Rasuly über Hazara-Frauen: "Manchmal bleibt ihnen nur der Selbstmord"
Lange Zeit hat sich die Welt kaum dafür interessiert, was in Afghanistan passiert. Jetzt steht das Land am Hindukusch wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Vergangene Woche häuften sich die Nachrichten: Bei einer Geberkonferenz in Brüssel hat die internationale Gemeinschaft Kabul für die kommenden vier Jahre Finanzhilfen in Höhe von 15,2 Milliarden Dollar zugesagt. Im Gegenzug für die Unterstützung werden von Afghanistan stärkere Reformanstrengungen im Bereich der Menschenrechte und der Korruptionsbekämpfung verlangt. Nicht nur das: Brüssel drängt Kabul, ein gerade unterschriebenes Rückübernahmeabkommen in die Praxis umzusetzen. Vor dem Brüsseler Ratsgebäude, in dem die Konferenz tagt, marschierten vergangenen Mittwoch afghanische Flüchtlinge auf, um gegen diesen Plan zu protestieren: "Afghanistan ist kein sicherer Herkunftsstaat“, hieß es auf ihren Transparenten.
Gleichzeitig brachen vergangene Woche wieder Kämpfe zwischen der afghanischen Armee und der vorwärts marschierenden Taliban-Soldateska um die nordafghanische Provinzstadt Kunduz aus.
Afghanistan ist ein Kriegsland. Die Lage ist sehr prekär.
Als profil den österreichischen Afghanistan-Spezialisten Sarajuddin Rasuly vergangene Woche zu einem Interview trifft, muss er es nach wenigen Minuten unterbrechen: "Lassen sie mich nur ein paar Telefonate machen.“ Ein Gespräch mit einem Neffen, der beim afghanischen Geheimdienst arbeitet, ein Kontakt mit einem Informanten in Kunduz, und Rasuly weiß, wie es um die Stadt steht: "Die Armee hat nur das Zentrum zurückerobert, und auch davon nur einen Teil. Die Taliban haben sich in die Vorstädte und die nähere Umgebung von Kunduz zurückgezogen.“ Und er erfährt auch, dass der berüchtigte usbekische Warlord und afghanische Vizepräsident Abdul Rashid Dostum im Begriff ist, von Kabul aus Einsatztruppen Richtung Kunduz in Marsch zu setzen.
Rasuly ist wahrscheinlich der profundeste Afghanistan-Kenner in Österreich. Er arbeitet als selbstständiger Sachverständiger für das Bundesverwaltungsgericht, die zweite Instanz im Asylverfahren. Oft entscheiden die Richter auf der Grundlage seiner Gutachten, ob ein afghanischer Asylwerber in Österreich den Status als Flüchtling bekommt und bleiben kann oder nicht. Rasuly hat die besten Voraussetzungen für diesen Job: Er stammt aus einer usbekischen Adelsfamilie Nordafghanistans, kam 1970 im Alter von 18 Jahren nach Wien und studierte Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Afghanistan. Später lehrte er 15 Jahre lang an der Uni Wien. Gleichzeitig spielte er in der afghanischen Politik als Vermittler zwischen Konfliktparteien, teilweise auch in Zusammenarbeit mit den UN, eine wichtige Rolle.
profil: Herr Rasuly, die EU und die Regierung in Kabul haben vereinbart, die Rückführung afghanischer Flüchtlinge zu erleichtern und zu beschleunigen. Aber kann man bei der unsicheren Lage in Afghanistan abgelehnte Asylwerber überhaupt zurückschicken? Sarajuddin Rasuly: Gewiss, aber nur sehr beschränkt. Österreich schiebt bisher, im Unterschied zu Deutschland etwa, niemanden nach Afghanistan ab. Die Deutschen haben es aber auch einfacher: Sie verfügen am Hindukusch über Militärstützpunkte und damit über Logistik. Afghanistan ist ein Kriegsland. Die Lage ist sehr prekär. Eine gewisse Sicherheit gibt es nur in größeren Städten wie Kabul, Mazar-e-Sharif, Herat oder Dschalalabad. Sie befinden sich in der Hand der Regierung. Aber auch hier müssen Voraussetzungen erfüllt sein: Hat der Abzuschiebende dort Familie, ist eine langfristige Betreuung der Rückkehrer gewährleistet, hat er Chance auf Arbeit, auf eine Wohnung? All diese Fragen müssen bedacht werden. Wenn das der Fall ist, kann man durchaus mehr Rückführungen vornehmen. Aber es geht nicht so schnell.
