Reportage: Angst und Schrecken vor den Landtagswahlen in Bayern
Stellen Sie sich Deggendorf als einen Ort vor, an dem es keinen Grund gibt, sich zu beklagen. Und zwar wirklich überhaupt keinen. Hier finden Sie: Als Grundversorgung zwei Autobahnen und ein Einkaufszentrum. Wohlerzogene Schüler im Pendlerzug, dazu eine Schaffnerin, die ein Auge zudrückt, wenn einer seinen Fahrausweis vergessen hat. Perfekt instand gehaltene Radwege mit Radfahrern, die tatsächlich absteigen, wenn ein Hinweisschild dies verlangt. Keine Parkplatznot. Eine Uferpromenade entlang der Donau. Einen Kinderspielplatz, an dem nicht einmal eine Sprosse am Klettergerüst kaputt ist. Ein Kulturviertel. Die 33.000-Einwohner-Kleinstadt Deggendorf liegt im gleichnamigen Landkreis und der wiederum in Niederbayern. Auch für diese Region gilt: Alles läuft prima. Einst war dieser südöstliche Landstrich das Armenhaus des Freistaates. Damals hieß es, es gäbe hier, im Bayerischen Wald, dreierlei Sorten Mensch: Arme, Bettler und solche, die gar nichts haben. Heute weist Niederbayern eine der niedrigsten Arbeitslosenraten in Deutschland auf, das BMW-Werk in Dingolfing macht den Konjunkturmotor. Niederbayern ist ein geglücktes Beispiel für ein kleines Wirtschaftswunder in einer vormals strukturschwachen Gegend. Eine Aufsteigerregion. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" empfiehlt Niederbayern - ein klitzekleines bisschen ironisch -neben Mosambik, Estremadura, Palm Springs oder Kinosaki Onsen als Geheimtipp unter den Reisezielen für 2018.
Wer so denkt, war bestimmt noch nie an einem Mittwochabend im Gasthaus "Landshuter Hof" in der Marktgemeinde Pilsting, und zwar im Extrazimmer mit dem großen Flachbildschirm und der Vitrine mit ungeordnetem Krimskrams. Der Weg dorthin führt an mehreren Stammtischrunden vorbei. Die "reden blöd" über die kleine Gruppe im Extrazimmer, was der Gruppe beim Vorbeigehen nicht entgangen ist und nun für abfälliges Kopfschütteln sorgt. Die da draußen, die würden halt nicht mit der Zeit gehen. Stehen geblieben seien sie, und sie würden nicht mal bemerken, wie überholt ihr Weltbild längst schon sei.
Jetzt ist die Tür zu. Bei Bier, Kotelett mit Pommes oder Saurer Wurst werden in den folgenden Stunden zehn Männer und eine Frau den Zustand ihrer Heimat beklagen. Geladen hat Wolfgang Hansbauer, ein 65 Jahre alter pensionierter Taxi-Unternehmer. Der groß gewachsene Mann mit Glatze, kariertem Hemd und Sakko hat zeit seines Lebens gesagt, er wolle nie in eine Partei eintreten. Je nach deren aktuellen Wahlversprechen stimmte er einmal für die eine große Partei, dann wieder für die andere. 2013, Hansbauer war da immerhin schon 60, wurde endlich eine Partei gegründet, die seinen Ärger verstand: die Alternative für Deutschland (AfD). Seit 2015 ist Hansbauer einer ihrer ehrenamtlichen Kreisvorsitzenden.
Bissig-spöttische Botschaften
Im Stehen hält er vor den Mitstreitern und Sympathisanten eine Rede. Er zeichnet ein düsteres Bild einer Gesellschaft, die im Begriff ist, ihre Kultur zu verlieren; deren Errungenschaften mit Füßen getreten werden; die ihren Wohlstand davonschwimmen sieht. Ein Volk, belogen von Politikern, eingelullt von den Medien. Das alles trägt Hansbauer im gemütlichen niederbayerischen Dialekt vor, gelegentlich mit bissig-spöttischem Unterton, und immer mit der Schwere dräuenden Unheils. Mögen die da draußen blöd reden, die hier drinnen sehen deutlich die Vorboten des Untergangs. Sie wissen, was auf Niederbayern zukommt.
Also zum Beispiel das: "In Arnstorf gibt es eine Moschee!" "Jeder Bezirk muss aus seinem Budget für die Versorgung volljährig gewordener unbegleiteter Flüchtlinge aufkommen!"
