Rechte Erfolge in Europa: Wenn ein Kontinent kippt
Von Robert Treichler
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Noch vor wenigen Tagen durfte der politische Tratsch in Paris unbeschwert um die Frage kreisen, ob die Seine ausreichend sauber sei, sodass Staatspräsident Emmanuel Macron zum Beweis der geglückten Wassersanierung noch vor den Olympischen Spielen Ende Juli ein Bad im Fluss wagen werde. Er hatte dies Anfang dieses Jahres vage angekündigt, aber kein Datum genannt. Doch das Interesse an einer allfälligen präsidentiellen Planscherei ist unmittelbar nach den Wahlen zum Europäischen Parlament gänzlich verflogen und Sorgen gewichen, die weniger mit dem Schwimmen zu tun haben als vielmehr mit dem Untergehen. Zu versinken drohen in chronologischer Reihenfolge: Macrons Regierungsbündnis; der Staatspräsident selbst; die Stabilität der Republik und schließlich die der Europäischen Union.
Was ist passiert?
Noch am Wahlabend, als nicht einmal alle Stimmen ausgezählt waren, trat Staatspräsident Macron vor die Kameras und gab bekannt, dass er das Parlament auflösen und Neuwahlen abhalten lassen werde. Grund dafür war der spektakuläre Sieg der oppositionellen rechtspopulistischen Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen, die auf fast 32 Prozent der Stimmen gekommen war, während Macrons Lager bei 14,6 Prozent und damit weniger als der Hälfte landete.
Jetzt rätselt die Nation, was Macron sich von dem drastischen Schritt erhofft. Oder besser: Ein großer Teil der Nation ist entsetzt, weil sich abzeichnet, was in den beiden Wahlgängen am 30. Juni und 7. Juli passieren wird. In einer Umfrage des Institutes Ifop vom vergangenen Mittwoch liegt der Rassemblement National mit 35 Prozent voran, weit abgeschlagen folgen das Linksbündnis aus Sozialisten, Linken und Grünen mit 25 Prozent, Macrons Bündnis mit 18 Prozent und die konservativen Republikaner mit neun Prozent. Angesichts des Mehrheitswahlrechts – das Mandat in jedem Wahlkreis gewinnt, wer Stimmenstärkster ist – kann ein solcher Vorsprung für den RN einen noch größeren Erdrutschsieg bedeuten. Eine absolute Parlamentsmehrheit für den Rassemblement National scheint in greifbarer Nähe.
Was dann? Macron wäre gezwungen, einen RN-Politiker zum Premierminister zu ernennen. Dass ein Staatspräsident einer Regierung gegenübersteht, die vom politischen Gegner gebildet wird, ist zwar nichts Neues, doch der RN ist nicht bloß irgendein politischer Gegner. Er verkörpert die Antithese zu dem, wofür nicht nur Macron und seine bisherige Regierung stehen, sondern worauf die Französische Republik beruht, und mit ihr mittelbar verknüpft auch die Europäische Union.
Was heißt eigentlich „kippen“?
Wenn der RN sein erklärtes Vorhaben umsetzt, kippt Frankreich. Und wenn Frankreich kippt, dann auch Europa. Ist das eine ernst zu nehmende Warnung oder bloß Panikmache? Um das zu beurteilen, muss man wissen, wohin der RN steuert.
Der Plan geht so: Das bevorzugte Werkzeug des RN, um die Republik zu verändern, ist eine Volksabstimmung. Die hat, so erklärt Marine Le Pen, den großen Vorteil, dass „der Verfassungsrat ein Gesetz, das durch ein Referendum zustande gekommen ist, nicht untersuchen kann.“ Anders formuliert: Auch ein möglicherweise verfassungswidriges Gesetz kann nach Le Pens Lesart auf diese Weise Gültigkeit erlangen. Der Inhalt des beabsichtigten Projekts betrifft die „Immigration und Identität“ und soll unter anderem eine „nationale Bevorzugung“ etablieren – und damit ausländische Bürger (auch aus anderen EU-Staaten) in Bereichen wie Wohnen, Arbeitsplatz und Sozialleistungen benachteiligen. Das widerspricht nach Meinung von Juristen mehreren Artikeln des Grundgesetzes und weiteren Bestimmungen bis zurück ins Jahr 1789, als die Gleichheit in der Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben wurde. Weil durch die Änderungen auch Europäisches Recht gebrochen würde, sieht der Plan auch vor, dessen Vorrang gegenüber französischem Recht aufzuheben. Das wäre das Ende der grundlegenden Funktionsweise der EU, wie wir sie kennen.
