17-Jährige beim Vorstellungsgespräch hinausposaunt. Dies erfordere Kämpfe und Kampagnen, und sie wolle unbedingt Teil davon sein. Die ausländischen UN-Profis waren beeindruckt und stellten sie zur Wählerregistrierung und zur Rekrutierung von Wahlhelfern in ihrer Heimatprovinz Daikundi ein. Ziel war es, die Afghanen über die erste demokratische Wahl des Landes zu informieren und für die Teilnahme daran zu begeistern.

"Diese Arbeit war ein wahrer Segen für mich", erinnert sich Azad. Das sahen nicht alle so. Konservative Widersacher diffamierten Azad gegenüber ihrem Mann und ihrem Vater als Schande für die Familie, weil sie sich in der Öffentlichkeit zeigte, was für eine Frau zu jener Zeit außergewöhnlich war. Gleichzeitig wurde Azad in der ganzen Provinz bekannt, was ihr 2005 einen Sitz im Provinzrat von Daikundi einbrachte. Sie war Anfang 20 und Mutter eines zweiten Sohnes geworden. "Ich hatte immer davon geträumt, mit einem Sitz im Provinzrat endlich all diese lokalen Kommandeure und Warlords, die Frauen missbrauchten, zur Rechenschaft zu ziehen", sagt Azad.

Niemand in der Familie ihres Ehemannes, der sie die meiste Zeit bei ihrer Arbeit grimmig begleitete, hatte damit gerechnet. Alle waren entsetzt. Azad brach weiterhin alle Konventionen. Sie weigerte sich, bei Provinzratssitzungen ständig hinter einem Vorhang zu verschwinden, und setzte sich stattdessen direkt neben den Gouverneur; sie besuchte alle relevanten politischen Treffen, auch wenn mit ihr als Frau anfangs niemand sprach und sie für ihre Anwesenheit sogar beleidigt wurde; sie setzte sich für Mädchenschulen in allen Dörfern ein.

Irgendwann begann sie, in lokalen Radiostationen den Missbrauch von Frauen durch lokale Kommandeure anzuprangern. Diese wollten sich das nicht bieten lassen und schlugen zurück. Sie verhöhnten Azad als Prostituierte und provozierten ihren Ehemann so lange, bis er zu Raihanas Feind wurde. Sie sei bereits tot, sagte er, wenn jemand sie am Telefon verlangte. Immer öfter verprügelte er seine Frau. 2009, als Azad wieder Wahlkampf führte, stoppte er ihre Fahrzeugkolonne, riss sie an den Haaren aus dem Auto, würgte sie mit ihrem Kopftuch und schlug sie. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gerücht, ihm sei nichts anderes übriggeblieben, weil Azad mit einem anderen Mann geschlafen habe. Der Rufmord kostete sie die Wiederwahl in den Provinzrat.

Ich hatte mir aber immer selbst versprochen, weiterzumachen , koste es, was es wolle

Nach der öffentlichen Demütigung durch den Ehemann wandte sich ihre ganze Familie von Azad ab. Sie zog in die Hauptstadt Kabul. Immer wieder riefen sie Leute aus ihrer Provinz an und beschimpften sie; in Kabul wurde sie von Frauen ihres Clans angespuckt wegen der Schande, die sie über sie gebracht habe. "Ich hatte mir aber immer selbst versprochen, weiterzumachen , koste es, was es wolle", sagt Azad.

2010 wagte sie einen neuen Anlauf und wollte noch höher hinaus: Sie kandidierte für einen Sitz als Vertreterin der Nachbarprovinz Daikundis, Uruzgan, im afghanischen Parlament. Sie führte einen aggressiven Wahlkampf in einer der gefährlichsten Provinzen des Landes - und siegte. Damit beeindruckte sie sogar ihren Ehemann. Er gratulierte ihr, indem er sich gemeinsam mit einem Dutzend weiterer Familienmitglieder mit einer Schnur um den Hals vor ihr verbeugte - ein lokaler Brauch, um jemanden um Vergebung zu bitten. Azad aber dachte nicht daran, ihm zu verzeihen. Schließlich willigte ihr Mann in die Scheidung ein, und die Söhne zogen zu ihrer Mutter.

So wurde aus dem Mädchen, das in einem entlegenen Teil eines der rückständigsten Länder der Erde geboren wurde, eine emanzipierte Frau, aus der geknechteten Ehefrau eine geschiedene Alleinerzieherin und aus dem unfreien Teenager eine Parlamentarierin, die sich für ihre unterdrückten Landsleute einsetzt.

Heute ist Azad 34 Jahre alt und sitzt in der Wolesi Jirga, dem afghanischen Unterhaus. Zwischen den dreimal wöchentlich stattfindenden Plenarsitzungen und zwei Sitzungen des Verteidigungskomitees des Parlaments, dem sie angehört, flitzt die schlanke, aufgeweckte Frau mit den spitz manikürten Fingernägeln jeden Tag quer durch Kabul, um für Gesetze zu lobbyieren, Regierungsbehörden auf Missstände aufmerksam zu machen oder öffentlich gegen die Taliban und die Regierung zu wettern.

Der anstrengendste Teil ihrer Arbeit seien die ständigen Besuche ihrer Wähler, sagt Raihana. Sie braucht keinen Wecker; üblicherweise wird sie noch vor sechs Uhr durch aufdringliches Klopfen und Läuten an ihrer Wohnungstür geweckt. Zumeist lässt ihre Schwester die hartnäckigen Fremden ein. "Raihana, dein erster Besucher ist da", sagt sie dann, zieht die Vorhänge zur Seite und macht so den Blick auf die imposanten Berge rund um Kabul frei, die in der schwachen Morgensonne glitzern. Nach einer Katzenwäsche schlurft Azad, die zerzausten Haare schnell mit einem Tuch bedeckt, in ihr schmales Empfangszimmer.

Die Frau, die sie an diesem Junitag um halb sechs Uhr aus den Federn geholt hat, ist eine Binnenvertriebene, die vor Kämpfen nach Kabul geflohen ist und in der afghanischen Hauptstadt nicht einmal mehr Brot für ihre Kinder kaufen kann. Sie hat sich daran erinnert, dass ihr Azad bereits im vergangenen Ramadan einmal geholfen hatte, und ihre Adresse ausfindig gemacht. Eine gute Viertelstunde später verlässt die Besucherin mit einem Bündel Afghani aus der privaten Geldtasche Azads die Wohnung.

Die allerwenigsten Afghanen verstehen, was die eigentlichen Aufgaben eines Parlamentariers sind

"Die allerwenigsten Afghanen verstehen, was die eigentlichen Aufgaben eines Parlamentariers sind", erzählt Azad, als sie grünen Tee in eine goldene Tasse einschenkt. "Die Menschen glauben, dass sie mit wirklich jedem Problem zu uns kommen können." Manche rufen sie wegen Schwierigkeiten im Passamt an; Scharen verzweifelter Uni-Absolventen bitten sie, sie bei der Arbeitssuche zu unterstützen; Unternehmer erwarten Fürsprache bei öffentlichen Ausschreibungen; Privatpersonen wollen eine Einstellung von Gerichtsverfahren erreichen, indem sie dicke Packen grüner Dollar-Scheine auf Azads Tisch legen oder nach der telefonischen Ankündigung eines "Geschenkes" einen nagelneuen, gepanzerten SUV vor ihrem Haus abstellen. Und gelegentlich kommen sogar junge Männer, die Azad darum bitten, bei den Eltern ihrer Angebeteten um die Hand anzuhalten -denn wenn eine Parlamentarierin dies mache, könne die Familie wohl nur schwer Nein sagen.

Sie alle wissen meist nichts über die Lebensgeschichte der Abgeordneten. Sie können auch nicht ahnen, dass sich Azad ihren Wesenszug, alles zu hinterfragen, bewahrt hat. Stets aufrecht sitzt sie da und hört ihrem Gegenüber mit wachem Blick zu. Jeder Besucher wird auf Herz und Nieren geprüft, bevor sie Hilfe gewährt oder verweigert. In Afghanistan werden Probleme oft über persönliche Beziehungen gelöst – man kann es auch Korruption nennen. Daher hält Azad oft lange Vorträge über rechtsstaatliche Prinzipien, und manchmal arten die Gespräche in Schreiduelle mit den Besuchern aus.

Einem jungen Mann mit Eheambitionen, der Azad bittet, für ihn den Hochzeitsantrag zu überbringen, sagt sie ab. Sie könne doch nicht wissen, ob die junge Frau auch in ihn verliebt sei, und Zwang und Liebe seien keine guten Weggefährten. Sie lächelt wissend.

Wenn Azad heute im Parlament im Südwesten Kabuls um sich sieht, sieht sie viele leere Plätze. Einige ihrer Kollegen fielen Anschlägen zum Opfer. Außerdem leidet das Unterhaus an chronisch schlechter Anwesenheitsdisziplin. Bei zwei Dritteln der Sitzungen kann das beschlussfähige Quorum nicht erreicht werden. Manche bleiben aus Protest fern, weil die Amtsperiode der Wolesi Jirga eigentlich 2015 ausgelaufen ist und – in einem juristisch umstrittenen Akt –von Präsident Ashraf Ghani per Erlass verlängert wurde. Anderen wird nachgesagt, lieber ihren privaten Geschäften nachzugehen, als sich darum zu kümmern, ihre Wähler zu vertreten. Azad hingegen lässt nur selten eine Sitzung aus; mindestens einmal wöchentlich hält sie eine Rede über Ungerechtigkeiten, von denen sie erfahren hat.

Wir sind doch nicht hier, um aufzugeben

Bis heute kann sich die Abgeordnete mit der Ungleichbehandlung von Frauen nicht abfinden. Sie prangert in Interviews Warlords und Polizeikommandanten an, denen vorgeworfen wird, Mädchen zu missbrauchen, und fordert Frauen auf, sich das nicht gefallen zu lassen; sie geht mit Gesprächsaufzeichnungen aus Frauengefängnissen zu Rula Ghani, der First Lady Afghanistans, um zu beweisen, dass Frauen in Gefängnissen von Regierungsoffiziellen missbraucht oder zu Sex aufgefordert werden, damit ihre Gerichtsverfahren positiv entschieden werden.

Hat sie keine Angst? Azad, die im Gegensatz zu vielen anderen Parlamentariern auf einen Bodyguard verzichtet, schüttelt den Kopf. "Wir sind doch nicht hier, um aufzugeben", sagt sie und bittet den nächsten Besucher in ihr Zimmer.