Zehntausende Polen marschierten neben Faschisten in Warschau
„Von einer Regierung, die sich so sehr Patriotismus und ein starkes Polen auf die Fahnen schreibt, hätte ich mir etwas mehr Gedanken zum hundertjährigen Jubiläum der Republik erwartet“, sagt Małgorzata Kaczorowska, Politikwissenschafterin an der Universität Warschau. Bis zuletzt habe es, abgesehen von der alljährlichen Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten und der am Samstag erfolgten politisch motivierten Einweihung einer Lech-Kaczynski-Statue, keinen Plan für den Unabhängigkeitstag Polens gegeben.
Die Republiksgründung am 11. November ist in Polen ein noch wichtigeres Jubiläum als in den meisten anderen Staaten Europas, war das Land doch von 1795 bis zum Ende der Ersten Weltkriegs 1918 unter Russland, Preußen und Österreich-Ungarn aufgeteilt. Die junge Republik Polen (1918-1939) war dann nur ein kurzes Zwischenspiel vor dem Einfall der Nazis und dem Holocaust. Es folgten Stalin und Sozialismus, bevor 1989 erstmals frei gewählt wurde, 1991 der Warschauer Pakt zerfiel und Polen endgültig unabhängig wurde. Auch wenn die aktuelle Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) steif und fest behauptet, dass erst seit deren Amtsantritt im Jahr 2015 – 38 Prozent der Wählerstimmen bescherten ihr eine absolute Mehrheit - endgültig mit den kommunistischen Eliten aufgeräumt werde und Polen nun endlich wahrlich unabhängig werde.
Die innerpolnische Opposition, eine wieder erwachte Zivilgesellschaft sowie die EU-Kommission, die ein Artikel-7-Verfahren wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit (aufgrund von Richterumbesetzungen und Rechtsreformen durch die PiS) initiiert haben, sehen das anders. Die derzeitige Regierung verstärke die Polarisierung des ohnehin tief politisch gespaltenen Polen, sagt Politikwissenschafterin Kaczorowska: „Das Republiksjubiläum war eine versäumte Gelegenheit, die Polen wieder miteinander zu versöhnen oder zumindest wieder ins Gespräch zu bringen.“ Auch die Absage der Regierungsspitze an das Weltkriegsgedenken in Paris, an denen mehr als 60 Staatsspitzen teilnahmen, kritisiert sie: „Diese Regierung will von Europa nichts wissen. Dafür, dass Polen mittlerweile weitgehend isoliert dasteht, hat sie aber selbst gesorgt.“
Zehntausende Teilnehmer
Zurück in die Warschauer Innenstadt, wo auch diesen 11. November wieder der Unabhängigkeitsmarsch (Marsz Niepodległości) das Stadtbild prägte. Gab es in seinen Anfängen im Jahr 2009 nur wenige Dutzende Marschierende, so waren es in den letzten Jahren Zehntausende: Die überwiegende Mehrzahl gemäßigte Patrioten und Nationalisten, die aber Seite an Seite mit Rechtsextremen und Neofaschisten marschieren. Allein im Vorjahr zählte die Polizei 60.000 Teilnehmer - und das, obwohl der Marsch von zwei rechtsextremen, eigentlich marginalen, aber bestens vernetzten Gruppierungen veranstaltet wird: Dem Nationalradikalen Lager (ONR), das sich direkt auf eine neofaschistische und antisemitische polnische Bewegung der 1920er-Jahre bezieht sowie der Allpolnischen Jugend, einer nationalistischen Jugendorganisation.
Der Marsch wurde in den letzten Jahren von Stadt-, Land- und Bundesregierung zumindest geduldet und von höchster Stelle als patriotische Veranstaltung beworben. Obwohl er kein Teil der offiziellen Feierlichkeiten ist, unterstützte die PiS-Regierung den Marsch in den letzten Jahren und verteidigte ihn sogar: „Es ist schön, so viele polnische Fahnen zu sehen“, spielte der Innenminister faschistische Elemente im letzten Jahr herunter. Der Mann hätte nichts davon gesehen. Wie auch, vermied die Regierung es in den letzten Jahren penibel, direkt am Unabhängigkeitsmarsch aufzutreten und übertrug der öffentlich-rechtliche Propagandasender TVP nur jene Bilder, die ins Bild der Regierung passen: Rot-weiße Fahnen, Jung und Alt beim Feiern, keine extremistischen Symbole und Banner.