Jordan Bardella, Spitzenkandidat des RN bei der EU-Wahl, der jetzt als potenzieller Premierminister gehandelt wird, sagt, er wolle „das Europa des 21. Jahrhunderts bauen“ – und meint damit die Rückabwicklung der EU zu einem „Bündnis der Nationen“, wie rechtspopulistische Parteien, etwa auch die FPÖ, dies seit Langem fordern.
Kritiker sehen in der beabsichtigten Systemänderung des RN einen „Verfassungsputsch“, doch die Tageszeitung „Le Monde“ zitiert einen EU-Abgeordneten der Partei mit der Rechtfertigung: „Wenn das Volk es so will, machen wir es so.“
So sollen zwei Prinzipien untergraben werden: erstens die europäische Integration, die darin besteht, dass sich alle Mitgliedstaaten an das gemeinsam beschlossene Recht halten müssen. Dem RN und seinen Schwesterparteien wie etwa der FPÖ ist dies seit Langem ein Dorn im Auge, sie pochen auf die nationale Souveränität, die aus Brüssel zurückgeholt werden soll. Urteile des Europäischen Gerichtshofs sollen nach dem Willen des RN zum Beispiel in Migrationsangelegenheiten nicht mehr bindend sein.
Zweitens wäre ein solches Referendum ein Lehrbuchbeispiel für ein Gesetz, das von einer Mehrheit beschlossen würde, um unter Missachtung des Gleichheitsgrundsatzes eine Minderheit zu benachteiligen.
Was sich in Frankreich anbahnt, ist der dramatischste Effekt der EU-Wahl vom 9. Juni. Es stimmt, dass der Mandatszuwachs der Rechtsparteien im Europäischen Parlament insgesamt gar nicht riesig ausgefallen ist, doch der Sieg der Rechten an neuralgischen Punkten wiegt schwerer als der vergleichsweise moderate prozentuelle Zugewinn. Frankreich, historisch und auch aktuell (noch) ein Vorreiter der europäischen Integration, könnte demnächst die Seiten wechseln und die Konterrevolution der Renationalisierung anführen. Eine Rechtsaußen-Regierung könnte dabei auf die Unterstützung durch andere rechts-geführte Staaten wie Italien, die Niederlande oder Ungarn – und, wer weiß, vielleicht auch bald auf die eines FPÖ-regierten Österreich – bauen.
Wer wird dagegenhalten? Deutschland? Die drei Ampelparteien lagen bei der EU-Wahl allesamt hinter der konservativen Union und der rechten Alternative für Deutschland (AfD), und bei den bevorstehenden drei Landtagswahlen im September im Osten wird die AfD noch deutlicher zeigen, wie stark sie ist. Im Jahr vor der Bundestagswahl leidet die Regierung unter Olaf Scholz unter politischem Kapitalschwund. Selbstbewusste Auftritte auf europäischer Bühne sind kaum noch zu erwarten.
Die politische Bewegung des Rechtspopulismus verändert Europa. Alles andere wäre angesichts ihrer Wahlerfolge auch seltsam. Selbst wenn sie in einzelnen Ländern Rückschläge erleidet – bei der EU-Wahl etwa blieben die Rechten in Finnland, Schweden, und Dänemark unter ihren Erwartungen –, so zeigt die Marschrichtung am Kontinent dennoch nach rechts.
Zu den Wahlerfolgen kommen „Kippeffekte“. Etwa wenn konservative Parteien angesichts des Aufstiegs der Rechten implodieren. „Les Republicains“, die französischen Konservativen, sind in eine existenzielle Krise geschlittert, weil ihr Parteichef Éric Ciotti in einer Mischung aus Panik vor der bevorstehenden Niederlage bei den Parlamentswahlen und ideologischer Desorientierung dem Rassemblement National kurzerhand eine gemeinsame Kandidatur anbot. Seither tobt ein Teil der Konservativen, während manche mehr oder weniger diskret ins rechtsrechte Lager überlaufen. Ciotti wurde umgehend von der Partei ausgeschlossen, wogegen er rechtlich vorgeht.