"Man will mit den Dieselgrenzwerten unsere Autoindustrie kaputtmachen!"
"Die Migranten dürfen alles und werden nicht abgeschoben. Aber wenn du was auf Facebook schreibst, wirst du gesperrt!"
"Wir müssen Arabisch lernen, damit wir auch dieselben Förderungen kriegen wie die Ausländer!"
"Der Wirt in Wallersdorf hat sich die Pratz'n auseinandergeschnitten!"
Die letzte der aufgezählten Hiobsbotschaften ist zwar individueller Natur, hat aber politische Implikationen. Beim Wirt in Wallersdorf hätte einer der nächsten Stammtische der AfD stattfinden sollen.
Manche der Aussagen sind wahr: In Arnstorf gibt es tatsächlich eine Moschee; Bezirke müssen volljährige unbegleitete Flüchtlinge versorgen. Manche sind wüste Fehlinterpretationen, etwa die Vermutung, die deutsche Bundesregierung wolle die Autoindustrie sabotieren. Und manche sind so absurd, dass es besser wäre, sie würden den Raum nicht verlassen: etwa zu glauben, arabische Flüchtlinge seien besser dran als Einheimische. Und hin und wieder rufen die AfDler Gemeinheiten: etwa über das Video, das bei den Anti-Ausländer-Demonstrationen in Chemnitz gemacht wurde und das einen Migranten zeigt, der vor drohenden Männern die Flucht ergreift: "Dem haben sie Arbeit anbieten wollen", sagt einer. "Gefährder raus!" und "Abschieben!", hallt es zurück.
"Uns kann keiner, uns können alle"
Die Kellnerin kommt immer wieder mal herein, bringt Biere und markiert die Anzahl auf den Bierdeckeln. Zwischendurch ebbt das Gespräch ab. Doch es braucht bloß ein paar Reizwörter, und gleich kommt wieder Stimmung auf. Bundeskanzlerin Angela Merkel ("Jeder andere ist besser!"), die Systempresse ("Schlechtreden, totschweigen, attackieren, das machen sie mit uns!"), der Euro ("Wir werden Italien, Spanien und Frankreich durchfüttern müssen!"). Eine Gesellschaft braucht wohl Orte, an denen Unzufriedenheit, Unsinn und vielleicht auch bösartiges Geifern möglich sind. Hinterzimmer von Gasthäusern können diesen Zweck erfüllen, zumal, wenn ein Schild mit der Aufschrift "Uns kann keiner, uns können alle" an der Wand hängt wie im "Landshuter Hof". Allerdings bleibt das, was sich Mittwochabend im Extrazimmer zusammenbraut, keineswegs folgenlos. Die ressentimentgeladene Atmosphäre zieht nicht einfach ab, wenn die Gäste nach Hause gegangen sein werden und die Kellnerin zum Lüften die Fenster weit aufreißt.
Dieser Stammtisch ist ein winziger Teil der Basis der AfD. Wenn am 14. Oktober die bayerischen Landtagswahlen abgehalten werden, tritt die AfD hier zum ersten Mal an, und laut Umfragen wird sie zwischen zehn und 14 Prozent der Stimmen bekommen. In einigen Wahlkreisen wird sie noch vor den Grünen, den Freien Demokraten und der SPD auf Platz zwei liegen. Das war schon bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr so. In einem Wahlbezirk in Deggendorf erreichte die AfD damals 31,5 Prozent. Die Kleinstadt bekam so in der nationalen Presse einen Beinamen: "die bayerische AfD-Hochburg". Warum ausgerechnet Deggendorf? Eine mögliche Antwort findet man vielleicht unweit des Bahnhofs der Stadt. Hier befindet sich ein sogenanntes "Ankerzentrum", eine Einrichtung für "Ankunft, Entscheidung, Rückführung" von Migranten. Früher lautete die Bezeichnung "Erstaufnahmezentrum", danach "Transitzentrum", seit August dieses Jahres eben Ankerzentrum. Als die Zahl der Flüchtlinge vor einigen Jahren zuzunehmen begann, suchte die Landesregierung Gebäude für deren Unterbringung. Da wurde Christian Bernreiter, damals und auch heute noch Landrat des Landkreises Deggendorf, aktiv. Der Politiker der bayerischen Regierungspartei CSU verkündete 2014 die Einrichtung eines Erstaufnahmezentrums in den Gebäuden, in denen bereits in den 1990er-Jahren Flüchtlinge beherbergt worden waren.
