Rassenunruhen in Baltimore: Der Fall "Freddie Gray"
Da waren die Festgenommen, über 250. Und da waren die Medien, die in solchen Fällen gleich Fallschirmjägern in einer Stadt landen, die sie nicht kennen. Da war die schwarze Bürgermeisterin mit ihrem ratlosen Gesicht und Worten, die sie eins ums andere auf die Goldwaage zu legen schien. Und da war der amerikanische Präsident, nur eine halbe Autostunde entfernt von Baltimore, wo Afroamerikaner in der vergangenen Woche randalierten und plünderten und Gebäude abfackelten.
Nicht dass daran etwas ungewöhnlich gewesen wäre: Rassenkrawalle sind keine amerikanische Spezialität, aber sie ereignen sich immer wieder in Städten wie Baltimore, der größten Stadt Marylands. Oder in Ferguson nahe St. Louis. Oder in Los Angeles. Oder sonst wo im weiten Amerika. Der Präsident, selbst ein Afroamerikaner, nahm diesmal kein Blatt vor den Mund. An den Ausschreitungen in Baltimore sei „nichts Neues, das geht seit Jahrzehnten so“, sagte Barack Obama.
Das schwarze Amerika tritt auf der Stelle
Er kritisierte die Plünderer, sprach aber aus, was eigentlich jedem Amerikaner bekannt ist: „Wenn unsere Gesellschaft das Problem wirklich lösen will, könnte sie das.“ Das „Problem“ sind: Armut, Chancenlosigkeit, Polizeibrutalität. Und Teilnahmslosigkeit. Ein halbes Jahrhundert nach Martin Luther King und den Bürgerrechtsgesetzen tritt das schwarze Amerika auf der Stelle, der erbärmliche Stillstand aber wird kollektiv verdrängt. Bis eben mal wieder Randale ist.
Freddie Gray hat von den Unruhen in Baltimore nichts mehr mitbekommen. Er ist tot. Am 12. April wurde er von Polizisten in Baltimore festgenommen. Warum ist unklar. Nach einem „Augenkontakt“ mit einem Polizeileutnant sei er weggerannt, sagt die Polizei. Die Cops setzten nach, ein Video zeigt, wie sie den vor Schmerz schreienden Gray zu einem Transporter schleifen. Eine Woche später ist Gray tot, gestorben an einer schweren Rückenmarksverletzung.
Erst ermittlete die Polizei von Baltimore gegen Polizisten in Baltimore. Nach Protesten übergab sie den Fall der Staatsanwaltaschaft. Am Freitag vergangener Woche trat Staatsanwältin Marilyn Mosby vor die Presse und gab das Resultat ihrer Untersuchung bekannt: Grays Festnahme sei illegal gewesen, seinen Tod stuft sie als Mord ein. Sechs Polizisten sollen deshalb – wegen unterschiedlicher Delikte – angeklagt werden. Demonstranten bejubelten die Entscheidung.
Dabei war Freddie Gray, 25, kein Gangster. Er war ein kleiner Fisch am Rande der Drogenszene in Baltimore, dieser Königin des Heroins in Amerika. Es heißt, er sei ein „netter Kerl“ gewesen. Seine Gesundheit war nicht die beste. Vielleicht, weil Freddie Gray wie viele Afroamerikaner in Baltimores Armenvierteln in einem Haus mit Bleifarbe aufwuchs. Oder weil er in der Sozialsiedlung Gilmor Homes wohnte. Die Lebenserwartung von Afroamerikanern in solchen „Projects“ liegt stets unter dem amerikanischen Durchschnitt.
"Angst und Vorsicht" vor Polizei
Die Polizei war nicht gern gesehen in den Gilmor Homes. Die Mutter des bekannten schwarzen Essayisten Ta-Nehisi Coates wuchs dort auf. „Jeder, den ich kannte, und der in dieser Welt lebte, begegnete der Polizei nicht mit Bewunderung und Respekt, sondern mit Angst und Vorsicht“, schrieb Coates.
Das gilt für alle amerikanischen Ghettos und Armenviertel, in Ferguson, in Chicago, in Detroit oder sonst wo. Auch in Baltimore trat die Polizei wie eine Besatzungsmacht auf. Sie war oft grundlos brutal und schmierte Unschuldige an. Weshalb die Stadt nach Klagen zwischen 2010 und 2014 insgesamt 11,5 Millionen Dollar Entschädigungen und Anwaltskosten zahlen musste.
Baltimore ist 64 Prozent schwarz, die Bürgermeisterin, der Polizeichef, der Stadtrat und die meisten Staatsanwälte sind gleichfalls schwarz. Einen Unterschied machte es nicht. „Über 100 Menschen haben vor Gericht Entschädigungen wegen Polizeibrutalität und der Verletzung ihrer Bürgerrechte erstritten“, berichtete die Zeitung „Baltimore Sun“. Unter den Opfern befanden sich eine 26-jährige schwangere Buchhalterin, eine 50-jährige Frau, die Lotteriescheine verkaufte, ein 65-jähriger Diakon sowie eine 85-jährige Großmutter.