Als Schiiten wurden die Hazara lange als Ungläubige verfolgt, als "Schlitzaugen“ und "Mäusefresser“ beschimpft und verachtet.
profil: Österreich ist von dieser Entwicklung stark betroffen, stellen bei uns doch die Afghanen seit 2015 das größte Kontingent der Asylwerber - noch vor den Syrern. Warum kommen so viele nach Österreich? Rasuly: Das war nicht immer so. Erst als sich das Asylregime in den vergangenen Jahren verbesserte und man mit Integrationsanstrengungen begonnen hat, wurde Österreich von den Afghanen als sicheres und attraktives Zielland entdeckt. Vorher wollten sie fast alle nach Deutschland, in die Niederlande und Skandinavien.
profil: Wie viele Afghanen leben nun in Österreich? Rasuly: Bis Anfang 2015 wurde von 16.000 gesprochen. Seither, aber da habe ich keine exakten Daten, dürften 45.000 dazugekommen sein. Ich schätze, dass heute knapp über 60.000 Afghanen im Land sind. Und davon hat etwa ein Drittel bereits Asyl oder subsidiären Schutz bekommen.
profil: Die meisten stammen aus der schiitischen Minderheit der Hazara. Rasuly: Ich würde sagen, dass etwa zwei Drittel der Afghanen in Österreich aus dieser Volksgruppe kommen.
profil: Und warum ist diese Ethnie so überrepräsentiert? Sie macht in Afghanistan keine zehn Prozent aus. Rasuly: Dieses turkomongolische, eine Art Farsi (persisch) sprechende Volk ist seit Hunderten Jahren unterdrückt. Es blickt auf eine tragische Geschichte zurück. Als Schiiten wurden sie lange als Ungläubige verfolgt, als "Schlitzaugen“ und "Mäusefresser“ beschimpft und verachtet. Sie stellten traditionell die unterste Schicht der afghanischen Gesellschaft. Auf dem Land sind sie arme Bauern, meist auf kargem Terrain, in den Städten arbeiteten sie als Träger und Dienstboten. Sie hatten keinen Zugang zu staatlichen Jobs. Unter der Herrschaft der radikal-sunnitischen Taliban (diese sind meist Paschtunen, die größte ethnische Gruppe Afghanistans, Anm.) in den Jahren 1996 bis 2001 waren die Hazara besonderer Repression ausgesetzt. Massaker standen auf der Tagesordnung. In dieser Zeit empfahl ich als Gutachter für alle pauschal Asyl, aus ethnischen Gründen. Das hat sich aber verändert.
Auch für die Hazara, die nun um Asyl ansuchen, sind nach meiner Einschätzung nach individuelle Prüfungen notwendig.
profil: Wie das? Rasuly: Seit die internationalen Truppen 2001 ins Land kamen, hat sich die Situation der Hazara grundlegend verbessert. Sie sind an der Macht beteiligt, stellen in jedem Ministerium Vizeminister, haben einen Vize-Premier und einen stellvertretenden Präsidenten. Vor allem aber sind sie in den Sicherheitsressorts, in der Armee, dem Geheimdienst und der Polizei nach meiner Einschätzung zu einem Drittel vertreten, also relativ stärker als die anderen Ethnien. Und im Unterschied etwa zu den Usbeken und Tadschiken kontrollieren die Hazara ihre Gebiete - auch militärisch.
profil: Aber die Taliban sind wieder im Vormarsch. Rasuly: Sie kontrollieren inzwischen direkt oder indirekt zwei Drittel des Landes. Zwar leisten die Hazara in ihren Regionen erfolgreich Widerstand gegen die Taliban - ihre Sicherheitssituation hat sich freilich auch verschlechtert. Ich empfehle aber nicht mehr Asyl aus ethnischen Gründen. Auch für die Hazara, die nun um Asyl ansuchen, sind nach meiner Einschätzung nach individuelle Prüfungen notwendig.
profil: Wie geht das konkret vor sich? Rasuly: Beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), einer Behörde des Innenministeriums, werden fast alle Asylansuchen von Afghanen abgewiesen. Und fast alle, die einen negativen Bescheid bekommen, legen Beschwerde ein. Die Behörde verweist sie an Organisationen wie Caritas, Volkshilfe oder die Diakonie, die den Asylwerbern bei ihrer Berufung helfen. Auch eine Rechtsberatung wird zur Verfügung gestellt.
Natürlich wird viel gelogen, was aber nicht heißt, dass einer, der falsche Angaben macht, zu Hause nicht dennoch um sein Leben fürchten müsste.
profil: Das war nicht immer so. Rasuly: Es geht heute viel zivilisierter vor sich als noch vor ein paar Jahren. Die zweite Instanz, das Bundesverwaltungsgericht, beschäftigt mich nun in vielen Fällen als Gutachter. Ich soll prüfen, ob die Angaben des Asylwerbers stimmen, ob er tatsächlich verfolgt wird und in seiner Heimat um sein Leben fürchten muss.
profil: Das wird in vielen Fällen doch nur schwer zu eruieren sein. Wie gehen Sie dabei vor? Rasuly: Zunächst habe ich mein Background-Wissen. Ich kann also zum Beispiel in vielen Fällen gleich zu Beginn der Befragung erkennen, ob der Asylwerber tatsächlich aus der Region kommt, die er angibt. Ich bin in Afghanistan gut vernetzt. In den meisten Städten habe ich Personen, denen ich Recherche-Aufträge erteile, etwa ob der jeweilige Asylwerber tatsächlich zu diesem oder jenem Zeitpunkt dort war, wo er gegen die Taliban kämpfen hätte können, wie er behauptet, und deshalb Angst vor deren Rache hat. Natürlich wird viel gelogen, was aber nicht heißt, dass einer, der falsche Angaben macht, zu Hause nicht dennoch um sein Leben fürchten müsste.
profil: Geben Sie bitte ein Beispiel. Rasuly: Da ist ein junger Mann, der erzählt, dass er mit der Frau des Nachbarn geschlafen hat und deshalb mit dem Tod bedroht ist. Die Geschichte mit der Nachbarschaftsliebe höre ich oft. Die Schlepper sagen den Flüchtlingen, dass das immer "zieht“. Nun habe ich im konkreten Fall herausgefunden, dass das nicht stimmen kann, weil er zum Zeitpunkt, den er für sein Liebesabenteuer angibt, gar nicht mehr in seinem Dorf war. Aber aus seinen Erzählungen kann die Richterin andere Anhaltspunkte finden, die ihn zum Asyl berechtigen könnten. Es stellt sich heraus, dass sein Vater einen lokalen Taliban-Führer umgebracht hat. Die dort herrschende Tradition der Sippenhaftung spricht dann dafür, dass ihm - trotz seiner ursprünglichen Falschaussage - Asyl gewährt werden kann. In jedem Fall gehen meine Gutachten betreffend Frauen positiv aus: Sie haben keine Chance. Denn die Afghaninnen sind, um mit einem Wort von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zu sprechen, "keine Rechtssubjekte“. Sie erhalten - selbst wenn sie an einem Rechtsstreit beteiligt sind - nur in ganz wenigen Fällen direkten Zugang zum Gericht. Dieses Privileg hat ausschließlich der Mann.
profil: Gab es in den vergangenen Jahren nicht gewisse Fortschritte bei der Frauenemanzipation? Rasuly: Doch, zumindest in den Städten. Aber auch auf dem Land lassen sich zunehmend viele Mädchen nicht mehr gefallen, ohne ihre Zustimmung verheiratet zu werden. Sie wehren sich. Doch manchmal bleibt ihnen nur der Selbstmord.
Erst als von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel signalisiert wurde, dass die Syrer, die unterwegs waren, aufgenommen werden, setzten sich im September auch die Afghanen in Bewegung.
profil: Kommen wir zu den Afghanen in Österreich. Wie gelangen sie überhaupt zu uns? Rasuly: Die meisten beginnen ihre Reise nicht in Afghanistan, sondern im Iran. Dorthin sind die meisten der bei uns ankommenden Hazara schon vorher geflüchtet, meist über Pakistan. Der Iran hat die schiitischen Afghanen zu Hunderttausenden aufgenommen. Manche junge Hazara, die nach Österreich gelangen, wurden sogar im Iran geboren. Das Problem: Sie besitzen dort keinen Flüchtlingsstatus oder sonst irgendeinen Aufenthaltstitel. Sie sind völlig rechtlos, den Iranern faktisch ausgeliefert. Viele der Kinder müssen Sklavenarbeit verrichten. Und sie sind immer von Abschiebung bedroht.
profil: Warum begann die afghanische Flüchtlingswelle erst 2015 und nicht schon früher zu rollen? Rasuly: Gewiss spielen dabei die Gebietsgewinne der Taliban eine gewisse Rolle. Als ich im August vergangenen Jahres in Kabul war, erschien mir die Bereitschaft der Leute, sich auf den Weg zu machen, noch nicht sehr groß. Erst als von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel signalisiert wurde, dass die Syrer, die unterwegs waren, aufgenommen werden, setzten sich im September auch die Afghanen in Bewegung. Die Iraner, die bis zu dieser Zeit die Grenzen zur Türkei weitgehend dichtgehalten hatten, begannen diese zu öffnen. So schlossen sich die Afghanen faktisch dem Flüchtlingstross der Syrer an. Und viele zogen nicht nach Deutschland weiter, sondern blieben - und bleiben - in Österreich.
profil: Und was kann man über die Afghanen hier sagen? Wie ausgebildet, wie integrationswillig und -fähig sind sie? Rasuly: Ich habe natürlich keine Statistik, aber ich würde meinen, dass man unter ihnen ungefähr fünf Prozent als Elite bezeichnen kann: Geschäftsleute und höher Gebildete. Die meisten aus dieser Gruppe kamen schon früher. Bei den übrigen, schätze ich, sind etwa 50 Prozent Analphabeten, die andere Hälfte hat ein paar Klassen Volksschule oder Koranschule in Afghanistan oder im Iran hinter sich. Es gibt nur sehr wenige mit Facharbeiterausbildung. Und viele, vor allem unter den Jungen, sind traumatisiert: durch die Sklavenarbeit, durch die Schlepper, durch die allgemeine Brutalität, die ihnen in ihrem Leben widerfahren ist. Und nicht zu vergessen: Nicht wenige, die im Iran lebten, waren opiumsüchtig. Nur so konnten sie ihr schweres Leben ertragen. Hier in Österreich gibt es kein Opium. Deshalb trinken sie Alkohol. Aber während Opium beruhigt und dämpft, macht Alkohol aggressiv. Das ist der Hintergrund von so manchem in den Zeitungen kolportierten kriminellen Vorfall.
Die große Mehrheit der afghanischen Flüchtlinge in Österreich ist jung.
profil: Keine guten Voraussetzungen für Integration? Rasuly: Das würde ich nicht sagen. Die Hazara sind als aufstrebendes Volk zu bezeichnen. Nach so langer Zeit der Unterdrückung haben sie in den vergangenen Jahren ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein entwickelt. Nicht zuletzt auch über den Islam haben sie ihren ethnischen und politischen Zusammenhalt gefunden.
profil: Und sind Radikalisierungstendenzen zu beobachten? Rasuly: Keine Spur davon. Sie entwickelten nur ein Selbstbewusstsein, das sie bisher in ihrer Geschichte nicht hatten. Letztlich brachte aber auch der Aufenthalt im Iran viele Hazara trotz aller Widrigkeiten vorwärts. Gewisse Ausbildungen sind möglich geworden. Sicher werden es die Alten mit ihren archaischen Traditionen schwer haben, sich zu integrieren. Aber die große Mehrheit der afghanischen Flüchtlinge in Österreich ist jung, unter 30. Und sie sind überaus ambitioniert. Sie lernen schnell, das sieht man jetzt bereits. Aber sie müssen gefordert werden. Man muss die Arbeit für die Flüchtlingsfamilien attraktiv machen. Und da ist es gut, dass Österreich seit einigen Jahren die Anstrengungen zur Integration verstärkt hat und die Asylwerber von Anfang an angehalten werden, Deutsch zu lernen und sich in den Arbeitsprozess zu integrieren. Genauso wichtig ist aber, ihnen Grenzen aufzuzeigen. Ihnen muss klargemacht werden, welche Gesetze hier gelten, was hier geht und was nicht.