Chaos in den Vortagen
Das Verhältnis der Regierung zum seit Monaten geplanten und auf Social Media intensiv beworbenen Unabhängigkeitsmarsch war heuer chaotisch wie nie: Am Mittwoch verbot Warschaus Bürgermeisterin Hanna Gronkiewicz-Waltz von der Oppositionspartei PO den Marsch - unter anderem mit der Begründung, dass Polen in der Vergangenheit schon genug unter aggressivem Nationalismus gelitten habe. Die Veranstalter beeindruckte das nicht: Sie schrieben unverblümt auf Facebook, jedwedes Verbot zu ignorieren und dennoch zu marschieren.
Nachdem ein Gericht am Freitag das Verbot mit dem Verweis auf die Versammlungsfreiheit wieder aufgehoben hatte, organisierte die PiS-Regierung kurzerhand einen eigenen Marsch: Eine Stunde nach dem von Rechtsextremen organisierten Zug und auf derselben Route. So kam es dann auch zur skurrilen Situation, dass Präsident Andrzej Duda, umnebelt vom dichten Rauch hunderter Bengalos, die Teilnehmer beider Märsche gemeinsam adressierte, bevor sich Rechtsextreme einerseits und gemäßigtere Polen anderseits in Bewegung setzte, getrennt nur durch wenige Meter sowie Polizei und Militär.
Obwohl die regierende PiS ein nationalistisches Programm fährt und ebenso die polnische Unabhängigkeit feiert, gab es im Vorfeld und auch während des Marschs Anfeindungen rechtsextremer Teilnehmer: „PiS und PO sind Teil desselben Problems.“ Die Regierung kam aus jetziger Sicht dennoch unbeschadet aus dem ihr eher unliebsamen Marsch: „Für die Staatsspitze war es ein voller Erfolg: Sie hat die nationalistische Wählerschaft bei Laune gehalten, und konnte unangenehme Bilder mit rechtsextremen Symbolen und Bannern weitgehend vermeiden,“ sagt Daniel Tilles, Historiker in Krakau und Autor des englischsprachigen Blogs „Notes from Poland“. Die Zweiteilung in einen offiziell-staatstragenden und einen radikal-nationalistischen Teil des Marschs ging auf.
Ohnehin oszilliere die PiS zwischen ständig zwischen Mitte-Rechts und Rechtsextrem, sagt Tilles. Das Verhältnis zu ONR und Allpolnischer Jugend war bereits länger schwierig gewesen, diesmal seien aber alle Seiten auf ihre Kosten gekommen: „Vor einer Woche hatten die Organisatoren des Marschs verweigert, nationalistische und faschistische Symbole am Marsch einzuschränken. Regierungsschef Mateusz Morawiecki sagte dann, dass es keinen gemeinsamen Marsch geben wird“, so Tilles. Eine kluge Antwort, wie sich zeigen sollte: Auf diese Weise hat man sich Diskussionen wie im Vorjahr erspart, als die PiS keine klare Linie zum Marsch und seinen Veranstaltern fand. Die extreme Rechte wiederum erhielt trotzdem ihren eigenen Marsch und blieb dort relativ unbehelligt von den Wünschen und Anforderungen der Regierung.
Erstarken der Faschisten
Rund 250.000 Teilnehmer nahmen am Marsch teil, lauten die Schätzungen der Regierung. Wie bereits im letzten Jahr war die Stimmung aber eher aggressiv-ernst denn feierlich-ausgelassen: Böller und Bengalos tauchten das ohnehin neblige Warschau in dichten roten Nebel, dazu kamen nationalistische und Sprechchöre, insbesondere bei der Schlusskundgebung am frühen Abend beim Nationalstadion. „Wir laden alle Polen ein, mit der rot-weißen Fahne zu feiern“, hatte es zwar im Vorfeld von Präsident Andrzej Duda geheißen, in einer Anspielung auf in den Vorjahren hundertfach gezeigten faschistische Symbole wie Falanga und Keltenkreuz.
