In Ihrem neuen Buch schlagen Sie vor, die Nationalstaaten abzuschaffen oder zumindest zu entmachten – im Sinne einer nachnationalen Demokratie. Wie könnte die aussehen?
Menasse
Ich schlage nicht vor, die Nationalstaaten abzuschaffen, sondern erinnere daran, dass die Überwindung des Nationalismus die Grundidee des europäischen Einigungsprojekts war: Gemeinschaftspolitik und gemeinsame Institutionen werden weiterentwickelt, sodass die Ökonomien der Staaten derart miteinander verflochten sind, dass keiner mehr etwas gegen den anderen unternehmen kann, ohne sich selbst zu schaden. Mit der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts werden die Nationalstaaten natürlich schwächer und verlieren an souveränen Gestaltungsmöglichkeiten, denn diese sind in der Gemeinschaftspolitik aufgehoben. Irgendwann – wir beide werden es nicht erleben – werden die Nationalstaaten absterben. Nicht weil man sie mit einem Federstrich abschaffen kann, sondern weil sie an Bedeutung verlieren.
Was haben Sie gegen das Konzept der Nationalstaaten?
Menasse
Die Idee souveräner Nationen ist relativ jung. In dieser kurzen Zeit hatten die Nationen ihre Chance zu zeigen, was sie können: Aggressionen, Spaltung, politische Unfähigkeit. Im Kampf um Territorium und Einfluss kam es zu Kriegen und zu den schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Dieser Befund reicht aus, um die Idee des europäischen Einigungsprojekts zu verstehen und zu verteidigen: Wir müssen die Nationen politisch überwinden. Die wenigsten Menschen wissen, wie avantgardistisch das europäische Projekt ist. Wir verfügen in Europa über weltweit einzigartige supranationale Institutionen, die Menschenrechtscharta hat bei uns Verfassungsrang, man kann sie vor dem Menschenrechtsgerichtshof einklagen – im Gegensatz zur Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen, die man höchstens beim Salzamt einklagen kann und die nicht einmal die USA ratifiziert haben.
Sie plädieren für eine Weiterentwicklung der EU, allerdings geht es derzeit in die andere Richtung.
Ich möchte den Wählern der FPÖ etwas zurufen: Ihr seid jetzt wieder Mitläufer. Die Mitläufer sind die Täter. Überlegt euch gut, was ihr tut.
Menasse
Ich finde es unverständlich, warum diese Entwicklung, die so viel an Wohlstand und Frieden und Rechte gebracht hat, heute so massiv infrage gestellt wird – noch dazu von den größten Verbrechern der Geschichte, nämlich den Nationalisten und ihren Mitläufern. Ich möchte den Wählern der FPÖ etwas zurufen: Ihr seid jetzt wieder Mitläufer. Später, in der Misere, werdet ihr sagen: Wir haben es auch nicht leicht gehabt. Ich sage euch: Die Mitläufer sind die Täter. Überlegt euch gut, was ihr tut. Wir sprechen hier über die Vorzüge der europäischen Idee, verheimlichen aber nicht, welche kritikwürdigen Blockaden und inneren Widersprüche es in der EU gibt. Wir müssen diskutieren, wie wir diese überwinden können – im Geiste eines Projekts, das Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Rechtszustand, Wohlstand und Demokratie als Idee verteidigt und entwickeln möchte. Wer etwas anderes will, muss damit rechnen, vor der Geschichte wieder als Weltuntergangster dazustehen.
Die Nationalisten in Europa argumentieren mit dem Volkswillen, gleichzeitig werden selbst aufgeklärte Freunde Europas immer pessimistischer, weil viele Regeln und Gesetze in der EU nicht eingehalten werden. Sie plädieren für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger statt einem der Völker. Was ist der Unterschied?
Es hat seit den Völkerwanderungen nie wieder wirklich ein Volk gegeben. Was soll etwa das deutsche Volk sein? In Deutschland und in Österreich wurde die Frage der Identifikation mit einer nationalen Idee längst von der Realität überholt. Identitäten haben sich diversifiziert, wir leben in einer Welt der kulturellen Vielfalt, der Mehrsprachigkeit, der verschiedenen Identitäten. Nationalgefühl ist eine Fiktion. Man kann nur dann von Volk sprechen, wenn man es als eine Gemeinschaft versteht, die einen gemeinsamen Rechtszustand akzeptiert und verteidigt. Ein Volk, das Hautfarbe, Sprache, Werte teilt, sehe ich nicht. Ich war unlängst bei einer Podiumsdiskussion in Deutschland, wo ein Gast über die deutsche Solidarität auf der Basis der deutschen Identität sprach. Ich fragte, ob er im Ernst glaube, dass ein deutscher Lehrer mehr mit der deutschen Gattin eines Konzernmanagers gemeinsam hat als mit einem griechischen Lehrer. Sein Schweigen war bezeichnend. Das Volk ist ein Begriff, der eine ethnische Gemeinsamkeit voraussetzt und davon Ansprüche ausschließlich für das eigene Volk ableitet. Das ist ein Bruch mit der Idee der Menschenrechte. Deshalb enden Volksgemeinschaften immer in Diktaturen.
Ohne Nationalstaaten braucht es eine andere politische Verwaltungseinheit. Sie schlagen dafür die Regionen vor. Aber das wären doch sehr viele, wie würden diese Regionen in Brüssel vertreten sein?
Menasse
Wenn Nationalstaaten an Bedeutung verlieren und irgendwann absterben, wird man eine andere Art der Verwaltungseinheit brauchen, da bieten sich die Regionen an. Sie halten sich oft nicht an nationale Grenzen, denken Sie ans Rheintal oder an Tirol. Weitblickenden Menschen in der EU ist klar, dass die Regionen perspektivisch an Bedeutung gewinnen werden. Deshalb steht im Lissabon-Vertrag, dass die Kommission die europäischen Regionen definieren soll. Derzeit sind es rund 400. Eine von vielen Ideen in der Debatte darüber, wie das politische System aussehen wird, ist, dass jede Region zwei Abgeordnete ins Europäische Parlament schickt, das wären dann um die 800, also nicht viel mehr als jetzt.
In Brüssel werden die Nationalstaaten immer mächtiger, übrig bleibt eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Sie schlagen einige konkrete Maßnahmen vor, darunter das Primat der Kommission über den Rat. Sie fordern, dass das EU-Parlament, das wir nun neu wählen, sich gegen die Regierungen in den Mitgliedstaaten durchsetzt. Wie?
Menasse
Das Europäische Parlament ist unter den aufgeklärteren Fraktionen durchaus kämpferisch. Es hat in den vergangenen 15 Jahren viel erreicht im Sinne einer europäischen Demokratie. Doch es ist keine Versammlung nationaler Delegationen, die nationale Interessen durchsetzen, wie es im Wahlkampf suggeriert wird. Das Europäische Parlament hat die Aufgabe, einen gemeinsamen Rechtszustand zu entwickeln – für alle Europäer. Im Wahlkampf glaubt jeder, er muss irgendetwas Nationales versprechen, dabei wählen wir ein supranationales Parlament. Wenn man von Anfang an sagen würde, dass es um Gemeinschaftsrecht und nicht um nationale Interessen geht, und wenn wir europäische, also transnationale Listen wählen könnten, dann würde die Frustration der Menschen abnehmen, denn sie würden den Sinn verstehen. Diese unfassbare Dummheit, die uns jetzt auf den Wahlplakaten entgegenschlägt und die unser aller Intelligenz beleidigt, wäre dann nicht mehr möglich. Der FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky will den „EU-Wahnsinn stoppen“. Er ist seit zehn Jahren im EU-Parlament. Was hat er gestoppt? Was will er überhaupt stoppen? Auch die Slogans der ÖVP und der Grünen sind unwürdig.
Inhalte haben im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Die Europäische Volkspartei (EVP) fordert etwa ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips, damit einzelne Mitgliedstaaten keine Veto-Möglichkeit mehr haben und die EU mit einer Stimme sprechen kann. Auch das kam im österreichischen Wahlkampf nicht vor.
Menasse
Das wundert mich. Es passt wohl nicht in das Schema der Parteien, die ihre Kandidaten als Verteidiger nationaler Interessen vorstellen. Ich fürchte, es gibt bei der ÖVP und bei den Freiheitlichen genug Wähler, die die Forderung nach einem Ende des Einstimmigkeitsprinzips abschreckend finden, weil sie Ungarns Premier Viktor Orbán bewundern – als einen, der die EU erpressen kann und das als Schutz der nationalen Souveränität verkauft.
