Im November vergangenen Jahres erlebten die Niederlande einen Schock. Nicht nur hatte mit Geert Wilders ein wegen Beleidigung verurteilter Rechtspopulist die Parlamentswahlen gewonnen. Überraschend war vor allem, wie deutlich sein Sieg ausfiel. Wilders’ „Partei für die Freiheit“ (PVV) konnte 23,6 Prozent der Stimmen für sich gewinnen. Auf dem zweiten Platz lag das linke Wahlbündnis des Sozialdemokraten Frans Timmermans – weit abgeschlagen mit 15,7 Prozent.
Die neue Regierung in den Haag steht seit vergangenem Dienstag. Zu Wilders’ Partnern gehören neben der rechtskonservativen NSC und der rechtspopulistischen Bauernpartei auch die rechtsliberale VVD von Ex-Premier Mark Rutte.
Die viel beschworene Brandmauer ist damit auch in den Niederlanden gefallen. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Versprechen etablierter Parteien, sich nicht mit der extremen Rechten einzulassen. Das erste Mal gebrochen wurde es in Österreich: Im Februar 2000 einigte sich die ÖVP von Wolfgang Schüssel auf eine Koalition mit Jörg Haiders FPÖ. Im Rest der EU sorgte das damals für Empörung. Doch diese Zeiten sind vorbei. Rechte und Rechtspopulisten sind längst salonfähig geworden.
Sie stellen in mittlerweile sieben EU-Ländern die Regierungschefs oder sind an der Koalition beteiligt (siehe Grafik); in Schweden ist die Regierung von der Unterstützung der rechten „Schwedendemokraten“ abhängig. Und in Belgien soll nun der rechtskonservative Nationalist Bart De Wever von der „Neu-Flämischen Allianz“ (N-VA) eine Koalition bilden.
Auch bei den EU-Wahlen haben Rechte zugelegt, vor allem in Deutschland, Frankreich und Österreich. Noch nie saßen so viele Nationalisten und Populisten im Europäischen Parlament. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die in den 1980er-Jahren ihren Anfang nahm.
Die Ängste der Mittelschicht
In den vergangenen Jahrzehnten konnten Rechtspopulisten ihre Wählerschaft erweitern, das zeigt sich in den Niederlanden besonders deutlich. Dort stimmten Menschen quer durch alle Gesellschaftsschichten und Altersklassen für Geert Wilders. Nicht der wütende weiße Mann, nicht die Globalisierungsverlierer und Abgehängten verhalfen Wilders zum Sieg, sondern vor allem jene, denen es (noch) gut geht, die aber vom sozialen Abstieg bedroht sind – oder ihn zumindest fürchten.
In den Niederlanden müssen Familien zweimal so viel arbeiten wie früher, um ihren Lebensstandard zu halten.
Roxane van Iperen
Autorin
In den Niederlanden vermischte sich die Angst vor Migration mit realen existenziellen Problemen, allen voran der Wohnungsnot. Wilders wusste das zu nutzen und verknüpfte die Sorgen der Menschen zu einem vermeintlich erklärenden Narrativ: Die Migranten nehmen euch die Wohnungen weg.
„Bei den Wahlen in den Niederlanden hat die Mittelschicht den Unterschied gemacht“, sagt die Bestsellerautorin Roxane van Iperen. „Sie macht die größte Wählergruppe aus und dominiert die Debatte um Gesellschaft, Wirtschaft und kulturelle Werte.“ Die Mittelklasse sei der Klebstoff, der alles zusammenhält.
Vor einem Jahr erschien van Iperens Essay „Eigen welzijn eerst“ (Das eigene Wohlbefinden steht an erster Stelle), Untertitel: „Wie die Mittelschicht ihre liberalen Werte verlor“. In ihrem Buch beschreibt van Iperen, wie die Niederlande Stück für Stück von einem weltoffenen Land zu einem Staat wurden, in dem Politiker mit ausländerfeindlichen Parolen Wahlen gewinnen.
Zwei Punkte sind dabei zentral: der Vertrauensverlust der Menschen in die Politik – und die Mitte-Parteien, die die Rhetorik der Rechten übernahmen.