Das hielt aber viele Teilnehmer, darunter Neofaschisten aus Ungarn und Italien sowie zahlreiche Fußball-Hooligans, nicht davon ab, Banner mit Texten wie „Tod allen Feinden des Vaterlands“ oder „Leben und Tod für das Vaterland“ zu bringen. Auch eine EU-Fahne wurde angezündet. Die mehreren Tausend abgestellten Polizisten ließ das, wie bereits im Vorjahr, kalt – obwohl die polnische Verfassung eindeutig die Propagierung von faschistischen Ideologien unter Strafe stellt. Eigentlich wären ja auch Bengalos und Feuerwerkskörper im Stadtgebiet verboten, tatsächlich werden sie aber nicht nur von hunderten Teilnehmern, sondern sogar von Sicherheits- und Rettungskräften gezündet. Dennoch muss man sagen: Die Appelle insbesondere der PiS-Regierung haben gefruchtet, und es gab wesentlich weniger faschistische und rechtsextreme Symbole als noch im Vorjahr.
Legitimierte Neofaschisten
„Wie nicht nur, aber auch der heutige Marsch zeigt, werden neofaschistische Gruppen ein immer größeres Problem in Polen“, sagt Jacek Dzięgielewski. Er dokumentiert für die NGO Nigdy Więcej („Nie wieder“) rassistisch und antisemitisch motivierte Überfälle, die seit 2015 rapide angestiegen seien: „Im damaligen Wahlkampf hat die PiS die europäische Flüchtlingskrise instrumentalisiert, um systematisch Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen. Seit damals ereignen sich fast jeden Tag fremdenfeindliche Vorfälle: Menschen werden verprügelt oder nicht in Geschäfte gelassen, weil sie eine andere Sprache sprechen“, sagt Dzięgielewski. Durch die Regierung würden Faschisten sogar von höchster Stelle legitimiert: So wurde die italienische Forza Nuova, die auch beim heutigen Marsch mitlief, 2016 hochoffiziell ins polnische Parlament eingeladen.
Die Szene ist über Social Media, aber etwa auch über einschlägige Konzerte und Festivals außerordentlich gut vernetzt und weiß ganz genau, wie sie ihre Ideologie verschleiern kann und wie weit sie gehen kann. Als etwa in Gdańsk (Danzig) heuer das Nationalradikale Lager (ONR), also die Nachfolgeorganisation der antisemitischen und faschistischen ONR der 1930er Jahre, aufmarschierte, wurde das von der Bevölkerung weitgehend toleriert. „Viele sehen nur junge Patrioten in den Teilnehmern, nicht aber die faschistische Ideologie dahinter“, sagt Dzięgielewski. Weil Polizei und Gerichte nicht oder nur selten durchgreifen, kämen die Neofaschisten mit fast allem davon, sagt der Experte.
Kleine Gegendemo, friedlicher Verlauf
Zwar fand auch heuer wieder eine Gegendemonstration in Warschau statt, die vom Bürgerkomitee Obywatele RP, Antifa und anderen NGOs organisiert wurde. Mit rund 1500 Teilnehmern blieb sie aber klein – die Nationalisten ließen sich davon nicht beeindrucken, auch die meisten polnischen Medien berichten nicht darüber. Einzig eine Gruppe Demonstrantinnen rannte mit einem Banner „Frauen gegen den Faschismus“ mitten in den Marsch, wurde dann aber schnellstens von den Sicherheitskräften der Veranstalter brutal niedergerungen und auf sie eingeschlagen.
Größere Ausschreitungen zwischen Nationalisten und Gegendemonstranten blieben bis zum allerdings Abend aus. Dafür sorgte auch die massive Präsenz von Polizei und Militär, die den offiziellen und den rechtsradikalen Marsch erfolgreich auseinander- und von den Gegendemonstranten fernhalten konnten. Ein euphorisches Republiksjubiläum sieht anders aus, doch immerhin blieben die befürchteten Ausschreitungen aus. Von einer geeinten Republik ist Polen aber immer noch weiter entfernt denn je.