Die Gegner eines Endes der Einstimmigkeit meinen, dass kleine und mittelgroße Länder wie Österreich dadurch an Einfluss verlieren würden.
Menasse
Das ist doch alles Unsinn. Es geht nicht darum, die Fiktion unserer politischen Bedeutsamkeit zu verteidigen, sondern um die Frage, was für die Menschen sinnvoll ist. Wenn ein Gesetz für den Großteil der Österreicher gut ist, dann ist es auch für einen Portugiesen gut, für einen Tschechen oder Malteser. Es geht um Gemeinschaftsrecht. Der gemeinsame Rechtszustand ist das Angebot an alle Europäer. Egal wo ich in Europa zur Welt komme, wo ich lebe, wo ich Steuern zahle: Ich kann mich auf den gemeinsamen Rechtszustand verlassen. Das muss in die Köpfe hinein. Es geht weder um eine Leitkultur noch um den Einfluss eines Nationalstaats in Konkurrenz zu einem anderen.
Es ist katastrophal, wie jetzt durch Renationalisierungstendenzen alles blockiert wird. Der Rat der Staats- und Regierungschefs ist das größte Problem.
Sie schreiben, der Rat sollte, wie in den Verträgen vorgesehen, Impulse geben und nicht Gesetzgeber sein. Denkbar ist, ihn zu einer Art zweiten Kammer des Parlaments zu machen. Wie würde das genau funktionieren?
Menasse
So wie die Bundeskammer. Viele Menschen, die sich seriös mit Europapolitik auseinandersetzen, halten das für die realistischste und pragmatischste Lösung. Nur so kann die Blockade in der Europapolitik durch die Nationalstaaten überwunden werden. Jetzt herrscht Willkür. Ich kritisiere viel an der EU, aber die Idee ist genial, und die Fortschritte sind beeindruckend. Es ist katastrophal, wie jetzt durch Renationalisierungstendenzen alles blockiert wird. Der Rat der Staats- und Regierungschefs ist das größte Problem. In den Verträgen steht, dass er sich halbjährlich treffen und Impulsgeber sein soll. Tatsächlich trifft sich der Rat viel öfter und nimmt sich das Recht heraus, Gesetze zu entscheiden. Das ist durch die Verträge nicht gedeckt. Man muss die Macht des Rates zurückdrängen.
Roman. Suhrkamp Verlag (2018). 459 S., ab EUR 15,–
Für viele Ihrer Vorschläge bräuchte es Vertragsänderungen …
Menasse
Nicht für alle. Es liegt eine ganze Reihe von Vorschlägen auf dem Tisch, die keine Vertragsänderungen brauchen, sondern lediglich die Einhaltung der Verträge.
Dazu gehört die Verkleinerung der EU-Kommission, die ab 2014 vorgesehen war, aber vom Rat blockiert wird. Für andere Vorschläge bräuchte es die Zustimmung aller nationalen Regierungen sowie der nationalen Parlamente und teils auch der Wähler im Rahmen von Volksabstimmungen. Das ist doch auch langfristig unrealistisch. Wieso sollten die Mitgliedstaaten ihrer eigenen Entmachtung zustimmen?
Menasse
Was interessiert mich die Entmachtung irgendwelcher Politiker, wenn ich dafür Gemeinschaftspolitik bekomme?
Was interessiert den nationalen Politiker Gemeinschaftspolitik, wenn er seine eigene Macht behalten will?
Menasse
Ich habe eine frohe Botschaft für Sie: Immer, wenn Probleme wegen der Blödheit nationaler Bedenken und Blockaden nicht gelöst werden konnten, kam es zur großen Krise und zur Gefahr, dass es alles zerreißt. Dann haben die nationalen Politiker die Wahl: Entweder sie stimmen einem Souveränitätstransfer an die EU zu und entmachten sich dabei selbst ein bisschen. Oder sie tun das nicht, und alles zerreißt, dann sind sie auch entmachtet. Die meisten werden sich für das Überleben entscheiden. Es sind die kleinen Zugeständnisse in der Gefahr des Untergangs, die letztlich den Fortschritt der EU ermöglichen.
Roman. Suhrkamp Verlag (2022). 652 S., ab EUR 16,–
Politiker bezeichnen sich gern als proeuropäisch oder als glühende Europäer. Sie lehnen diese Begriffe ab. Als was würden Sie sich dann bezeichnen?
Menasse
Glühende Europäer … Wen interessiert diese Fieberkurve? Ich bin Europäer. Die Entwicklung Europas zu einem gemeinsamen, friedlichen, demokratischen Europa bietet mir an, mich als Europäer zu fühlen, der die Idee des Gemeinschaftsprojekts verteidigt – und der gleichzeitig die inneren Widersprüche kritisiert. Es gibt die Schönredner, die sich, so wie Europaministerin Karoline Edtstadler, als glühende Europäer bezeichnen und am nächsten Tag in Brüssel europäische Politik blockieren. Und es gibt die Schlechtredner, die alles grauenhaft finden, die sich überreguliert, von Bürokraten erdrückt und ihrer Souveränität wie Identität beraubt fühlen. Sie verstehen nicht, wovon sie reden. Nie hätte ich es für möglich gehalten, mich als Mann der Mitte zu bezeichnen. Ich verteidige die Idee und kritisiere die Umsetzung.
Manche, darunter die NEOS, fordern die Vereinigten Staaten von Europa …
Menasse
Das ist hanebüchener Unsinn. Wer in Europa Amerika spielen will, macht mir Sorgen, denn die EU ist das Gegenteil der USA. Die USA waren das alte europäische Projekt: Europäer haben in der Neuen Welt mit Gewalt Territorium erobert, es in einem blutigen Bürgerkrieg geeint und dann eine Nation gebildet, die ihre Interessen in letzter Konsequenz militärisch verteidigt. Die EU ist in jedem Punkt das Gegenteil: Territorium durch freiwilligen Beitritt, Einigung auf der Basis von Verträgen auf dem Fundament der Menschenrechte, Überwindung des Nationalismus, ein Friedensprojekt. Wer sich mit Europapolitik befasst, weiß, dass die Überwindung des Nationalismus bedeutet, das Bewusstsein der nationalen Grenzen aufzuheben. Die Vereinigten Staaten von Europa aber zementieren ein, was die europäische Idee überwinden will. Sie heben erst recht wieder die Staaten hervor, die verschieden starken Einfluss haben.
Herr Menasse, wir müssen noch kurz über die Kröte sprechen. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie vor Ihrem Haus im Waldviertel einen Strauch pflanzen. Die Kröte zerstört ihn – und Sie erschlagen das Tier in einem Anfall von Zorn. Wofür steht die Kröte?
Menasse
Ich habe dadurch etwas verstanden, das mir davor komplett rätselhaft war. Dieses Tier, das aussieht wie ein schmutziges Herz, das angstvoll pulsiert, ist für mich ein Sinnbild der Angst. Ich hatte mir mit dem Strauch Mühe gegeben, dann zerstörte dieses hässliche Tier alles. Ich habe es erschlagen, wobei mein Wutausbruch mich selbst verstörte. Ich begriff, wieso Angst und Wut so eng verbunden sind. Sogenannte Wutbürger wählen Nationalisten, sie sind wütend und irrational. Die Politiker sagen aber nicht: Wir müssen die Wut der Menschen ernst nehmen, sondern sprechen davon, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen. Die Politik geht davon aus, dass ein Wütender eigentlich Angst hat. Für die Tierschützer möchte ich festhalten: Es ist ein literarisches Bild. Ich habe keine Kröte erschlagen.
setzt sich seit etwa zwei Jahrzehnten mit der EU und ihren Institutionen auseinander. Sein Roman „Die Hauptstadt“ (2018) war der erste Roman über die Europäische Union überhaupt und erhielt den Deutschen Buchpreis. Mit „Die Erweiterung“ erschien 2022 die Fortsetzung, Menasse erhielt dafür den Europäischen Buchpreis und den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2022. Vor Kurzem hat Robert Menasse ein Sachbuch nachgelegt. In „Die Welt von Morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde“ plädiert der gebürtige Wiener für eine Weiterentwicklung der EU im Sinne einer nachnationalen Demokratie.