Egal ob nun das Wahlbündnis zustande kommt oder die Republicains solo auf dem Wahlzettel stehen – als Konkurrenten des RN fallen sie de facto aus.
Die politische Erschütterung am rechten Rand breitet sich in Richtung Mitte aus.
Was tun gegen die rechte Revolution?
Sind die Gegner der Rechten dazu verdammt, tatenlos zuzusehen, wie nationalistische Souveränitätskonzepte wieder restauriert werden, wie Europäisches Recht gebrochen und gleichzeitig Diskriminierung per Mehrheitsbeschluss zum Gesetz wird? Wie das Asylrecht und die Schengen-Reisefreiheit zugunsten der Errichtung von „Festungen“ in den Einzelstaaten fallen? Wie die Unterstützung der Ukraine abgeblasen und durch freundliche Nachsicht gegenüber dem autoritären Kriegstreiber Wladimir Putin ersetzt wird? Ist all das unausweichlich?
In Frankreich wettet Emmanuel Macron darauf, dass die Wählerschaft im letzten Moment davor zurückschrecken werde, dem Rassemblement National die Macht im Land zu übertragen.
Zwei Gegenstrategien zeichnen sich ab.
In Frankreich wettet Emmanuel Macron darauf, dass die Wählerschaft im letzten Moment davor zurückschrecken werde, dem RN die Macht im Land zu übertragen. Zu groß sei die Angst, dass Frankreich anti-europäisch wird, das internationale Image Frankreichs durch einen RN-Premierminister Schaden nimmt und die Wirtschaft davon betroffen sein könnte. Deshalb legt der Liberale die Verantwortung vorzeitig in die Hände des Volkes.
Das ist sehr demokratisch – und vermutlich sehr naiv. Umfragen zeigen, dass das Bild, das die Bevölkerung von Marine Le Pen und dem RN hat, längst nicht mehr der Fratze des Rechtsextremismus gleicht. Bereits im vergangenen Jahr sagten 44 Prozent der Befragten, Le Pen könne „dem Land nützliche Lösungen bringen“ – ein Plus von acht Prozentpunkten innerhalb von zwei Jahren.
Aber Macrons Strategie hat noch einen zweiten, unausgesprochenen Hintergedanken. Falls nämlich der RN bei der Parlamentswahl eine Regierungsmehrheit schafft und Bardella Premierminister wird, wird diese erste Amtszeit eines Rechtspopulisten mehr als zwei Jahre lang dauern, ehe 2027 die Präsidentschaftswahl ansteht. Eine lange Zeit also, in der sich der RN keine gravierenden Fehltritte erlauben darf. Agiert er zu radikal, verstört er die Mitte-Wähler, gibt er sich moderat, laufen ihm die radikalen Anhänger davon. Und bei der Präsidentschaftswahl benötigt Marine Le Pen mehr als 50 Prozent, um zu siegen.
Am Ende zählt immer das Volk.
Die zweite Gegenstrategie, die von Deutschlands Kanzler Olaf Scholz, beruht auf Zeitgewinn. „Nö“, sagte der am Abend der EU-Wahl auf die Frage, ob er sich zu der Schlappe der SPD und der anderen Regierungsparteien äußern wolle. Die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen will weitermachen, um am Ende doch noch irgendeine Erfolgsbilanz legen zu können. Wobei sie nicht viel Zeit hat. Das Budget soll bis 3. Juli stehen und herzeigbar sein, und bis zur Bundestagswahl 2025 könnte ein Wirtschaftsaufschwung die Stimmung aufhellen. „Er will durchhalten“, beschreibt die Wochenzeitung „Die Zeit“ Scholz’ Maxime. Es ist auch eine Frage des Charakters, ob man lieber zuwartet oder sofort ins kalte Wasser springt.
Und falls es doch noch jemanden interessiert: Die Seine ist derzeit wegen des hohen Wasserstandes nicht zum Schwimmen geeignet. Weder für den Präsidenten noch für Olympioniken.
Robert Treichler
Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur