Marine Le Pen und Viktor Orbán
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Rechtspopulisten in der Defensive: Orbáns Kumpels vor dem Ende?

Europas Populisten basteln beharrlich an der rechten Wende. Dabei stehen sie selbst zusehends unter Druck - und müssen sogar um ihre Zukunft bangen.

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Ein polnischer Soldat spielt auf seiner Trompete, während Marine Le Pen wie versteinert vor dem Denkmal für die Toten des Warschauer Ghettos steht. Hier ging einst Bundeskanzler Willy Brandt in die Knie, um für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg um Vergebung zu bitten. An derselben Stelle senkt Le Pen 50 Jahre später den Kopf zu Boden. Seit Jahren versucht sich die Chefin der französischen Rechtspartei Rassemblement National vom antisemitischen Erbe ihres Vaters zu distanzieren. Jean-Marie Le Pen wurde mehrmals rechtskräftig verurteilt, unter anderem, weil er die NS-Gaskammern als "Detail der Geschichte" bezeichnet hatte.

Seine Tochter passt auf, was sie sagt. Vor allem in Polen, wo sie politische Freunde gewinnen möchte. Europas Rechte könnten künftig "die zweitstärkste Kraft im Europäischen Parlament sein", schwärmt Le Pen. Nur gemeinsam könne es gelingen, "die Europäische Union in die Knie zu zwingen". An diesem Samstag Anfang Dezember empfängt Warschau die 53-Jährige wie eine Königin. In einer Limousine wird sie mit Blaulicht durch die polnische Hauptstadt gefahren und lässt sich vom ungarischen Premier Viktor Orbán die Hand küssen.

Es ist der 4. Dezember 2021, die Vertreter von 16 Rechtsparteien sind nach Warschau gereist, um über die Zukunft Europas zu sprechen. Unter den Teilnehmern sind neben Le Pen, Orbán und Polens Premier Mateusz Morawiecki auch PiS-Chef Jarosław Kaczyński sowie Vertreter der italienischen Lega, der Fratelli d'Italia, der spanischen Vox und der Dansk Volkspartei. Aus Österreich ist FPÖ-Bundesparteiobmann-Stellvertreterin Marlene Svazek angereist.

"Wendepunkt in der Geschichte Europas"?

Die Vereinbarung: Man wolle künftig im Europaparlament stärker zusammenarbeiten-gemeinsam gegen Brüssel, gegen Migration und die Rechte von sexuellen Minderheiten. Morawiecki glaubt gar an einen "Wendepunkt in der Geschichte Europas".

Das Vorhaben ist nicht ganz neu. Europas Rechtspopulisten und Rechtsextreme haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder versucht, sich auf EU-Ebene zusammenzutun. Doch es gibt, bei allen Gemeinsamkeiten, auch immer Trennendes, allem voran der Umgang mit Russland: Für Polen ist die Zusammenarbeit mit Moskau ein rotes Tuch, während Parteien wie der Rassemblement National, die Lega und die FPÖ Freundschaftsabkommen mit Wladimir Putins "Einiges Russland" abgeschlossen haben. Wegen diesen und anderen Hindernissen platzte der Traum von der großen Rechtsfraktion immer wieder.

Vereint in einer großen Fraktion hätten Europas Rechte nicht nur mehr Redezeit in Brüssel und Straßburg, Anspruch auf höhere Ämter sowie mehr finanzielle Mittel. Einige von ihnen können die Unterstützung Gleichgesinnter auch innenpolitisch gut gebrauchen. Nicht zuletzt, um von eigenen Versäumnissen abzulenken. Nirgendwo in Europa sterben, gemessen an der Gesamtbevölkerung, mehr Menschen an Covid-19 als in Ungarn. Die Zahlen legen eine fehlgeschlagene Gesundheitspolitik der Regierung nahe, und eine neue, starke Opposition formiert sich.

In Frankreich hat Marine Le Pen mit dem politischen Quereinsteiger Éric Zemmour einen Konkurrenten mehr im Kampf um den höchsten politischen Posten im Land, die Präsidentschaftswahlen finden schon im kommenden April statt. Und in Polen steht mit Donald Tusk ein Herausforderer der PiS für die Wahlen im Herbst 2023 in den Startlöchern.

Polen: Tusk ist wieder da

"Ja, ich bin zurück", sagt Donald Tusk. Es ist Sommer 2021, polnische Medien spekulieren seit Wochen, ob der Chef der Europäischen Volkspartei, ehemalige EU-Ratspräsident und einstige Regierungschef Polens nach Warschau zurückkehren wird. Nun weiß man: Ja, er will. Im Herbst 2023 wird Tusk mit seiner alten Partei, der liberalkonservativen "Bürgerplattform", bei den Parlamentswahlen antreten. Sein Gegner? "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), die Partei des erzkonservativen, 72 Jahre alten Jarosław Kaczyński, die seit 2015 die Regierung stellt.

Tusk wirft der PiS vor, "die Parodie einer Diktatur" errichtet und einen sinnlosen Streit mit der EU vom Zaun gebrochen zu haben. Die EU-Kommission hat mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau eröffnet und Klagen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht.

"Heute regiert das Böse in Polen", sagt Tusk. "Und wenn du das Böse siehst, bekämpfe es und frage nicht nach weiteren Gründen."

Donald Tusk

Verfolgt man die Berichterstattung über das "Sorgenkind" Polen, könnte man das Gefühl bekommen, dass dort bereits alles verloren sei. Die Regierung hat bewusst mit EU-Recht gebrochen, die Justiz umgekrempelt und zuletzt eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa erlassen. Es scheint ganz so, als bewege sich das Land im Galopp von der Staatengemeinschaft fort. Das mag für die Politiker gelten, nicht aber für die Mehrheit der Bevölkerung. In Polen ist die Zustimmung zur EU ungebrochen hoch. Und ein Blick auf die Straße zeigt: Immer mehr Menschen stellen die Herrschaft der PiS infrage. Hunderttausende haben dieses Jahr demonstriert. Sie schwenken Europa-Fahnen und rufen: "Wir bleiben!" Sie halten Kleiderbügel in die Luft und warnen vor lebensgefährlichen illegalen Abtreibungen. Sie haben es satt, dass Erzkonservative in ihrem Land den Ton angeben.

Donald Tusk will auf dieser Protestwelle zurück ins Regierungsamt reiten. "Wir werden gewinnen, denn wir sind mehr!", rief er im Oktober Demonstranten in Warschau zu.

In Ungarn sind ähnlich massive Proteste bisher ausgeblieben. Aber auch Viktor Orbán ist in die Defensive geraten.

Ungarischer Ministerpräsident Orban stellt sich in Migrantenfrage stur

Ungarn: Der Druck steigt

Am 23. Oktober säumt eine endlose Schlange von Autobussen die Budapester Ringstraße. Eine Rede von Ministerpräsident Viktor Orbán steht an. Seine Partei lässt dafür Zehntausende Anhänger aus dem ganzen Land in die Hauptstadt bringen. Die Ansprache auf dem zentralen Deák-Platz ist ein erster Vorgeschmack auf den Wahlkampf im neuen Jahr. Mit welchen Themen wird Orbán seine Wähler mobilisieren? Es geht, wie so oft, um die "Brüsseler Elite".Sie wolle den freiheitsliebenden Ungarn "die Heimat, die Familie, die Kultur, die Freiheit des alltäglichen Lebens" wegnehmen, warnt Orbán. "Die hohen europäischen Würdenträger wollen uns zu Liberalen prügeln." Aber der wahre Ungar gibt nicht klein bei: "Wenn die Zeit kommt, stellt euch vor eure Häuser und verteidigt sie!" Was Orbán verschweigt? Seine eigene Herrschaft wäre ohne die "Brüsseler Elite" kaum denkbar.

Ungarn gehört - neben Polen - zu den größten Empfängern von EU-Geldern. Zuletzt allerdings fror die EU-Kommission Corona-Hilfsgeldzahlungen für Ungarn in einem Volumen von über sieben Milliarden Euro ein. Und es könnten noch mehr werden. Jahrelang stand die EU jenen Mitgliedstaaten, die Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit abbauten, machtlos gegenüber. Die Gründungsväter der Union hatten es schlicht nicht für möglich gehalten, dass es je so weit kommen würde wie in Ungarn und Polen. Es fehlten Hebel für Sanktionen. Doch nun hat sich die EU-Kommission dazu durchgerungen, ihr neues Werkzeug, den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus, mit dem einzelnen Ländern die Fördergelder entzogen werden können, anzuwenden - oder zumindest damit zu drohen. Vor Kurzem hat Brüssel "blaue Briefe" nach Budapest und Warschau geschickt-Warnungen, in denen Polen und Ungarn Justizabbau und Korruption vorgeworfen werden. Dass den Staaten tatsächlich Fördergelder gestrichen werden, ist damit noch längst nicht sicher. Doch die Rhetorik Brüssels gegenüber Fidesz und PiS hat sich verschärft. Und in Deutschland ist mit der neuen Ampelkoalition soeben eine Regierung angetreten, die beim Thema Rechtsstaatlichkeit einen deutlich härteren Kurs fahren dürfte als Angela Merkel.

Der Druck auf die Rechtspopulisten steigt. Und auch innenpolitisch hatte Viktor Orbán schon bessere Zeiten. Seit mehr als zehn Jahren ist der 58-Jährige jetzt bereits an der Macht. Noch nie standen die Chancen höher, dass er abgewählt werden könnte. Orbán weiß das und umgarnt sein Wahlvolk mit Geldgeschenken in beispiellosem Umfang. Pensionisten werden im Februar aus heiterem Himmel eine 13. Monatspension erhalten; Eltern unterhaltspflichtiger Kinder bekommen-bis zu einem bestimmten Wert-die gesamte Einkommensteuer des Jahres 2021 zurückerstattet. Junge Menschen unter 25 müssen überhaupt keine Einkommensteuer bezahlen. Extra-Boni gibt es für Krankenpfleger, Lehrer, Polizisten, Soldaten und Feuerwehrleute. Für diese Wahlzuckerl ist Orbán bereit, einen gigantischen Schuldenberg anzuhäufen.

Abseits davon bleibt Orbán seinem antieuropäischen, migrationsfeindlichen und homophoben Diskurs treu. Er will (wie schon 2016 in der Migrationskrise) ein Referendum abhalten, um seine Anhänger bei besonders heiklen Fragen um sich zu scharen. Unter anderem soll darüber abgestimmt werden, ob für Geschlechtsumwandlungen bei Kindern geworben werden darf - ein Eingriff, der ohnehin nicht erlaubt ist.

Dabei hat Ungarn durchaus andere Probleme. Die Krankenhäuser sind in einem maroden Zustand, mehr als 36.000 Menschen sind bisher an oder mit Covid-19 gestorben. In Österreich, einem Land mit ähnlich vielen Einwohnern, waren es etwas mehr als 13.000.

Orbáns Anti-EU-Kurs könnte 2022 einen Höhepunkt erreichen. Das "wahre" Europa ist für ihn das "Europa der Völker", das "christliche Europa", das Europa vor der Aufklärung und der Moderne. Zu diesem Bild passt auch Orbáns neuer Amtssitz. 2018 hat er sich die Burg von Buda, im Mittelalter das Machtzentrum der ungarischen Könige, zum Residenzsitz umbauen lassen. Im März dieses Jahres ließ er dort eine Metalltafel mit eingravierten "Gesetzen" anbringen, im Volksmund spöttisch "Die sieben Gesetze des Orbán" genannt. Da steht unter anderem: "Jedes ungarische Kind ist ein neuer Wachposten!"

Doch der wortgewaltige Burgherr spürt den Druck, der sich gegen ihn aufbaut. Die einst ohnmächtige Opposition hat sich diesmal - von links über öko - liberal bis rechtskonservativ - zu einem disziplinierten Wahlbündnis zusammengeschlossen. Im Rennen um die Spitzenkandidatur setzte sich bei der Vorwahl völlig überraschend Péter Márki-Zay durch, der parteilose Bürgermeister einer südostungarischen Kleinstadt.

Der Herausforderer Orbáns ist ein gläubiger Christ, ein moderater Konservativer und ein entschlossener Korruptionsbekämpfer. Zugleich ist er nach mehrjährigen beruflichen Aufenthalten in den USA und Kanada hinreichend weltoffen und tolerant, um Linke und Liberale hinter sich zu sammeln. Sein Slogan "Nicht links, nicht rechts, sondern aufwärts!"klingt aufs Erste banal. Márki-Zay spricht aber jene Menschen an, die Orbáns Großsprecherei, seine Angriffe auf die Pressefreiheit und seinen Konfrontationskurs mit der EU satthaben.

In den Umfragen liegen Fidesz und das Oppositionsbündnis Kopf an Kopf. Zwar lässt sich der Wahlausgang nicht vorhersagen, doch der erstmals seit zwölf Jahren bedrängte Regierungschef will nichts dem Zufall überlassen. Der Zugriff auf die reichweitenstärksten Medien beschert ihm einen Propaganda-Vorteil. Der Staatsapparat dient schon seit Langem den Parteiinteressen.

"Wir müssen nur einmal gewinnen, aber dann richtig", hat Orbán bereits vor zehn Jahren gesagt - und damit seinen autoritären Führungsstil früh angedeutet.

Nur: Um im Amt zu bleiben und Ungarn weiter Richtung "illiberale Demokratie" umbauen zu können, muss Orbán auch die Wahlen im kommenden April gewinnen. Sonst könnte es bald vorbei sein mit der schönen Idee vom neuen Europa - und mit dem Plan von Europas Rechten, bald zweitstärkste Kraft im Europaparlament zu sein.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.