Dann kam der Herbst 2015. Hunderte Flüchtlinge gelangten an manchen Tagen über die nahe österreichisch-deutsche Grenze. Zelte wurden aufgestellt, Landräte trafen sich mit dem damaligen Ministerpräsident Horst Seehofer zu einer Krisensitzung. In Deggendorf herrschte der Ausnahmezustand. "Die Stimmung kippt", warnte Bernreiter damals.
Heute, drei Jahre später, ist von dem Kontrollverlust, den viele beklagten, nichts mehr zu spüren. Im Ankerzentrum und den zwei Außenstellen werden insgesamt rund 600 Asylwerber beherbergt, die meisten derzeit aus Aserbaidschan, Sierra Leone und Nigeria. Ihnen gemeinsam ist eine "schlechte Bleibeperspektive". Heißt: Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit keine Asylberechtigung bekommen. Werden sie abgeschoben? Landrat Bernreiter seufzt. Bei den Aserbaidschanern sei das kein Problem, aber die westafrikanischen Staaten weigerten sich, Migranten zurückzunehmen. "Man muss schauen, wie es weitergeht."
Das Ankerzentrum ist im Bewusstsein vieler Deggendorfer das geworden, was die Stadt bis dahin nicht gehabt hatte: ein handfester Grund, sich zu beklagen und Unmut zu äußern. Der äußere Anlass ist ein Fall von Ruhestörung. Der vergangene Sommer war heiß, und die Afrikaner hielten es nachts in ihren Container-Quartieren nicht aus. Sie klettern auf das Dach und feierten und trommelten da bis in den Morgen. Die Anrainer waren verständlicherweise aufgebracht. Sie riefen die Polizei. Der Vorfall wurde in den örtlichen Medien ausführlich berichtet. Landrat Bernreiter erzählt, dass er erst vergangene Woche wieder bei einer Anrainerversammlung war. Das Problem der Ruhestörung sei inzwischen behoben.
Vage Gerüchte
Doch mittlerweile hat sich Angst verbreitet. Jeder im Ort kennt die Gerüchte. Die Afrikaner würden Mädchen anquatschen. Und auch anfassen. Sie würden nicht aus dem Weg gehen, wenn ihnen eine Mutter mit Kinderwagen entgegenkäme. Kinder würden sich nicht mehr allein in die Schule wagen, die direkt gegenüber dem Zentrum liegt. Im Penny-Markt daneben würden sich die Afrikaner vordrängen. Der Markt sei auch schon mehrmals ausgeraubt worden.
Der Haken an all diesen Vorwürfen: Niemand weiß Genaueres. Hans-Jürgen Weißenborn von der Caritas in Deggendorf unterstützt mit seinen Mitarbeitern die Bewohner des Ankerzentrums bei Behördenwegen. Er kennt die Situation, und er fragt auch immer wieder bei der Polizei nach, ob Vorfälle angezeigt worden seien. "Nichts", schüttelt Weißenborn den Kopf, nur eben die Ruhestörung.
Eine Familie - Vater und Mutter mit Baby - kommt eben ins Ankerzentrum zurück. Sie war am Standesamt, um die Vaterschaft eintragen zu lassen. Aserbaidschanische Asylwerber demonstrieren gegen ihrer Meinung nach ungerechtfertigte Ablehnungsbescheide. Kinder mit Schultaschen wandern fröhlich vorbei. Junge Männer vertreiben sich drinnen im Hof des Zentrums tatenlos die Zeit. Niemand weiß, wie es weitergeht. Nachdem die CSU den Schock des Bundestagswahlergebnisses erlitten hatte, versuchte sie als Koalitionspartner der Bundesregierung in Berlin, einen raueren Ton gegenüber Migranten anzuschlagen. Innenminister Seehofer legte seinen "Masterplan Migration" vor, die Wähler sollten kapieren, dass die CSU hart gegen unerwünschte Migranten durchgreife. Was hat sich seither geändert? Im Ankerzentrum Deggendorf können die westafrikanischen Migranten weiterhin nicht abgeschoben werden. Bloß ihre Lebensumstände wurden durch die neue Gesetzeslage verschlechtert. Durften sie bisher bereits nach sechs Monaten von einem Massenquartier in eine Gemeinschaftsunterkunft mit eigener Kochgelegenheit übersiedeln, so müssen sie gemäß den neuen Regeln zwei Jahre darauf warten. Die Kinder, die früher die öffentlichen Schulen in Deggendorf besuchten, werden nun in eigenen Klassen unterrichtet.
Zusätzlich zu den Maßnahmen von Seehofers Masterplan wie etwa Schleierfahndungen hinter der Grenze oder - zum Teil noch ausständigen - Rücknahmeabkommen setzte die CSU auch auf eine verschärfte Rhetorik. Plötzlich tauchte etwa in Aussagen von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder der Begriff "Asyltourismus" auf, den bis dahin ausschließlich AfD-Politiker in den Mund genommen hatten.
Die AfD konnte ihr Glück nicht fassen. Die CSU, Bayerns ewige Regierungspartei und Inhaberin der absoluten Mehrheit, legte es offenbar darauf an, die erstmals im Freistaat antretende Jungpartei kopieren zu wollen. Hämisch plakatierten die Herausforderer ein Sujet mit einem Bild von Franz Josef Strauß, dem legendären CSU-Vorsitzenden (1961-1988), und der Aussage, er würde heute "AfD wählen".
Söders Fehler
Die Strategie der CSU ging nicht auf, die Umfragewerte purzelten weiter. Schließlich bekannte Söder ein, einen Fehler gemacht zu haben, und erklärte öffentlich, Ausdrücke wie "Asyltourismus" nicht mehr verwenden zu wollen. Der unverhohlene Flirt mit Versatzstücken des Rechtspopulismus hat der CSU geschadet. Sie muss sich jetzt den Vorwurf der SPD gefallen lassen, sie habe "einen Waldbrand gelegt und versuche, ihn nun mit der Wasserpistole zu löschen". Zugegebenermaßen wird ihr die Gleichsetzung mit der AfD auch wahrlich nicht gerecht. Bernd Sibler etwa, Vorsitzender der CSU im Landkreis Deggendorf und bayerischer Kultusminister, erinnert an den Herbst 2015. Damals hätte er gemeinsam mit ehrenamtlichen Helfern in Deggendorf Unterkünfte für die ankommenden Flüchtlinge eingerichtet, für Essen und ein Dach über dem Kopf gesorgt. Jetzt aber sei es notwendig, den Rechtsstaat zu vollziehen und einen vernünftigen Verwaltungsvollzug sicherzustellen: "Das ist der Spagat", sagt Sibler. Das Absurde am Erfolg der AfD in Niederbayern ist, dass hier bei der Integration der Ausländer tatsächlich viel gelungen ist. In der Bahnhofstraße, keine fünf Gehminuten vom Ankerzentrum entfernt, steht Omar Sadaka vor dem Lebensmittelgeschäft, das er mit seinem Vater und seinem Bruder betreibt. "Familie" heißt der Laden. Der Vater hat den Namen ausgewählt, weil er fand, das sei das Beste.
Die Sadakas kommen aus Daraa, der Stadt in Syrien, wo im Jahr 2011 der Aufstand gegen den Diktator Baschar al-Assad begann, der bald in einen bis heute andauernden Bürgerkrieg mündete. Die Eltern und sechs zum Teil erwachsene Kinder flohen 2013 über die Türkei und Österreich nach Deutschland. Omar, 19, besuchte eine Berufsschule und einen Deutschkurs. Sein Bruder Jusuf, 23, arbeitete erst als Bäcker und sparte Geld. Der gemietete Lebensmittelladen ist ihr ganzer Stolz. Sie verkaufen Gemüse, Fladenbrot, syrische Süßigkeiten, Fisch, Lebensmittel in Dosen, Haushaltswaren -und das Geschäft läuft gut, sagt Omar. Von der AfD hat er noch nie gehört, Probleme mit Ausländerfeindlichkeit hatte er auch nie. Die Moschee in Deggendorf besucht der junge Muslim, allerdings nicht sehr oft. "Nur freitags", sagt er. Die Arbeit gehe vor.
Auch Kemal Gumaa, 23, aus Eritrea, hat in Deggendorf sein Glück gefunden. Er macht eine Lehre als Lkw-Mechaniker. Das war sein Traum, denn sein Vater betreibt in der Heimat eine Lkw-Reparatur-Werkstätte. Wenn erst einmal der menschenrechtswidrige Militärdienst in dem ostafrikanischen Land abgeschafft wäre, könnte Gumaa wieder zurückkehren und dort arbeiten. Aber erst einmal wird er die dreijährige Ausbildung absolvieren. Die Leute seien friedlich hier, schwärmt der junge Mann: "Deggendorf gefällt mir sehr." Kemal Gumaas Einschätzung ist erstaunlich akkurat. Sie deckt sich mit der Polizeistatistik. Der Sicherheitsbericht des Jahres 2017 für den Landkreis Deggendorf zeigt, dass die Kriminalität im vergangenen Jahr niedriger war als in allen Jahren seit 2008. Auch die Gewaltkriminalität ist auf einen Tiefststand gesunken.
Politik und Emotion
Doch man kann auch in Deggendorf im Gastgarten der Brasserie am Oberen Stadtplatz in der Herbstsonne sitzen und die Kriminalitätsstatistik anzweifeln. Fabio Sicker, 30 Jahre alt und AfD-Kandidat für den Bezirkstag, will sich davon nicht abhalten lassen. Er ist hier geboren, er liebt seine Heimat, vor allem die Donau, und er wehrt sich dagegen, als Rassist diffamiert zu werden. Aber das Ankerzentrum beunruhigt ihn: Man müsse schließlich immer Angst haben, wenn man unterwegs sei, und manchen Leuten gehe man besser aus dem Weg, weiß Sicker.
Wie soll die Politik solchen Emotionen begegnen? Das ist die Frage, auf die niemand eine auch nur annähernd befriedigende Antwort weiß. Das politische System habe sich "von Fakten zu Gefühlen und Stimmungen verschoben", sagt Florian Pronold, bis 2017 Vorsitzender der SPD in Bayern und jetzt Umweltstaatssekretär der Bundesregierung, ein wenig verzagt. Unlängst haben ihm Eltern geklagt, sie könnten ihre Tochter in der niederbayerischen Gemeinde Pfarrkirchen aus Angst vor Kriminellen nicht mehr über den Stadtplatz gehen lassen: "Da habe ich mir gedacht, Leute, ich würde verstehen, wenn es um Berlin-Neukölln geht oder manche Problemviertel in Duisburg, aber in Niederbayern?" Gefühlte Realität sei für viele zu echter Realität geworden, sagt Pronold resigniert. Er weiß auch, dass die SPD Wähler an die AfD verloren hat. Es sei nicht gelungen, die Leute davon zu überzeugen, dass die Integration von Ausländern einen positiven Effekt auf das Sozialsystem insgesamt haben könne.
Doch die Abneigung gegenüber Ausländern ist nicht die einzige Erklärung für den Erfolg der AfD in Niederbayern. Bernhard Taubenberger ist historischer Berater der bayerischen Sozialdemokraten, und er sieht in der Geschichte der Region Gründe für das heutige Wählerverhalten. In den vergangenen 100 Jahren habe sich die Bevölkerung von Niederbayern immer wieder als widerständisch erwiesen. Der antiklerikale, antiautoritäre Bayerische Bauernbund sei hier stark verankert gewesen und habe in der Folge die Novemberrevolution 1918 zum Sturz der Monarchie unterstützt. Später hätten die Nazis in derselben Gegend nicht so recht Fuß fassen können, weil sich auch ihnen gegenüber die Bevölkerung am Bayerischen Wald als widerspenstiger erwies als die Leute anderswo in Deutschland. Seit 1945 jedoch drücke sich dieses Aufbegehren gegen die jeweilige Obrigkeit als Zuspruch zu rechtsextremen Parteien wie den Republikanern aus, erklärt Taubenberger.
Mit dem Aufkommen der AfD steigt die Wahlbeteiligung in Niederbayern stark an. Bisherige Demokratieverweigerer gingen erstmals wählen. Die rechtspopulistische Anti-Systempartei spricht den gleichermaßen aufmüpfigen wie mieselsüchtigen Niederbayern an.
Fabio Sicker bedauert im Gastgarten unweit des Heimatmuseums, umgeben von blau-weißen Insignien des Bayerntums und in Sichtweite der Heilig-Grabkirche St. Peter und Paul den Verlust der Heimat. "Zugegeben, nicht hier", räumt er dann doch ein.
Im Extrazimmer des "Landshuter Hofes" kommt das Gespräch spätabends auf die Vielzahl von You-Tube-Videos und regimekritischen Büchern, die dieser Tage angeblich der Zensur zum Opfer fallen, wobei mit "Regime" die deutsche Bundesregierung gemeint ist. Welche Videos und Bücher das seien und mit welcher Begründung die verboten würden, will einer wissen. Das weiß leider niemand in der Runde so genau, aber es herrscht Einigkeit, dass die politische Korrektheit dahinterstecke. "Wahnsinn!", entfährt es einem.