In den Niederlanden sind die Miet- und Immobilienpreise explodiert, Konkurrenz ist an die Stelle staatlicher Fürsorge getreten. Das Fortschrittsversprechen sei verschwunden, sagt van Iperen, heute schicken Eltern ihre Kinder vermehrt in Privatschulen, weil sie staatlichen Bildungseinrichtungen misstrauen. Auf geförderte Wohnungen warte man mindestens sieben Jahre.
Globalisierung, Deregulierung und Privatisierung haben den Wohlfahrtsstaat geschwächt, Einkommen wurden durch höhere Steuern belastet. „Das ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern auch ein Angriff auf die Werte der Mittelklasse“, sagt von Iperen. „Familien müssen zweimal so viel arbeiten wie früher, um ihren Lebensstandard zu halten.“
Der Feind von außen
Am Ende sei die Mittelschicht bereit gewesen für das Narrativ der Rechten: staatliche Unterstützung nur für hart arbeitende, autochthone Niederländer. Das liege auch daran, dass konservative Parteien dasselbe forderten. Damit wurden Wilders’ Positionen normalisiert. „In den vergangenen zehn Jahren sind Rechte wie Wilders vom Outsider zum Mann der Mitte geworden“, sagt van Iperen.
Der Diskurs lässt sich nur verschieben, wenn man ihn konsequent führt, und genau das haben Rechtspopulisten in den vergangenen Jahrzehnten getan.
Philip Rathgeb
Politologe
Von einer Normalisierung der radikalen Rechten spricht auch Philip Rathgeb von der Universität Edinburgh. In seiner Studie „How the Radical Right has Changed Capitalism and Welfare in Europe and the USA“ untersucht der Politologe den Wandel rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien in den vergangenen 40 Jahren.
„Der Diskurs lässt sich nur verschieben, wenn man ihn konsequent führt, und genau das haben Rechtspopulisten in den vergangenen Jahrzehnten getan“, sagt Rathgeb. Die ideologische Spaltung verlaufe dabei nicht zwischen oben und unten, also arm und reich, sondern zwischen innen und außen: „Wir gegen ‚die‘, also gegen äußere Feinde wie Migranten und ethnische Minderheiten, aber auch gegen die EU und internationale Klimapolitik“.
Auf diese Weise sei es den Rechten gelungen, politischen Gegnern ihre Agenda aufzuzwingen: Konservative Parteien mussten sich positionieren. In der Hoffnung, den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln zu nehmen, kopierten sie deren Parolen. Profitiert hat davon der rechte Rand. Heute verfange das „Wir zuerst“-Versprechen vor allem bei Vertretern der Mittelschicht mit niedrigem formalen Bildungsabschluss.
Umbau statt Putsch
Der Aufstieg der Rechten in Europa und anderswo lässt Beobachter Vergleiche mit den 1930er-Jahren ziehen. „Damals war die Demokratie durch Staatsstreiche gefährdet, heute kommt eine andere Taktik zum Einsatz“, sagt Rathgeb. Durch das Drehen an vielen Schrauben verwandeln Rechtspopulisten liberale Demokratien Schritt für Schritt in Autokratien. Dazu gehört vor allem der Umbau des Justizsystems sowie der Medienlandschaft, „sodass Wahlen zwar noch frei sind, aber mit Sicherheit nicht mehr fair“, sagt Rathgeb.
Als Vorbild dient dabei Ungarns Regierungschef Viktor Orbán.
Rechtspopulisten wie Orbán geht es darum, die bestehende Ordnung zu zerstören. Nur: Was kommt danach?
In den Niederlanden stellt Geert Wilders den Konflikt in den Fokus. „Er meint, dass es die Eskalation braucht, um Frieden zu garantieren“, sagt van Iperen. Danach, so das Versprechen, könnten die Niederlande ihre Vergangenheitsnostalgien wiederbeleben: ein Leben in einer homogenen Gesellschaft, frei von Gewalt und Widersprüchen. Wie einst in den 1960er-Jahren – oder besser: wie in einer romantisierten Version der 1960er, die es so nie gegeben hat.