Redefreiheit unter Druck: Kuck mal, wer da nicht mehr spricht!
Von Robert Treichler
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Was haben Ungarns rechtsnationalistischer Ministerpräsident Viktor Orbán, der ehemalige linksradikale griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, der Mitgründer der britischen Brexit-Partei Nigel Farage, der Chef der linksradikalen französischen Partei „Die Unbeugsamen“ Jean-Luc Mélenchon und seine Parteifreundin Rima Hassan gemeinsam? Zugegeben, keine einfache Frage, denn politisch trennen die Genannten Welten. Jedoch: Sie alle eint dieselbe Erfahrung. Sie wollten in den vergangenen Tagen jeweils an Veranstaltungen teilnehmen, die behördlich untersagt wurden. „Zensur!“, tobte ein Sprecher der „Unbeugsamen“, „Westentaschendiktatur!“, schnaubte Nigel Farage. Mit diesem Akt sei „eine unglaubliche Schwelle an politischer Gewalt überschritten worden“, zürnte Mélenchon.
Gerät die Redefreiheit ausgerechnet in Europa, wo 1789, dem Jahr der Französischen Revolution, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte veröffentlicht wurde, in der „die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen“ als „eines der kostbarsten Menschenrechte“ enthalten war, unter Druck? Oder gibt es vielmehr gute Gründe, diese Freiheit im Einklang mit politisch-ethischen Werten doch etwas mehr zu beschneiden? Zum Beispiel im Fall von Antisemitismus und Rassismus.
Die Räumlichkeiten in der Universität der nordfranzösischen Stadt Lille waren reserviert und die Flugblätter verteilt, als das Rektorat bekannt gab, dass die „Palästina-Konferenz“, veranstaltet von Mélenchons Parlamentspartei „Die Unbeugsamen“ und der studentischen Organisation „Libre Palestine“ (Freies Palästina), untersagt sei. Tatsächlich hatte sich die Universitätsleitung politischem Druck gebeugt. Politiker der konservativen Partei „Die Republikaner“ und des rechtspopulistischen „Rassemblement National“ hatten verlangt, die Konferenz der Linken zu verbieten. Der Grund: Antisemitismus.
Präziser: Das Logo von „Freies Palästina“ zeigt unter diesem Schriftzug eine Karte der besetzten palästinensischen Gebiete und Israels als ungeteiltes Territorium. Die Botschaft: Israel gibt es nicht. Dieser Interpretation widersprach die Organisation zwar und argumentierte, man zeige bloß die umkämpfte Region, deren Grenzen nun einmal nicht festgelegt seien, doch der Rausschmiss war beschlossen: Die Bedingungen, die erforderlich seien, um „die Ruhe der Veranstaltung zu garantieren“, seien „nicht gegeben“, gab die Universitätsleitung am Vortag der Konferenz schriftlich bekannt.
Die Veranstalter waren empört und schworen, ihr öffentliches Palästina-Gespräch in einem rasch angemieteten Saal in Lille abzuhalten. Doch jetzt schritt die Präfektur ein und untersagte die Konferenz neuerlich, diesmal unter anderem wegen einer „ungünstigen Einschätzung der Sicherheits-Kommission“.
Am Ende blieb Parteichef Mélenchon und seiner EU-Kandidatin Rima Hassan nichts anderes übrig, als zu einer wütenden Protestkundgebung an einem öffentlichen Platz in Lille aufzurufen – „gegen Zensur und für den Frieden“. Ein paar Hundert Leute kamen.
Ich bin dafür, dass die Leute sich frei ausdrücken können, auch wenn ich ihre Ansichten bekämpfe.
Nicht allen ist angesichts eines solchen Veranstaltungsverbots wohl in ihrer Haut, allen voran Staatspräsident Emmanuel Macron, einem Liberalen. „Ich bin dafür, dass die Leute sich frei ausdrücken können, auch wenn ich ihre Ansichten bekämpfe“, sagte Macron auf die Frage eines Journalisten und fügte hinzu: „Die Republik ahndet rassistische und antisemitische Reden. Um darüber Urteile zu fällen, gibt es Richter.“
Doch was Macron als gegeben darstellt, sieht aktuell ganz anders aus. In dem Fall der Palästina-Konferenz in Lille führte politischer Druck dazu, dass die Veranstaltung abgesagt wurde. Ein Abgeordneter des Rassemblement National rechtfertigte seine Forderung nach einem Verbot etwa damit, dass bei der Konferenz „wahrscheinlich“ antisemitische Reden gehalten würden. Das beanstandete israelfeindliche Logo ist nicht verboten. Aber da als offizielle Begründung für die Untersagung der Konferenz vage Sicherheitsbedenken genannt wurden, kann die Justiz mit dieser Frage erst gar nicht befasst werden.
Die Gegner der Veranstaltung freuen sich, Antisemitismus verhindert zu haben. Wahrscheinlich haben sie recht, allerdings um einen hohen Preis. An Justiz und Gesetzen vorbei wurde das Recht auf Versammlungs- und Redefreiheit beschnitten.
Der Fall ist exemplarisch, aber alles andere als einzigartig.
„Palästina-Kongress“
Auch in Berlin hätte vom 10. bis 14. April ein „Palästina-Kongress“ stattfinden sollen. Dessen israelfeindliche Ausrichtung war offensichtlich, in einer vorab veröffentlichten „Resolution“ fanden sich alle Reizworte von „Apartheid“ bis „Völkermord“ – während der Name „Hamas“ gänzlich fehlte. Gegen einen der Redner, den britisch-palästinensischen Chirurgen Ghassan Abu Sitta, bestand ein sogenanntes behördliches „Betätigungsverbot“, offenbar wegen des Vorwurfs antisemitischer Aussagen in jüngerer Vergangenheit. Bei der Einreise wurde er am Flughafen abgewiesen. Als Abu Sitta deshalb bei der Konferenz per Video zugeschaltet wurde, schritt die Polizei ein und beendete die Veranstaltung. Danach wurde bekannt, dass auch gegen einen weiteren Gast ein Einreiseverbot verhängt worden war, und zwar gegen den früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Er hatte den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 nicht klar verurteilt. Die deutschen Behörden werfen ihm „Hasstiraden gegen Israel und gegen Juden“ vor.
Für die Veranstaltung hatte die Polizei Regeln ausgegeben, der Berliner „Tagesspiegel“ listete sie auf: „kein Hass und keine Hetze gegen Israel und Menschen, kein Bejubeln des Terrors der islamistischen Hamas und des Massakers vom 7. Oktober 2023, keine Relativierung des Holocaust, keine Symbole von Terrororganisation wie Hamas oder PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas), kein Verbrennen von Fahnen und Puppen.“
Hass auf Israel hat keinen Platz in Berlin.
Doch der Anlass für die Auflösung der Veranstaltung war offensichtlich kein konkreter Verstoß gegen eine dieser Regeln, sondern die Tatsache, dass Ghassan Abu Sitta trotz Betätigungsverbots das Wort ergriff.
Berlins Bürgermeister Kai Wegner postete auf der Plattform „X“: „Hass auf Israel hat keinen Platz in Berlin.“ Diesem Satz mag man nicht widersprechen, allerdings ist die Grenze, wo „Hass“ beginnt und die Redefreiheit endet, derzeit stark in Bewegung. Ist etwa der Vorwurf, Israel begehe einen „Völkermord“, bereits „Hass“? Immerhin hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag diese Anschuldigung seitens Südafrika nicht abgewiesen, sondern dazu ein Verfahren zugelassen.
„Offensichtlich provokativ“
Politisch gänzlich anders motiviert war die Auflösung einer Veranstaltung in Brüssel, ebenfalls Mitte April. Dort fand die „National Conservatism Conference“ statt, eine Versammlung rechtsnationalistischer Politiker, darunter Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, Nigel Farage, einer der Gründer der britischen Brexit-Partei, und Eric Zemmour, ein französischer Rechtsaußen-Politiker. Zwei Stunden nach Beginn löste die Polizei die Veranstaltung auf. Sie sei geeignet, „aufgrund ihres offensichtlich provokativen und diskriminierenden Charakters die öffentliche Ordnung ernsthaft zu stören“, so die Begründung. Zemmour, einer der Redner, hat eine lange Liste von Verurteilungen wegen rassistischer Hetze in seinem Register, die bislang letzte stammt aus dem Februar dieses Jahres.
Doch das prophylaktische Unterbinden möglicherweise strafbarer Aussagen ist eine äußerst heikle Angelegenheit. In diesem Fall musste der Bürgermeister des Brüsseler Stadtbezirks, der die Veranstaltung untersagt hatte, klein beigeben, nachdem ein Gericht seine Entscheidung aufgehoben hatte. Auch der belgische Premierminister Alexander de Croo, ein Liberaler, hatte das Verbot scharf kritisiert.