Alle waren schwarz und fast alle waren arm. Wie eben viele in Baltimore. Einstmals war die Stadt eine mächtige industrielle Maschine mit einem großen Hafen und Eisenbahnen. 950.000 Menschen lebten 1950 in Baltimore, jetzt sind es noch 621.000. Hunderttausende gutbezahlte Jobs lösten sich in Luft auf und wurden teils durch schlecht bezahlte Arbeitsplätze in der Dienstleistungsbranche ersetzt. Weiße und wohlhabendere Afroamerikaner setzten sich in die Vorstädte ab, zurück blieb schwarze Armut.
Zwar rappelt sich die Stadt langsam wieder auf als Touristenattraktion und Kongresszentrum: Am Hafen befindet sich ein riesiges Aquarium, Restaurants und Sport-Teams locken Besucher an. In den Gilmor Homes, wo Freddie Gray lebte, war davon jedoch nicht viel zu spüren. Dort hatte sich nicht allzu viel geändert seit den Rassenkrawallen nach der Ermordung Martin Luther Kings im April 1968. Auch damals brannte Baltimore.
Arbeitslosigkeit von 20 Prozent
Eine zur Aufklärung der Unruhen eingesetzte Kommission hielt in ihrem Bericht fest, dass die „sozialen und wirtschaftlichen Zustände in den geplünderten Vierteln klare Benachteiligungen der Negroes (sic) im Vergleich mit Weißen zeigen“. Lapidar vermerkte der Report, für die Krawalle seien „zwei Elemente verantwortlich: weißer Rassismus und die wirtschaftliche Unterdrückung der Negroes (sic)“. Dabei ist es im Großen und Ganzen geblieben. In Freddie Grays Viertel ist jeder Dritte offiziell arm. Die Arbeitslosigkeit beträgt 20 Prozent. Verrottete Häuser stehen leer. Und die Schulen taugen nicht viel. Zuerst protestierten die Afroamerikaner Baltimores friedlich gegen den Tod Freddie Grays. Unter den Marschierenden waren Pastoren, Stadträte und die afroamerikanische Prominenz. Am vergangenen Montag wurden die Proteste gewalttätig.
Es waren Schüler, die zuerst Scheiben einschlugen und Steine auf Polizisten warfen, kaum dass Freddie Gray am Montagmittag beerdigt worden war. In einem weißen Hemd lag er in einem weißen Sarg in der New Shiloh Baptistenkirche. Seine Familie plädierte für friedliche Proteste – ohne Erfolg.
Zu Mittag kurz nach drei Uhr strömten die schwarzen Kids aus den Schulen, der Zoff begann. Sie kamen beispielsweise aus der Frederick- Douglas-Schule. Sechs Jahrzehnte nach dem Ende der Rassentrennung in Baltimores Schulen sind 99 Prozent der Schüler dort schwarz. 83 Prozent stammen aus armen Haushalten. An der Coppin Academy ist es ähnlich. Die ist 100 Prozent schwarz, 77 Prozent der Schüler kommen aus armen Familien. Um eine Explosion zu vermeiden, zögerte Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake zunächst mit einem energischen Polizeieinsatz. Es waren ja nur Kids, die da plünderten. Am späten Nachmittag aber übernahmen Erwachsene, die Randale eskalierte.
Leute werden "wütender und wütender"
Die Bürgermeisterin war ein Shooting-Star der Demokratischen Partei, prädestiniert für höhere Weihen. Damit ist wahrscheinlich Schluss. Ihre Stadt, in der sie aufgewachsen ist und die sie zu neuer Blüte führen wollte, entglitt ihr. Ungeschickt wirkten sie und ihr Polizeichef. „Sie halten eine Pressekonferenz, aber sie sagen nichts, während die Leute wütender und wütender werden“, klagte der Stadtrat Carl Stokes. Am Ende musste die Bürgermeisterin die Nationalgarde zu Hilfe rufen. Der Ausnahmezustand wurde verhängt mitsamt einer Ausgangssperre.
Teilnehmer eines Kongresses zur Lebensmittelsicherheit wurden freilich beruhigt: „Uns ist versichert worden, dass unsere Gäste problemlos anreisen können“, erklärte der Veranstalter. Die Medien filterten unterdessen die Schurken und Helden heraus: Etwa die Mutter, die ihren Teenage-Sohn mit Schlägen von der Teilnahme an den Plünderungen abhalten wollte. Oder die Angehörigen von Freddie Gray, die flehentlich um Frieden baten.
Aber es gab auch andere Stimmen wie jene des 37-jährigen Afroamerikaners Pierre Thomas. „Wo waren die Rufe nach Frieden, als auf uns geschossen wurde? Wo ist der Friede, wenn wir geschlagen werden? Wo der Friede, wenn wir in einem Krankenwagen abtransportiert werden?“, sagte er dem Radiosender NPR.
Barack Obama hat Recht: Amerika weiß sehr genau, wie Baltimore und Ferguson und anderen Orten amerikanischer Verzweiflung geholfen werden könnte. Es fehlt indes der Wille.