In Lille, Berlin, Brüssel und in vielen weiteren Fällen treffen Behördenvertreter oder Politiker Ad-hoc-Entscheidungen, die rechtlich oft auf wackeligen Beinen stehen – oder, schlimmer noch, mittels Scheinrechtfertigungen wie „Sicherheitsbedenken“ begründet werden. Die Debatte darüber, welche Aussagen als „Hass“, „Antisemitismus“ oder „Hetze“ untersagt werden sollen, findet im Treibsand sozialer Medien statt, nicht in Parlamenten und vor Gerichten. Allgemeine Tendenz: im Zweifel verbieten.
Europa, das sich die Redefreiheit historisch hart erkämpfen musste, ist verunsichert. Wenn seine liberalen Demokratien Veranstaltungen auf schwacher Rechtsgrundlage verbieten, was werden dann illiberale Politiker tun, wenn sie an die Macht kommen?
„Wir sind Hamas!“
Ungleich aggressiver wird der Kampf darüber, was von der Redefreiheit gedeckt ist und was nicht, in den USA ausgetragen. Aus europäischer Perspektive mutet der Streit an den US-Universitäten wie Columbia (New York City) geradezu absurd an. Wie können Parolen wie „Brennt Tel Aviv nieder!“ oder „Für euch wird jeder Tag ein 7. Oktober sein!“ vom Gesetz geschützt sein?
Um das zu verstehen – auch wenn man es befremdlich findet –, muss man einen wesentlichen Aspekt der Geschichte der USA kennen. Nicht zufällig ist die Redefreiheit im 1. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung verankert. Der Kongress soll „kein Gesetz erlassen“, das die „Redefreiheit (…) einschränkt“, heißt es da.
Ob Aussagen voll Hass sind, ist kein Kriterium. Der Supreme Court, das Oberste Gericht, hat entsprechend der Verfassung immer zugunsten der Redefreiheit entschieden, etwa auch in dem wegweisenden Fall „Brandenburg gegen Ohio“, in dem es um die Frage ging, ob Mitglieder des rassistischen Ku-Klux-Klans zu „Rache“ aufrufen und Afroamerikaner und Juden mit Schmähworten bezeichnen dürfen.
Doch es gibt eine Einschränkung: Wenn eine Aussage eine Bedrohung darstellt, ist sie nicht durch die Redefreiheit gedeckt. Was allerdings als Bedrohung gilt, ist sehr eng definiert. Ein allgemeiner Aufruf zum Genozid etwa kann erlaubt sein, weil die Aussage nicht unmittelbar auf einen Gesetzesbruch abzielt. Erst wenn Gewaltaufrufe Anwesende einschüchtern oder mit hoher Wahrscheinlichkeit direkt zu Gewalt oder Gesetzesbrüchen führen können, verlieren sie den Schutz der Verfassung.
Israel-Hasser, die am Campus der Universität „Wir sind Hamas“ skandieren, bleiben straffrei – es sei denn, sie tun dies etwa vor der Wohnung jüdischer Studenten.
Was in den USA seit dem Beschluss der Bill of Rights im Jahr 1789 so unzweifelhaft geklärt schien, gerät nun – wieder einmal – unter Druck. Die Gesellschaft wird immer sensibler, was Diskriminierungen betrifft, selbst im Bereich von Mikroaggressionen, doch wüste Slogans in der Öffentlichkeit sollen straffrei bleiben?
Mitten in diesem Paradoxon muss die Universitätsführung versuchen, einen Ausgleich zwischen gesetzlicher Redefreiheit und dem Schutz jüdischer Studierender zu schaffen. Kein Wunder, dass sie scheitert. Nemat Shafik, Präsidentin der Columbia Universität, „muss zurücktreten“, verlangt die Boulevardzeitung „New York Post“ mittlerweile täglich.
Die Situation ist in den USA und in Europa denkbar unterschiedlich, aber gleichermaßen heikel. Während die Redefreiheit am alten Kontinent allzu leicht ausgehebelt werden kann, lässt die Gesetzeslage in der Neuen Welt kaum Änderungen zu.
Der einzige Ausweg: eine Debatte.
Robert Treichler
Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur